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Genialer Text eines Kölners

Genialer Text eines Kölners

"And all of a sudden: we sang..."

Autor
Distel
FC-Fan
Köln-Lindenthal
>100 Beiträge
Erstellt am: 03 Mar 2004 : 15:25:43 Uhr
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Mitte der Neunziger hatte ich einen Kollegen namens Paul, dessen Firma Ihren
Sitz in Sittingbourne, Kent in England hatte. Ein unglaublich hässlicher
Flecken, aber genau zwischen Dover und London, und deshalb für einen
Spediteur keine schlechte Wahl. Da kommen alle Frächter irgendwann vorbei
und so eines Tages auch ich, auf der Suche nach einem Lagerhalter.

Im Laufe der Zeit kamen wir immer besser miteinander ins Geschäft, so dass
er mich eines Tages zum Essen einlud, als ich wieder mal zu Besuch war. Es
war ein netter Abend bei einem schlechten Italiener mit viel Chianti und
Lager. So erfuhr ich dann, dass er aus Ipswich stammte (was in etwa so
hässlich ist wie Sittingbourne, nur das Ipswich wenigstens am Meer liegt)
und ein eingefleischter Supporter von Ipswich Town war.

Das war natürlich ein toller Aufhänger, wir stellten fest, dass wir beide
1981 beim 0:1 in Müngersdorf waren. Er hatte seit Jahren eine Dauerkarte und
fuhr auch zu allen Londoner Matches der Blues. 1981 war sein erstes
Auswärtsspiel auf dem Kontinent ("My first European away game!"). Es hat
natürlich nicht lange gedauert, bis wir die vielen Parallelen unserer Klubs
beweint haben, die zahlreichen enttäuschten Hoffnungen und bitteren Pleiten.
Der FC stand mal wieder kurz vor dem Abstieg, Ipswich war gerade mal wieder
abgestiegen. Wir waren uns einig, dass unsere beiden Vereine auf absehbare
Zeit ein ähnliches Dasein fristen würden, wenn sich nichts Grundlegendes
ändere.

Und wie das so ist, in gemeinsamer bierseelig-melancholischer Verzweiflung
an einem Donnerstag Abend in einem hässlichen Loch von Industriestädtchen
vor den Toren Londons: man kriegt die richtig guten Geschichten erzählt.

Paul erzählte mir von den vielen verregneten Nachmittagen an der Portman
Road, dem grausamen Gebolze der diversen Söldnertruppen im Trikot seines
Klubs, der stummen aber auch zuweilen lauten Verzweiflung der Fans. Der
immer wieder kurz aufflackerrnden Hoffnung bei einem Sieg, der elenden
Ernüchterung bei der darauf folgenden Niederlage bzw. neuen
Niederlagenserie. Ich konnte ihm das alles mehr als gut nachfühlen. Wir
gingen von Bier auf Whisky über.

Irgendwann kam er auf ein Heimspiel gegen Charlton Athletic zu sprechen, bei
dem ihm zum ersten Mal deutlich wurde, warum und weshalb er sich das alles
eigentlich seit Jahren antut. Es war ein Spiel der Hinrunde, es war ein (wie
so häufig) verregneter September-Nachmittag und eine grottenschlechte erste
Halbzeit beider Teams. Demnach stand es zur Pause auch 0:0 und eigentlich
war auch keine wesentliche Besserung in Sicht. Die Stimmung war indifferent
trübe, weder in die eine noch die andere Richtung. Beide Teams hatten
Aufstiegshoffnungen, spielten aber einen fürchterlichen Kick and Rush.
Torchancen gab es so gut wie keine und wenn, dann waren es Zufallsprodukte.

Und dann kam, was kommen musste. Charlton ging nach der Pause wie aus dem
nichts mit 3:0 in Führung. Alle Hoffnungen waren am Boden. Dauerregen setzte
ein. Es war kalt. Ein gellendes Pfeifkonzert von der Haupttribüne setzte
ein. Es war der Moment, in dem man eigentlich nur das Stadion verlassen
möchte um in der nächstliegenden Kneipe in kurzer Abfolge soviel geistige
Getränke wie nur irgend möglich in sich hineinzuschütten.

Eine Weile passierte gar nichts mehr. Dann schoss Charlton das vierte Tor.
Und dann setzte etwas ein, was Paul beim Erzählen die Tränen in die Augen
trieb. Reihe um Reihe, Block um Block erhoben sich die Zuschauer und fingen
an zu singen.

