Dilla´s & Eva´s grenzwissenschaftl. & polit. Forum - M 2010

Gedanken zum 1. August

Gedanken zum 1. August

«Auch das Ausland soll wissen, dass die alten Schweizer nicht nur in der Geschichte sind, sondern dass sie noch leben!»

Gedanken zum 1. August

von Tobias Salander

Die «Arglist der Zeit» – ein Begriff, der seit Jahrhunderten jedem Eidgenossen geläufig ist, da er von unseren Gründervätern dafür verwendet wurde, einen Teil – und zwar die Schattenseiten – der «conditio humana», der Bedingungen, unter denen wir auf diesem Erdenrund leben, griffig auf den Punkt zu bringen: realistisch, ohne schwarz zu malen, genau und kritisch beobachtend, was Menschen antreiben kann und wozu Menschen auch fähig sein können: voller Arg und mit List den Mitmenschen zu übervorteilen, ihn zu bevormunden, zu be«zwingen», zu «bevogten». Die Dinge beim Namen zu nennen nahm ihnen aber auch den Schrecken, den Nimbus des «Da-kann-man-doch-nichts-dagegen-Machen»; kurz: jedem Anflug von Resignation wurde mit der Benennung ein Riegel geschoben. Die «Arglist der Zeit» verlangte aber damals und heute, auch die andere Seite der «conditio humana» ins Feld zu führen und zu unterstreichen, nämlich die Fähigkeit, würdevoll, in Frieden und gegenseitiger Achtung und Respekt die Beziehung zum Nächsten zu gestalten, von Mitmensch zu Mitmensch, als Ebenbild Gottes und damit geheiligt und in seiner Würde unantastbar – spätere Jahrhunderte sprachen dann vom Menschen als sozialem Wesen, als Wesen mit ihm innewohnenden, eingeschriebenen und unveräusserlichen Rechten, die dem Menschen als Menschen von Natur her zuteil geworden sind, den unveräusserlichen Menschenrechten.

Arglist der Zeit heute?

Auf dieser Grundlage bedeutete und bedeutet, der «Arglist der Zeit» zu trotzen, das Zusammenstehen all derer, die von einem Willen beseelt waren und sind, nämlich dem Willen, sich in Freiheit und Würde ein selbstbestimmtes, auf das Gemeinwohl bezogenes, genossenschaftlich organisiertes Leben zu gestalten – jenseits von Falsch und Trug, von Ausbeutung und Gier. Was unsere Vorväter mit dem Schwur auf dem Rütli und darauf folgend mit einem filigranen Geflecht von ungezählten Bündnissen auf den Weg brachten, besitzt die heutige Generation als kostbares Gut, dem es Sorge zu tragen gilt.

Die Arglist hat sich seither aber nicht aus der Zeit und der Geschichte verabschiedet, sondern treibt weiterhin ihr Unwesen, wenn auch chamäleonartig in immer sich wandelndem Gewand. Waren es in unserer eidgenössischen Geschichte die Machtgier der Habsburger und der Burgunder, aber auch die innere Zwietracht, genährt von Neid und Missgunst, Habgier und Überheblichkeit angesichts der eigenen militärischen Erfolge, Gewinn- und Gefallsucht, die in der Niederlage von Marignano eine heilsame Remedur erfuhr; waren es die Zwiste religiöser Art, die stetige Gefahr der Einmischung fremder Mächte, welche innere Unstimmigkeiten unserer Vorfahren stets auszunutzen versuchten; waren es dann die Napoleonischen Truppen, die das Land brandschatzten, plünderten und die jungen Männer als Kanonenfutter für den Russlandfeldzug holten; waren es die Anmassung und der Dünkel der Städter gegenüber der Landbevölkerung, der alten Orte gegenüber den Untertanengebieten, welche durch mutiges Einstehen für die Gleichwertigkeit aller Eidgenossen z.B. im Stäfner Handel von 1794/95 und in den diversen Volkstagen wie dem Tag von Uster 1830 zurückgewiesen werden konnten – so finden wir die Arglist der heutigen Zeit in folgenden Erscheinungen: in den auf verschiedensten Ebenen geführten Angriffen gegen unsere direkte Demokratie als Friedensmodell für die anderen Völker; den Angriffen auf die immerwährende bewaffnete Neutralität und die guten Dienste. Auf unsere Ernährungssouveränität. Arglistig sind auch die Angriffe der Hochfinanz und deren Gier, sich des Vermögens in unserem Land und unserer Währung bemächtigen zu wollen; arglistig ist die Zersetzungsarbeit bezahlter «Intellektueller» und ihr heimtückischer Versuch, die «Idylle Schweiz» zu zerstören; arglistig die Aussagen der EU, der bilaterale Weg sei zu Ende, was verklausuliert die Drohung darstellt, die Schweiz müsse sich nun Richtung EU-Beitritt bewegen – in eine EU, die entweder auseinanderfällt oder sich weiter diktatorisch gebärdet; arglistig auch die Versuche, die gewachsenen föderalistischen und direktdemokratischen Strukturen klammheimlich auszuhebeln durch die Schaffung von Metropolitanregionen, durch Privatisierung und damit die Ausplünderung unseres Service public; arglistig die Versuche, unser Schulwesen zu demolieren und damit einen Pfeiler unserer direkten Demokratie, die Volksbildung, zu unterminieren; arglistig die Versuche, ganze Gemeinden durch «social engineering» via externe Berater in Richtungen zu bewegen, die nie und nimmer demokratisch legitimiert noch von der Mehrheit der Bevölkerung gewollt sind; etc. etc.
Gegen Arroganz und Machtgehabe

