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Katastrophaler Katastrophenschutz. WZ vom 09.11.2012

Katastrophaler Katastrophenschutz. WZ vom 09.11.2012

Beide Artikel erschienen auf Seite 15:



Katastrophaler Katastrophenschutz

Informationsvortrag vor großem Publikum über die Folgen einer Reaktorkatastrophe/ Kernkraftwerksgegner fordern sofortige AKW-Stilllegung

Wewelsfleth/Brokdorf

„Es gibt 20 Notfallstationen in Schleswig-Holstein,
die jeweils 1000 Personen aufnehmen können, die dekontaminiert sind –
also für 20 000 Menschen.“ Ob das im Ernstfall ausreichend ist, sei zu
bezweifeln, meinte Kartsen Hinrichsen, der als Sprecher der Initiative
„Brokdorf akut“ die Moderation eines Informationsabends übernommen
hatte, der sowohl die aktuelle Situation in Fukushima als auch den
Sonderkatastrophenschutz bei einer Reaktorkatastrophe in Brokdorf
beleuchtete. Dazu hatten Brokdorf akut, der BUND und attac Itzehoe in
die Mehrzweckhalle Wewelsfleth eingeladen. Anlass bot die „Aktionswoche
Katastrophale Risiken - AKW Brokdorf stilllegen“. Referentin war Dr.
med. Angelika Claußen, Vorsitzende der Gruppe Internationale Ärzte für
die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).


Vor einem großen Publikum – allerdings vermisste Moderator Karsten
Hinrichsen offizielle Vertreter des Kernkraftwerks Brokdorf – gab
Angelika Claußen einen Überblick über die aktuelle Lage im japanischen
Katastrophengebiet. Untermauert mit Bildern, die betroffen machen
angesichts der Verharmlosung der Situation durch dortige Regierung und
Behörden. Kontaminiertes Material, lediglich durch Plastikplanen
abgedeckt, lagert immer noch auf den Grünflächen im 30- bis 60-Kilometer-Umkreis
um die Sperrzone. Ungläubiges Kopfschütteln beispielsweise auch
angesichts tanzender, barfüßiger Mädchen an einem besonderen Festtag in
einem immer noch stark radioaktiv verseuchten Gebiet. Die 61-jährige
Ärztin beschrieb ein umfassendes, oft unfassbares Bild der gewollten
Normalität – und des völlig gescheiterten Katastrophenschutzes dort.


Doch wie sähe der Schutz der Bevölkerung in Deutschland, speziell in
hiesiger Region aus, wenn es einen Supergau im Kernkraftwerk geben
würde? Die Referentin kam ebenso wie der Moderator und die an der
anschließenden Diskussion Beteiligten zu einem vernichtenden Urteil,
angelehnt an eine Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz. Dieses hat
den Verlauf der Katastrophe von Fukushima untersucht und auf die
Verhältnisse in der Bundesrepublik übertragen.


Demnach wäre im Katastrophenfall in deutlich größeren Gebieten die
Einnahme von Jodtabletten vorzusehen (bis 180 Kilometer Entfernung statt
bisher 100 Kilometer) – und das nicht nur einmal sondern wiederholt.
Das Großlager für Jodtabletten liege in Neumünster, merkte Hinrichsen an
– fraglich sei, ob die Verteilung jener Tabletten im Ernstfall
tatsächlich rechtzeitig funktionieren würde. Laut Bundesamt werde auch
die Evakuierung, permanente Umsiedlung und Einnahme von Jodtabletten auf
wesentlich größeren Flächen erforderlich sein, wenn sie nicht erst bei
einer Strahlenbelastung von 100 milliSievert, sondern schon ab 20
milliSievert angeordnet wird.


Das bedeute, so Dr. Angelika Claußen, dass fast ganz Schleswig-Holstein
bis nach Dänemark, aber auch große Teile von Niedersachsen und Hamburg
im Fall einer Atomkatastrophe im Kernkraftwerk Brokdorf dauerhaft zu
evakuieren wäre. Dieser Realität seien die Katastrophenschutz-Behörden
nicht gewachsen. Die Diskussion mündete in die Forderung der
Atomkraftgegner, das Kernkraftwerk Brokdorf zum Schutz der Bevölkerung
umgehend stillzulegen. Es sei weder gegen Terrorangriffe noch gegen den
Absturz schwerer Flugzeuge wie des Airbus A380 gesichert. Landes- und
Bundesregierung wurden aufgefordert zu handeln. Nach deren Plänen soll
das AKW bis Ende 2021 in Betrieb sein.


