Babylonisch/Assyrische Mythen
Die Erschaffung der Welt
Einstmals, als droben der Himmel
noch nicht benannt war,
drunten die Erde
noch keinen Namen trug,
als der Ozean, der uranfängliche,
beider Erzeuger,
und das Getose Tiamat,
die beide gebar,
ihre Wasser in eins
zusammenmischten,
als kein Feld noch gebildet,
kein Rohr noch zu sehen,
einst, da von den Göttern
kein einziger entstanden,
kein Name genannt,
kein Los bestimmt war-
da wurden geschaffen
die Götter.
Lachmu und Lachamu entstanden,
weiteste Zeitläufte schwanden.
Himmel und Erde waren noch nicht; allein der uranfängliche Ozean, das süße Wasser Apsu und das salzige Wasser Tiamat waren miteinander vermischt und enthielten Mummu, die Urform des Seins.
Daraus entstanden Lachmu und Lachamu. Sie bekamen ihre Namen und gehören zu den ersten Göttern.
Nach ihnen entstanden der Himmelsraum Anschar und der Erdraum Kischar. Aus Anschar ging sein Sohn Anu hervor, der große Gott des Himmels. Anu erzeugte Ea, der an Weisheit und Klugheit alle Götter überragte und stärker war als sein Ahnherr Anschar. Zuletzt entstand Enlil, der Herr der bewohnbaren Welt.
Die Götter versuchten, Apsu zu überwältigen. Da beriet Apsu sich mit Mummu, und sie gingen beide zu Tiamat, um sie zu bitten, ihnen gegen ihre göttlichen Kinder beizustehen. Da beschloß Tiamat, zusammen mit Apsu und Mummu die göttlichen Kinder zu vernichten.
Aber der Gott Ea, der alles weiß, sprach einige Zauberformeln und Tiamat und Apsu wurden mit Schwäche geschlagen. Dann erzeugte Ea mit seiner Braut Lachamu den groß Gotthelden Marduk, der vier Augen und vier Ohren hat damit er alles sehe und höre.
Wie leuchtendes, strahlendes Feuer ist Marduks Rede, und seine Gestalt überragt alle anderen Götter. Er ist ein Sonnenkind, der Frühlinssohn, der die Finsternis überwältigt.
Der Gott Quingu, Tiamats Gemahl, rief Tiamat zur Rache auf. Da sammelte Tiamat ihre Heerscharen; elf widerliche Ungeheuer rief sie zum Kampfe auf und gab ihrem Gatten den Oberbefehl.
Ea führte die Götter gegen sie an, aber er war seinen Feinden nicht gewachsen. Ein heftiger Kampf tobte. Ea und die Götter wurden besiegt und mußten weichen, und als Anschar Ea aufforderte, weiter zukämpfen, weigerte sich Ea, den Kampf von neuem aufzunehmen.
Da befahl Anschar seinem Sohne Anu, die Götter gegen Tiamats grausiges Heer anzuführen, aber als Anu die wüste Horde der Feinde erblickte, befiel ihn heftige Angst und er bat, ihn seines Auftrags zu entheben.
Die führerlosen Götter begaben sich nun wiederum zu Ea und legten ihm nahe, seinen Sohn Marduk zu überreden, den Kampf zu wagen und zu befehligen. Marduk war zum Kampfe bereit, trat vor Anschar und sprach:
"Noch ehe du zu Ende gesprochen hast, werde ich deinen Befehl ausgeführt haben. Wie sollten wir uns vor Tiamat, eine Weibe, fürchten?"
"Wohlan!" sprach Ansdiar,
"Bringe Tiamat zur Ruhe daß sie Frieden hält!"
Marduk verlangte aber für sein Sieg einen hohen Preis: er wollte im Saal der Schicksalsbeschlüsse, in dem die Götter jährlich über die Geschicke der Welt entscheiden, vor allen die Würde des obersten Gottes haben, damit sein Wort und sein Gebot im Himmel und auf Erden, für Götter und Menschen Geltung besitze.
Anschar konnte Marduk diese Bedingung nicht zugestehen; so rief er alle Götter im Saal der Schicksalsbeschlüsse zusammen, ließ ein großes Mahl für sie bereiten und wollte sie veranlassen, bei Speise und Trank Marduks Bedingung zu erwägen und in Anbetracht der großen Gefahr anzunehmen.
Alle Götter traten in großer Angst und mit furchtbarem Schrecken in den Saal der Schicksalsbeschlüsse, küßten einander zur Begrüßung, setzten sich an die Tafel und begannen zu essen und zu trinken. Obwohl sie bald trunken waren, zauderten sie doch immer noch, Marduks Bedingung anzunehmen, denn sie hielten ihn nicht für fähig, zu regieren.
Schließlich forderten die Götter Marduk auf, einen Beweis dafür zu liefern, daß er genügend Macht und Kraft zur Herrschaft über die Götter besitze.
Sie legten ein Kleid vor ihn und forderten ihn auf:
"O Marduk, der du als Wehbeherrscher über göttliche Kraft gebietest! Dein Wort genügt, zu erschaffen und zu vernichten. Befiehlst du es, so vergeht das Kleid; befiehlst du dann wiederum, so ersteht es neu!"