Doch wie bereits eingangs gesagt: Arglist zu benennen, heisst die Sicht auf die Realität zu klären und die Immunabwehr zu stärken, Gegengift zu spritzen und präventiv vorgehen zu können oder, wenn verspätet erkannt, um so kräftiger und wuchtiger Gegenwehr zu leisten. So wie dem «Gewaltshaufen» der alteidgenössischen Infanterie mit ihren Langspeeren und Halbarten die besten Ritterheere der damaligen Zeit in ihrer Überheblichkeit und ihrem Hochmut nichts entgegenzusetzen hatten, so wird auch heute jeder Arroganz und jedem Machtgehabe egal welchen Stallgeruchs, welcher Couleur oder welchen ethnisch-religiösem Auserwähltheitsfanatismus in aller Deutlichkeit die Stirn geboten werden. Dazu braucht es aber Entschlossenheit und Zivilcourage – und Kenntnisse der staatsbürgerlichen und historischen Grundlagen: Zu fordern sind also von unseren Schulen fundierter und von Ehrlichkeit getragener Staatskundeunterricht mit genauer Kenntnis der Geschichte und der Instrumente der direkten Demokratie.

Mussten unsere Vorfahren unter erschwerten Bedingungen, oft unter Einsatz des eigenen Lebens, sich die Mitbestimmung hart erkämpfen, so half immer nur das gemeinsame Vorgehen, der Schulterschluss mit den Mitmenschen.
Zur Illustrierung des bisher Gesagten seien hier Gedanken in Erinnerung gerufen aus der Zeit der Vorbereitung des Volkstages von Uster vom 22. November 1830, welcher wie in anderen Kantonen der Schweiz auch der Zürcher Landbevölkerung in der Folge endlich die rechtliche Gleichstellung mit den Stadtbewohnern brachte und damit von den Kantonen her die Grundlagen für die Schaffung des modernen Bundesstaates von 1848 schuf, welcher in seiner Verquickung der alteidgenössischen Gemeindeautonomie, des alten, göttlichen Naturrechts mit dem Gedankengut der Aufklärung, des vernunftbegründeten Naturrechts, den Gedanken der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung in den darauffolgenden Jahrzehnten mit dem Initiativ- und Referendumsrecht das Modell der direkten Demokratie vollendete.

Mit mehreren, über den ganzen Kanton Zürich gestreuten Flugschriften war der Volkstag von Uster, vielerorts auch «Landsgemeinde» genannt, argumentativ und stimmungsmässig vorbereitet und angekündigt worden. Und so liessen die Verfasser in der Flugschrift «Jonathan» und «David», zwei Landleute im Kanton Zürich, «über das, was jetzt noth ist und Alle wissen müssen», sprechen.

