Alle gegen Vattenfall - Stromrebellen wollen Netze übernehmen. WZ vom 10.06.2013
Der Gegner legt sich mächtig ins Zeug. Auf Berliner Plakatwänden
singt ein brünettes Mädchen für den Stromkonzern Vattenfall ins
Spülbürsten-Mikro. Die Botschaft: Berlin hat
viele Talente. Unseres ist Strom. Zeitungsanzeigen, Plakate, markige
Sprüche. Man könnte meinen, der Stromriese werde nervös. Denn engagierte
Berliner wollen ihm Deutschlands größtes Stromnetz aus der Hand reißen.
Und auch das Hamburger Netz droht er zu verlieren. Vattenfall den
Stecker ziehen, tragen die Stromrebellen auf dem Berliner
Alexanderplatz auf der Brust. Sie sammeln Unterschriften für ein
Volksbegehren. Die Unterzeichner wollen, dass das Land das Netz ab 2014
wieder in eigene Hände nimmt und Ökostrom anbietet.
Bereits am Freitag seien über 190 000 Stimmen beisammen gewesen,
sagte ein Sprecher gestern rund 173 000 davon müssten gültig sein,
damit am Tag der Bundestagswahl abgestimmt wird. Für den gleichen Tag
ist auch in Hamburg ein Volksentscheid anberaumt. Auch hier droht
Vattenfall seine Anteile am Stromnetz an das Land zu verlieren. Kämen
die Initiativen in den beiden größten deutschen Städten durch, könnte
das richtungsweisend für Konzessionsentscheidungen in Dutzenden anderen
Städten sein. Das wäre auch ein interessantes Signal an eine neue
Bundesregierung, sagte Energietisch-Sprecher
Stefan Taschner. Schon jetzt jedenfalls ist Rekommunalisierung im Trend:
Nach Zahlen des Verbands kommunaler Unternehmen übernahmen seit 2007
mehr als 200 Gemeinden Konzessionsverträge von privaten
Energiekonzernen.
Wer das Netz bekommt, entscheidet die Politik. In der Hauptstadt ist neben vier Energieunternehmen auch die Vattenfall-Tochter
Stromnetz Berlin im Rennen, der das Netz nach eigenen Angaben jährlich
bisher gut 30 Millionen Euro bringt. Dazu eine Genossenschaft und das
Landesunternehmen Berlin Energie. Dessen Bewerbung sei zwar toll, es
müsse aber dringend mehr Zug rein, meint Taschner. Dafür soll das
Volksbegehren sorgen. Denn auch ein kommunaler Bewerber muss sich bei
der Ausschreibung offiziell durchsetzen. Ökogedanken, kreative Ideen und
Bürgerbeteiligung zählen da voraussichtlich wenig. Für größeres
Aufsehen sorgt derzeit aber ein anderer Stromnetz-Bewerber: Die 27-jährige Luise Neumann-Cosel
will das Netz mit einer Genossenschaft übernehmen. Vorbilder der
Geoökologin sind die Stromrebellen der ersten Stunde aus der Schwarzwald-Gemeinde
Schönau. So ein Stromnetz gehöre als Element der Daseinsvorsorge in die
Hand der Bürger, ist sie überzeugt. Mit Landesunternehmen haben wir in
Berlin zuletzt nicht nur positive Erfahrungen gemacht.
Doch reicht das Geld? Diese Frage dürfte Neumann-Cosels
BürgerEnergie Berlin derzeit am meisten beschäftigen. 5,5 Millionen
Euro haben die Mitglieder zusammengelegt. Das ist nicht genug. Selbst
wenn sich die Genossenschaft wie geplant mit dem Land zusammentut,
müsste sie wohl mindestens 100 Millionen Euro beisteuern. Was das
Stromnetz am Ende kostet, wird wahrscheinlich juristisch entschieden.
Vattenfall rechnet laut Sprecher Hannes Stefan Hönemann mit einem
Sachzeitwert von etwa drei Milliarden Euro. Der Ertragswert sei
niedriger, der Kaufpreis irgendwo dazwischen. Die vom Energietisch
angegebenen 400 Millionen seien aber in jedem Fall deutlich zu wenig.
Einer Untersuchung des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und
Energie zufolge sind überhöhte Kaufpreise eine beliebte Strategie der
Konzessionsinhaber. Dieses Spiel will Taschner auch bei Vattenfall
beobachtet haben. Außerdem bauten sie das Angstszenario auf, dass die
Stromversorgung nicht gesichert sei. 35 000 Kilometer Stromnetz. Schön,
dass Sie das nicht interessieren muss, plakatierte Vattenfall.
Zehntausende Berliner Stromrebellen scheint es schon zu kümmern.
Theresa Münch