Da sprach Marduk sein machtvolles Wort, und das Kleid verging im gleichen Augenblick. Wiederum sprach Marduk sein machtvolles Wort, und das Kleid erstand neu. Als die Götter dies sahen, riefen sie: "So sei Marduk unser Herr!"
Marduk erhielt von den Göttern das Zepter, den Thronsessel und das Beil zum Zeichen seiner Macht und daß er die darinliegende Kraft gebrauche. Durch sein Wort schuf Marduk sich Bogen und Speere, Keulen und Köcher, den Blitz, ein Netz, um Tiamat darin zu fangen, die Winde und Orkane, die Wasserflut und den Streitwagen.
Dann erhob er sich in furchterregender Gestalt und hatte ein Kraut in der Hand, das Tiamats Gift unschädlich machen konnte.
"Auf in den Kampf!", rief Marduk, daß Tiamat der Lebensatem abgeschnitten werde!"
Als Tiamats Horden Marduks Waffen erblickten, befiel sie furchtbare Angst. Tiamat aber rief eine Zauberformel und schmähte Marduk mit höhnender Rede; der aber erfaßte den Zyklon, seine Waffe, und rief ihr entgegen:
"Die du Quingu zu deinem Gemahl erkoren und mit ihm beschlossen hast, Unheil zu stiften und die Götter zu vernichten - komm her, damit wir miteinander kämpfen und uns messen!"
Tiamat stieß mit weit aufgerissenem Rachen ihre Zauberformeln aus, doch Marduk ließ ihr den Sturmwind in den Rachen fahren, daß sie das Maul nimmer zu schließen vermochte, blähte ihr den Leib mit schweren Stürmen und schoß ihr einen Pfeil in den Schlund, der ihr Inneres zerfetzte und ihr Herz mitten durchbohrte. Dann fesselte Marduk Tiamat, warf sie nieder und stieg als Sieger auf ihren Körper.
Tiamats Ungeheuer erschraken gewaltig und ergriffen sofort die Flucht, doch Marduk holte sie alle ein, zerbrach ihre Waffen und fing sie in seinem Netz.
Danach spaltet er Tiamats Leib in zwei Hälften und erschuf daraus den Himmel und die Erde. Er bestellte Wächter und befahl ihnen, die Wasser nicht vom Himmel abfließen zu lassen. Als Gegenstück des Himmels erschuf er den Ozean, die Wohnstätte des weisen Gottes Ea.
So schuf Marduk Himmel, Erde und Meer, über die er drei Götter setzte: Anu erhielt den Himmel, Enlil (Bel) erhielt die Erde, Ea er hielt das Meer.
Weiter erschuf und ordnete Marduk die Sternbilder und bestimmte den Weg der Himmelskörper.
Zu beiden Seiten des Himmels öffnete er die Tore, durch welche die Sonne auf- und untergeht; dann bestimmte er die Gestalten und Zeiten des Mondes.
Als die Götter sich bei ihm beklagten, es gebe keine Wesen, die ihnen huldigten un ihnen Opfer darbrächten, beschloß Marduk, ihre Wunsch zu erfüllen. So wurde der Mensch erschaffen dessen Aufgabe darin besteht, die Götter zu ehren un ihnen zu huldigen.
Marduk beriet sich mit Ea, dem Weisen unter den Göttern, und sprach zu ihm:
"Blut will ich nehmen, Gebein dazufügen und Lullu erschaffen, den Menschen. Ihm soll der Dienst an den Göttern auferlegt werden. Die Götter teile ich in zwei Gruppen: in die Himmlischen und die Irdischen, und sie sollen alle gleichermaßen von den Mensehen geehrt werden, damit sie zufrieden sind."
Ea gab Marduk den Rat, zur Erschaffung des Menschen einen der Götter zu nehmen, am besten Quingu, der Tiamat zum Aufruhr angestiftet hatte. Quingus Blut solle zur Ersthaffung des Menschen verwendet werden.
Marduk befragte die großen Götter und sie billigten Eas Plan. Qingu wurde herbeigeholt und getötet, und Marduk erschuf aus seinem Blute den Menschen, den er zur Dienst für die Götter verpflichtete. So entstanden die Menschen durch Marduks Umsicht und Eas Klugheit. Die Götter der unteren Welt waren von Dankbarkeit gegen Marduk erfüllt und gelobten, ihm einen Tempel zu bauen.
Marduk nahm ihr Angebot freudig an und bestimmte Babel zum Ort des Tempelbaues. Nach einem Jahr war der Tempel vollendet, dessen Spitze bis zum Himmel ragte, und er wurde Anu, Enlil (Bel) und Ea zur Wohnung angewiesen. Da sprach Marduk zu den Göttern:
"Dies ist Babel, das Tor Gottes, der Ort unserer Wohnung!"
Marduk lud alle Götter, fünfzig an der Zahl, zu einem Festmahl in seinen Tempel. Nachdem sie alle gegessen und getrunken hatten und die Tafel abgeräumt war, setzte Marduk mit ihnen die Gebote für die Aufrechterhaltung und Gewähr der Ordnung der Welt fest. Zuletzt hielt Anu ein große Lobrede auf Marduk und besang sein herrliches Werk, die Erschaffung und die Erhaltung der Welt:
Er, Marduk, besiegte Tiamat,
er, Marduk, unterdrücke sie,
bis in zukünftige Geschlechter,
bis in die spätesten Zeiten!
Marshal T. Castle