Ein Schelm der böses denkt?
Stadt der Seuchen
US-Forscher haben eine ganze Metropole mitsamt Einwohnern im Supercomputer nachgebaut. Dort simulieren sie nun den Kampf gegen tödliche Epidemien.
Schon wieder ein Großalarm, diesmal an der Franklin High School: Dutzende Schüler sind an Pocken erkrankt. Das ganze Viertel ist abgeriegelt; Busse und Bahnen kehren an den Grenzen um.
Die Einwohner kennen es nicht anders. Ständig brechen hier irgendwo die Pocken aus. Demnächst steht die Vogelgrippe auf dem Plan.
Die ganze Stadt besteht ja auch nur für die Seuchenforschung. Ihr Dasein spielt sich in einem Großrechner ab, und sie gleicht bis ins Detail einer echten US-Metropole: Das gesamte Verkehrsnetz von Portland im Bundesstaat Oregon ist hier nachgebaut. Mehr als hunderttausend Gebäude, darunter Schulen, Supermärkte und Wohnhäuser, gehören zur Simulation. Vor allem wimmelt es von künstlichen Städtern, die von früh bis spät, ganz wie die echten Portländer, ihren Geschäften nachgehen.
Bürgerin 97 105 etwa nimmt morgens die Bahn zur Arbeit, falls die Brücke über den Willamette River wieder mal verstopft ist. Heimwärts kann sie dann aber nicht ihren kleinen 97 106 aus dem Kindergarten abholen - Ehemann 97 107 springt ein. Die Familie besteht aus selbständigen Unterprogrammen, genannt Agenten, die als Einwohner ihren Dienst tun.
Mehr als anderthalb Millionen solcher Agenten hausen im Rechner. Das ist die größte Simulation ihrer Art, die je geschaffen wurde. Die Stadt der Seuchen, genannt Episims, entstand am Los Alamos National Laboratory; aufgebaut hat sie eine Forschergruppe um den Projektleiter Chris Barrett.
Nun können die Weltenschöpfer nach Belieben Unheil säen: Pockenerreger in der Schule, im Busbahnhof, im Einkaufszentrum - alles Ziele, die auch für Terroranschläge in Frage kämen. Dann sehen die Forscher ungerührt zu, wie die Erreger von Mensch zu Mensch springen.
Der Computer registriert tagelang alle Hauptrouten, Seitenpfade und Abkürzungen, über die sich die Epidemie im digitalen Notstandsgebiet ausbreitet. Zwischendurch werden regelmäßig die Toten gezählt.
Die Frage ist: Wie lassen die Pocken sich am schnellsten eindämmen? Mit Massenimpfungen? Oder genügt es, rasch die Menschen aufzuspüren, die mit den ersten Erkrankten in Berührung gekommen sind? Was nützt es, Schulen und Ämter zu schließen oder ganze Viertel unter Quarantäne zu stellen?
Alle Maßnahmen lassen sich in Episims durchspielen. Die Agenten sind sogar mit realistischen Tagesplänen ausgestattet. Als Vorbilder dienten etwa zehntausend Portländer, die über 48 Stunden hinweg alle ihre Wege aufgezeichnet hatten. Die digitalen Doppelgänger wurden dann gemäß den Daten der letzten Volkszählung über den Stadtplan verteilt.
Der Aufwand für die Schattenmetropole im Computer war enorm. Sie beruht auf einer Verkehrssimulation namens Transims, an der die Forscher zuvor schon mehr als ein Jahrzehnt lang gebaut hatten. Am Ende verkehrten sogar die Busse nach realen Fahrplänen. Diese Detailwut kommt nun der Katastrophenabwehr zugute.
Für die Pocken liegen bereits erste Ergebnisse vor. Sofortiges Handeln ist demnach mit Abstand am wichtigsten. Diverse Maßnahmen erwiesen sich als ähnlich effizient, wenn sie nur unverzüglich zum Einsatz kamen. Ließen die Forscher dagegen auch nur wenige Tage nach dem Ausbruch verstreichen, war die Seuche bald kaum mehr einzudämmen - egal, was sie unternahmen.
Außerdem genügt es wohl nicht, nur Menschen wie Verkäufer, Ärzte oder Lehrer zu impfen, die von Berufs wegen viele Kontakte haben. Zwar sind sie quasi die Verkehrsknotenpunkte im sozialen Netz - und damit auch für den Erreger. Doch andere Menschen stehen ihnen darin nur um weniges nach.
Die digitalen Portländer erwiesen sich nämlich durchweg als überaus begegnungsfreudig. Fast alle - von überzeugten Eremiten abgesehen - hatten in rascher Folge Kontakt mit verschiedenen größeren Menschengruppen. Für den Erreger wirkten sie damit wie Schnellverbindungen von der einen Gruppe zur anderen.
"Episims sagt natürlich nicht voraus, wer wann krank wird", meint der Physiker Stephen Eubank, der am Aufbau beteiligt war. "Aber wir können zum Beispiel sehen, in welchen Altersklassen die Krankheit nach ein paar Tagen am schlimmsten wütet." Für den Fall einer Grippe-Epidemie etwa ließe sich ermitteln, wie weit die Sterberate auch der Älteren sinkt, wenn man nur die Kinder impft.
Die Simulation ist nun, mit Anpassungen, auf jede Großstadt anwendbar. Die digitale Schattenmetropole Portland aber wird unterdessen schon auf den Angriff des derzeit wohl bedrohlichsten Erregers vorbereitet. Die Forscher arbeiten an einem realistischen Modell der Vogelgrippe, die von dem Virus H5N1 übertragen wird.
Experten rechnen damit, dass die Planspiele im Computer nur allzu schnell wahr werden könnten. In Japan, Thailand und Vietnam fielen dem Virus schon mehr als 30 Menschen zum Opfer. Falls H5N1 vollends auf den Menschen überspringt, sind Millionen von Toten zu befürchten.
Die Forscher in Los Alamos haben deshalb in ihrem Großrechner bereits eine weitere Kulisse aufgebaut, die an eine ländliche Gegend in Südostasien erinnert: weit verstreute Städtchen und kleine Landwirtschaften. Rund 500.000 Agenten sind dort im Einsatz. Sie sollen helfen bei der Suche nach Methoden, wie sich die Vogelgrippe möglichst schon am Ursprungsort austilgen ließe.
Bürgerin 97 105 und ihre Familie hätten dann eine Sorge weniger.
(Quelle: Der Spiegel]
Pegus