"And all of a sudden, just out of nowhere, we sang. Everyone, on every seat,
there was just no exception. It was incredible, totally unexplainable and
overwhelmingly loud.".

Von der 60. Minute an bis zum Ende des Spiels sangen die Zuschauer in einer
todesverachtenden Endlosschleife immer wieder abwechselnd "The Pride of
Anglia" und "Ipswich Till I Die". Ohne jede Ausnahme und unter Missachtung
des Spielverlaufs und der erbärmlichen Leistung der eigenen Mannschaft. Das
führte soweit, dass der Spielführer von Charlton (die nicht unbedingt eine
innige Beziehung zu Ipswich Town pflegen) sich bei einem Eckball zu den
Ipswich-Fans umdrehte, einmal kurz salutierte und dann applaudierte. Worauf
die Gesänge noch lauter wurden und bis zum Schlusspfiff nicht nachließen.
Das Spiel ging 1:5 verloren, was aber niemanden mehr interessierte.

"Ich glaube, was uns allen in diesem Moment klar wurde, war, dass es hier
nicht mehr um die Unterstützung der Mannschaft ging. Es ging um uns und
unseren Verein. Wir hatten schon zu Beginn der Saison wenig Vertrauen in
das, was da nach dem Abstieg übrig geblieben war. Außerdem ging uns das
Management mit seiner Schönrederei selbst der beschissensten Spiele auf den
Geist. Klar - wir hatten die Hoffnung wieder aufzusteigen, wir wollten das
alle, aber wir sahen auch die Realität. Da stand ein Haufen
zusammengewürfelter Söldner auf dem Platz, die unsere Trikots spazieren
trugen und dabei waren, unsere Ehre zu stehlen. In dem Moment wollten wir
allen nur noch zeigen, wer wir sind: das Blut in den Adern des Vereins, den
wir lieben. Wir wollten klar machen: WIR sind Ipswich Town und ihr Würstchen
könnt uns mit eurer Leistungsverweigerung nicht demütigen. Wir werden noch
hier sein und unseren Mann stehen, wenn ihr längst in irgend einer Kneipe
eurer verpassten Karriere hinterher weint. Deshalb stand vermutlich auch das
ganze Stadion auf und machte mit, nicht nur die Hartgesottenen hinter dem
Tor. Das war der totale Zusammenhalt, die vollständige Identifikation und
Hingabe. WIR wussten: das ist es wert, deshalb machen wir das und Ipswich
Town wird niemals sterben, selbst wenn diese kleinen *A A*er da unten so
tun, als wären sie schon tot.".

Wir saßen noch eine ganze Weile zusammen und gaben uns dieser herrlichen
Mischung aus Stolz, Melancholie und Verzweiflung über unser Fan-Schicksal
hin. Erst als der Maitre anfing, die Stühle auf die Tische zu stellen,
brachen wir auf. Ich brach dann auf dem Weg ins Hotel auch noch einmal
kräftig in die Büsche. Am nächsten Tag war ich noch bis Mittags betrunken
und danach setzte dann einer der fürchterlichsten Kater ein, an die ich mich
erinnern kann. Aber es war die Sache wert. An diesem Abend habe ich einen
echten Leidensgenossen erlebt, auf dem Höhepunkt seiner Leidenschaft und
Erzählkunst.

"We knew, we had nothing in common with those little ****-heads on the pitch
or in management. We were past caring what they said or how bad or well they
played. We simply wanted to show our dedication, our uncompromising support
for the club and that our story would never end. We wore our colours with a
pride they would never live up to."

Das ist jetzt sieben oder acht Jahre her. Zu Paul habe ich leider keinen
Kontakt mehr, erst habe ich die Firma gewechselt, dann er und inzwischen
haben wir uns aus den Augen verloren. Wie es manchmal halt so geht im Leben.
Und ehrlich gesagt, habe ich eine ganze Weile nicht mehr an diesen
bemerkenswerten Abend gedacht.

Bis letzten Samstag, so ungefähr gegen 16.15 Uhr. Als in Müngersdorf die
Leute in Scharen zur Halbzeit das Stadion verließen. Da habe ich mir
gewünscht, es wäre ein kalter, verregneter Nachmittag an der Portman Road in
Ipswich.

Distel

Re: Genialer Text eines Kölners

Du hast aber viel Zeit



 Re: Genialer Text eines Kölners

Stimme Winnfield zu. Wirklich schöner Text, dabei muss man nicht mal Fussballfan sein.

Ines