Wahre Weisheit: gerecht und billig, umsichtig und bescheiden

Nachdem die der Landbevölkerung nach wie vor die Rechtsgleichheit vorenthaltende Stadt Zürich als «listig» und «herrisch» entlarvt worden ist, offenbart sich in den Worten von Jonathan ein Selbstbewusstsein, eine Würde und ein gerüttelt Mass Zivilcourage, die man den heutigen Miteidgenossen nur wünschen möchte: Die Machtanmassung der Stadtzürcher offen benennend, sagt Jonathan – und der zeitgenössische Eidgenosse möge in der Folge jedesmal «Zürich» ersetzen durch heutige im Grössenwahn gefangene Gebilde wie z.B. «angloamerikanisches Kriegskartell», «EU», «Hochfinanz» und was der finsteren und arglistigen machtgierigen Zirkel sonst noch sind –, Jonathan also sagt zu seinem Mitbürger David:
«Da hast Du meine Hand, David! Ich bin noch ein Schweizer, und halte zu Dir und zu der guten Sache des Landes. Jetzt ist’s mir sonnenklar, um was es gilt, und unsere Männer haben grosse Ursachen, zusammenzustehen, und den Zürichern zu zeigen, dass es sich mit dem Lande nicht spassen lasse. Wir sind, David, keine ..., die sich mit einigen Brocken begnügen. Wir sind Menschen und Bürger des Cantons, wie die Züricher; ich habe Weib und Kinder daheim; soll ich bloss für ihren Bauch sorgen, nicht auch für ihre Zukunft? Ich habe Haus und Gut; aber sie freuen mich nicht, wenn ich nicht auch ein freier Schweizerbürger sein kann. Nein, nein! Den Vorrechten muss auch einmal ihre Stunde schlagen.»

Und dann kommt ein Fingerzeig, den sich auch die heutigen Intellektuellen gut zu Gemüte führen sollten:
«Doch höre, David! Ich kann nicht begreifen, dass Zürich, wo doch so viele sogenannte Gebildete sein sollen, so unbillig und so unklug gerade jetzt wieder gegen das Land sein kann.»

Darauf die Antwort von David:
«Das ist aber ein handgreiflicher Beweis, dass sie wohl gebildet sind, aber nicht weise. Immer habe ich gehört, dass die wahre Weisheit auch gerecht und billig, umsichtig und bescheiden sei. Da kommt mir in Sinn, was der Grossvater von den witzigen [«intelligenten»], aber bösen Leuten sagte: «Sie haben die Weisheit der Welt; die aber wird am Ende zu Schanden!»
Jonathan antwortet dann unter anderem, Bezug nehmend auf die republikanische Tugendlehre und das Gebot des sittlichen Handelns von Volksvertretern:
«Ich habe gehört, dass ein Volksvertreter oder Grossrath nicht etwa nur gescheidt, sondern auch rechtschaffen und tugendhaft sein müsse.»
Höhenfeuer: Besinnung auf Grundwerte und Tugenden

Dann formuliert Jonathan, was das Wesen der Eidgenossenschaft ausmacht und stete Arbeit bedeutet, nämlich das beharrliche Miteinander-Aushandeln und Besprechen dessen, was die Willensnation ausmacht und in welcher Gestalt die Arglist sich den jeweiligen Zeitgenossen zeigt:
«Lasst uns zusammentreten, lasst uns berathen. Ich will an meine Freunde, an meine Bekannten und Verwandten senden – tue Du dasselbe auch. Erheischt es Opfer, das Meinige gehört dem Vaterlande. Auch das Ausland soll wissen, dass die alten Schweizer nicht nur in der Geschichte sind, dass sie noch leben. Wir haben Familien, doch eine grössere Familie ist der Kanton. Der grösste Verlust ist der Verlust der bürgerlichen Rechte – für dies Alles! Nun weiss ich, was es gilt. Wehe Zürich, dass es so durch sein Benehmen das Land aufregt. – Es säet Unruhen, es ernte die Früchte. – Wir können nicht anders, wir müssen unsere heiligen Rechte schützen vor Gott und dem Vaterlande. Sie werden uns schlimme Namen geben; doch sei’s, da wir die gute Sache haben.»
Diese Beherztheit, diese klare Sicht der Dinge, die Benennung des Angreifers auf die Unabhängigkeit und Gleichwertigkeit, die Verbundenheit mit den Miteidgenossen, dies alles ist uns heutigen nur zu wünschen. Sich auf diese Grundwerte und -tugenden zu besinnen, dazu werden am 1. August die Höhenfeuer entfacht, um nachts in stiller Erhabenheit übers Land zu leuchten und uns in Erinnerung zu rufen, dass Freiheit und Frieden den Menschen nicht in den Schoss fallen, sondern stets von Neuem errungen sein wollen – wider die Arglist der jeweiligen Zeit.•

https://www.zeit-fragen.ch/ausgaben/2010/nr30-vom-2772010/auch-das-ausland-soll-wissen-dass-die-alten-schweizer-nicht-nur-in-der-geschichte-sind-sondern-dass-sie-noch-leben/