Gleichzeitig wurde auf das ungelöste Problem der Langzeitlagerung
radioaktiven Mülls aufmerksam gemacht. Auch darüber entspann sich eine
ausführliche Diskussion. „Dazu braucht es noch viele kluge Köpfe“,
meinte Dr. Angelika Claußen, doch erst einmal „müssen die Kernkraftwerke
stillgelegt werden“.


Ilke Rosenburg





E.ON unterstreicht Sicherheit des Kernkraftwerks

Brokdorf /sh:z

Zur „Aktionswoche Katastrophale Risiken – AKW Brokdorf stilllegen“
übersandte gestern das E.ON Kernkraft unserer Zeitung eine Stellungnahme.
In Bezug auf den Vergleich zum Supergau in Fukushima, betont Hauke
Rathjen, Öffentlichkeitsbereich des Kernkraftwerks Brokdorf, dass eine
Anlage mit der Auslegung der betroffenen japanischen Reaktoren in
Deutschland niemals genehmigt worden wäre. „Die Kernkraftwerke
unterscheiden sich in ihrer Auslegung erheblich von den deutschen
Kernkraftwerken und vom Kernkraftwerk Brokdorf im Besonderen.“


Das Kernkraftwerk Brokdorf sei – wie alle deutschen Kernkraftwerke –
gegen das 100 000-jährige Erdbeben („Bemessungserdbeben“) ausgelegt und
der Hochwasserschutz erfordere die Berücksichtigung eines
10 000-jährlichen Hochwassers als Bemessungsgrundlage. Alle Anlagenteile
und Komponenten seien im Kernkraftwerk Brokdorf so ausgelegt, „dass
sowohl der Störfall als auch auslegungsüberschreitende Vorkommnisse
sicher beherrscht werden“. Das zur Kühlung der Brennelemente im Reaktor
notwendige Nachkühlsystem sei – im Gegensatz zu japanischen Anlagen, in
denen alle Sicherheitssysteme zweifach vorhanden sind – vierfach
vorhanden.


Für den Fall, dass die elektrische Stromversorgung aus dem Netz oder
Reservenetz ausfalle, stünden im Kernkraftwerk Brokdorf vier
Notstromdiesel zur Verfügung. Die Kühlung der Diesel erfolge durch
Kühlwasser aus der Elbe. Sollten auch diese vier Notstromdiesel
ausfallen, komme die Notspeiseversorgung zum Tragen. Das Notstromsystem
in Brokdorf verfüge über vier zusätzliche Dieselaggregate mit
Speisewasserpumpen, die in einem gebunkerten Gebäude untergebracht sind.
Diese könnten mindestens zehn Stunden autark arbeiten, seien unabhängig
von der Flusswasserkühlung.


„Wenn all diese Systeme ausfallen würden, ist beim Kernkraftwerk
Brokdorf eine Stromversorgung über einen dritten, unterirdischen
Netzanschluss vorgesehen. Desweiteren sind in Brokdorf Anschlussstutzen
für mobile Pumpen zur Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern vorhanden.“


Zum Vorwurf unzureichender Katastrophenschutzmaßnahmen weist Rathjen
darauf hin, dass die Sicherheitsphilosophie deutscher Kernkraftwerke auf
einem mehrstufigen Konzept aus aktiven und passiven
Sicherheitseinrichtungen basiere, „die aufeinander aufbauen, einander
ergänzen und ihre Wirkung gegenseitig verstärken.“


Die Aussage von „Brokdorf akut“, dass es jederzeit auch in Brokdorf
zu einem Kernschmelzunfall kommen könne, entbehre jeglicher Grundlage.
Rathjen: „Bestünde auch nur der geringste Zweifel daran, müsste die für
die Aufsicht verantwortliche Behörde unverzüglich tätig werden.“