Keine Rabenmutter
35 Jahre Abtreibungsbekenntnis
VON MARTINA MEISTER
Es ist ein Jubiläum, das nicht zur deutschen Stimmung passt: Vor genau 35 Jahren, am 5. April 1971, veröffentliche das französische Nachrichtenmagazin Le Nouvel Observateur ein Manifest auf seiner Titelseite. 343 Französinnen bekannten öffentlich: Ich habe abgetrieben. Unter ihnen Prominente wie Simone de Beauvoir, die Schauspielerinnen Catherine Deneuve und Jeanne Moreau, die Schriftstellerinnen Marguerite Duras und Françoise Sagan, die Regisseurinnen Ariane Mnouchkine und Angès Varda.
Eine Woche nach der Veröffentlichung des Manifestes kam das Satiremagazin Charlie Hebdo mit einer Karikatur damaliger Politiker und der Frage auf dem Titelblatt: "Wer hat die 343 Schlampen geschwängert?" Fortan galt das kollektive Abtreibungsbekenntnis als "Manifest der Schlampen". Jeanne Moreau ist bis heute froh, als eine solche Geschichte gemacht zu haben und hält derzeitige Versuche feministischer Vereinigungen, das Wort Schlampe aus dem Namen des Manifestes zu tilgen, für "totalen Blödsinn".
Angesichts der neuen, subtilen Mutterkreuzideologie, die in Deutschland Einzug hält, scheint der Kampf um das Recht auf Abtreibung Lichtjahre zurück zu liegen. Umso mehr muss daran erinnert werden, dass die Freiheit, nicht Mutter werden zu wollen, so alt nicht ist. Tatsächlich wirkt es aus der französischen Ferne aus betrachtet, als stünden deutsche Frauen, die keine Mütter sind, keine sein können oder sein wollen, kurz vor der sozialen Ächtung in Deutschland. Als seien allein die Frauen für den Einbruch der Geburtenrate verantwortlich. Eine Schlampe, wer sich das Dilemma der arbeitenden Mutter ersparen will. Es ist an der Zeit, dass prominente deutsche Frauen gestehen: "Warum ich keine Rabenmutter sein will." Ihre Begründungen würden genug Material für die familienpolitischen Debatten liefern.
Fraglos riskieren sie damit heute weniger als die Frauen, die mit ihrem kollektiven Geständnis der Abtreibung an die Öffentlichkeit gingen. Abtreibung war damals ein Delikt in Frankreich, auf das bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe stand. Wenige Jahrzehnte zuvor riskierte eine Frau, die illegal abtrieb, die Todesstrafe: Während des Vichy-Regimes war eine so genannte Engelmacherin unter der Guillotine hingerichtet worden.
Zwei Monate nach der französischen Initiative folgte der Stern mit seiner Nachahmaktion: 374 deutsche Frauen bekannten sich ebenfalls zur Abtreibung. Alice Schwarzer, damals Korrespondentin in Paris und Initiatorin der Stern-Aktion, urteilte, dass es bereits wenige Jahre später nicht mehr nachvollziehbar war, was das Geständnis, abgetrieben zu haben, zu diesem Zeitpunkt wirklich bedeutet hatte: "Damals war es eine Ungeheuerlichkeit, die man selbst der besten Freundin nicht gestand."
In Frankreich, so urteilt wieder Schwarzer, hatte die kollektive Selbstbezichtigung der 343 Frauen eingeschlagen "wie eine Bombe". Im Jahr darauf folgte der legendäre Prozess von Bobigny gegen eine allein erziehende Mutter von drei Töchtern, die ihre älteste, minderjährige Tochter nach einer Vergewaltigung bei der Abtreibung unterstützt hatte. Die feministische Anwältin Gisèle Halimi übernahm die Verteidigung. Sie zitierte einige der prominenten Frauen, die das Manifest unterschrieben hatten, aber auch den Nobelpreisträger Jacques Monod in den Zeugenstand und hob auf die soziale Ungerechtigkeit ab: Gutsituierte Frauen konnten sich illegale Abtreibungen von Gynäkologen leisten; Frauen des Arbeitermilieus waren immer noch auf die Stricknadelmethode angewiesen.
Der Vorsitzende Richter warnte damals davor, einem Gesetz den Prozess machen zu wollen. Genau das aber hatte Halimi im Sinn. Und sie siegte auf voller Linie: Das minderjährige Mädchen ging straffrei aus, ihre Mutter wurde zu einer symbolischen Geldstrafe verurteilt. Zwei Jahre später, am 17. Januar 1975 wurde das nach der damaligen Gesundheitsministerin Simone Veil benannte Gesetz zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verabschiedet. In der DDR hatte man sich bereits 1972, in der alten Bundesrepublik 1974 zur Fristenlösung durchgerungen. Doch bis heute ist im Gegensatz zu Frankreich eine medikamentöse Abtreibung mit der RU 486 noch immer nicht möglich.
Die Ironie der Geschichte will, dass es ein Mann war, der sich die Initiative ausgedacht und den Ausruf zum zivilen Ungehorsam der Frauen zu verantworten hatte: Jean Moreau, Gewerkschaftsaktivist und Archivleiter des Nouvel Obs, war mit Sartre befreundet und hatte begriffen: Einen Voltaire verhaftet man nicht. Genau so wenig die Beauvoir.