Der Bundespräsident und die Politikverdrossenheit
Hallo @ll,
letztes Wochenende erschienen zwei Artikel im Münchner Merkur, die meinen Blutdruck ansteigen ließen - der eine "Wulff rügt Umgang mit Politik" und der zweite "Die große Wut über "die da oben" ".
Der erste Artikel ging um eine Rede des neuen Bundespräsidenten Wulff, in der er beklagt, dass Politiker immer häufiger verhöhnt werden:
"Heute begleitet auch die Politiker viel Häme, viel Spott und viel Misstrauen - mehr als früher, und das kann so nicht bleiben."
Quelle: Münchner Merkur 21./22.8.2010
Desweiteren meinte Wulff, dass Demokratie nur dann funktioniert, wenn Menschen Verantwortung übernehmen und nicht jeder Politiker als Karrieretist verhöhnt werde.
Nun, was die Verantwortung betrifft sehe ich das durchaus wie Herr Wulff, aber, das Bild, das ein Großteil der PolitikerInnen heutzutage abgibt, fordert meiner Ansicht nach regelrecht heraus, dass ein Großteil der BürgerInnen in ihnen nur Karrieretisten sieht.
Der zweite Artikel setzt dem Ganzen noch eines d'rauf - angeblich suchen Wissenschaftler schon lange nach dem Grund für die Politikverdrossenheit und ihre Studien würden Aktenordner füllen.
Na klar - allerdings, wo der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen ist helfen auch keine Studien mehr. Was erwartet z. B. eine Regierung (und auch ein Bundespräsident) von einem Volk, welches den Regierenden völlig schnuppe zu sein scheint. Schon seit Jahren wird permanent am mehrheitlichen Willen des Volkes vorbei regiert. Beispiele dafür gibt es viele - den Ausstieg aus der Atomkraft, Verbot von Agrogentechnikpflanzen, keine Patente auf Leben wie z. B. bei bestimmten Hausschweinarten, mehr soziale Gerechtigkeit u. v. m. Nimmt man dann noch Regionales dazu - wie bei uns die Verlängerung der A 94, umgangssprachlich Isentalautobahn genannt, mitten durchs Isental, obwohl die BürgerInnen mehrheitlich die alternative Trasse über Haag wünschen, die geplante dritte Startbahn am Flughafen München, welche ebenfalls von einer Mehrheit abgelehnt wird oder auch den Stuttgarter Bahnhof - dann wird doch mehr als offensichtlich, dass sowohl Bundes- als auch Landesregierungen ganz offen gegen den mehrheitlichen Willen des Volkes regieren. Dann brauchen sie sich auch über Politikverdrossenheit, aber auch Hohn und Spott, wirklich nicht zu wundern.
Was mich aber im zweiten Artikel besonders geärgert hat, sind Anmerkungen des Politik-Professors Werner Patzelt:
"Patzelt beklagte mal bei einer Anhörung im Bundestag, der politische Bildungsstand der Deutschen "reicht nicht aus, um das komplexe System zu verstehen". Tatsächlich hat die Bundeszentrale für politische Bildung ermittelt, dass ihre Arbeit andere als höhere Bildungsschichten gar nicht erreicht.
Quelle: Münchner Merkur 21./22.8.2010
Ah ja - das deutsche Volk ist also mehrheitlich zu blöd, um die Politik zu verstehen! Das ist wirklich das Allerletzte! Anstatt dass die Damen und Herrn Politiker mal in sich gehen und überlegen, warum sie so gar nicht mehr beim Volk ankommen, schimpft man mal wieder lieber auf die BürgerInnen bzw. verunglimpft diese als zu dumm!
Ich würde sagen, da wird eher umgekehrt ein Schuh d'raus - mir erscheinen ein Großteil der PolitikerInnen einfach zu arrogant und zu abgehoben, um überhaupt noch verstehen zu können, was das Volk mehrheitlich möchte. Darüber hinaus ist im Grundgesetz festgeschrieben, dass der Bürger der Souverän ist - davon merkt man aber schon lange nichts mehr in diesem Land!
So entsteht nicht nur bei mir der Eindruck, dass wir in Wirklichkeit nicht mehr von demokratisch gewählten PolitikerInnen regiert werden, sondern von einer macht- und profitgierigen Finanz- und Wirtschaftslobby! Darüber sollte Bundespräsident Wulff einmal nachdenken - und nicht nur er!
Das Schlimmste dabei ist jedoch, dass es inzwischen auch im Volk einen extremen Rechtsruck gegeben hat, der die ganze Demokratie gefährdet. Und das liegt meiner Ansicht nach absolut nicht an einem zu dummen Volk, sondern an PolitikerInnen, die permanent am Volk vorbei regieren und immer häufiger eine reine Klientelpolitik für eine reiche Finanz- und Wirtschaftslobby machen, wie z. B. Nichteinführung der Finanztransaktionssteuer oder auch das Entgegenkommen zugunsten der Atomlobby in diesen Tagen!
Liebe Grüße,
Eva
Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch. (Bertrand Russell)
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Viele kleine Leute, in vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, können das Gesicht der Welt verändern. (Spruchweisheit der Mandika, Afrika)