Im Dunkelreich, eine Story aus ROLEPLAY
Im Dunkelreich
Hinter den kleinen Hügeln am nordöstlichen Rand von Rauchbucht erstreckten sich vulkanische Solfatarenfelder, die gelben schwefeligen Gestank von sich gaben. Hierher verirrte sich kein Vogel, kein Tier, selten ein Mensch, wenn er auf der Flucht war. Der Ort war verflucht, seit jeher der Raum der dunklen Mächte. Ausgehöhlt von unzähligen Eruptionen, die das Wasser erzeugte, wenn es die glühende Magma dicht unter der Erde zur Explosion brachte, war der Bereich von Einkerbungen und Kratern übersät. Der Boden war unfruchtbar und ohne Bewuchs, von Höhlen untergraben, ideal für jemanden, der auf der Flucht ist vor der Helligkeit der Welt, vor den Blicken derer, die das Dunkle fürchten.
Dsir war dankbar, dass ihr niemand in diese Regionen folgte, dass sie hier ihre Ruhe und Besinnung finden konnte, grübeln konnte über eine Aufgabe, für die sie geschaffen worden war, und deren Sinn sie vergessen hatte. Die Zeit der überlangen nordischen Tage wich zu ihrem Glück einer ebenso langen Zeit der Finsternis. Hier, in der einsamen Dunkelheit, hatte sie zum ersten Mal versucht, dem verräterischen roten Glühen des Amuletts zu entkommen und sich der Entdeckung durch die Kameraden zu entziehen. Eine Tat, die sie lange herausgezögert hatte, aus Angst, das Amulett könnte seinen Dienst versagen, wenn sie es im Angesicht der gnadenlos glühenden Scheibe wieder benötigte. Aber hier, im Schatten des Erdinneren, hatte eine andere Kraft ihre Ängste überwunden, hatte sich Dsir getraut, sich zuerst kurz und in den Tagen und Wochen danach, immer länger von dem Spion ihrer Gefühle zu trennen. Nun war sie es schon gewohnt, das Amulett am späten Nachmittag abzulegen, wenn für die meisten bereits Dunkelheit herrschte. Hier, im lebensfeindlichen Vulkanischen Raum hatte sich eine ihr ungewohnte, doch normale Sichtweise ihrer Rasse bemerkbar gemacht, die Fähigkeit der Infravision, nämlich, im Dunkeln die Wärmemuster der Umgebung zu erkennen. Auch wenn dies eine angeborene Fähigkeit der Dunkelelfen ist, war doch zu viel Angst aus der Zeit der anderen Welt geblieben, um sich rückhaltlos darauf zu verlassen.
Am Anfang der Ausflüge in diese Gegend war gar nicht daran zu denken gewesen, die verlockenden, dunklen Höhlen aufzusuchen. Fackeln waren teuer, und sicher wäre es auffällig, wenn jemand sich mit riesigen Mengen dieser Fackeln ständig an verfluchte Orte begab. So musste alles in langwieriger Heimlichkeit geschehen. Doch der Drang wurde umso stärker, je länger die Zeiten wurden, in denen sich Dsir von ihrem Amulett trennte. Kribbeln war in allen ihren Gliedern, als sie sich, ihres besonderen Sehvermögens bewusst, zum ersten Mal in eine der kleineren Höhlen vorgewagt hatte. Ein Gefühl der Wiedergeburt bemächtigte, sich ihrer, als sie in die warme, vor Schwefel stinkenden Grube eintauchte, und mit sicheren Schritten den gesamten Bereich erkundete. Nicht, dass irgendetwas von Bedeutung zu finden war, einzig die Tatsache, ihrer freien, ungeknebelten Tat, war eine Art Wiedergutmachung für die erlittene Schmach. Sicher hatten sich die anderen an sie gewöhnt, vielleicht auch nur mit ihr abgefunden, weil keiner kaltblütig genug war, sie einfach umzubringen, wie es in vielen Kampagnen wohl unausweichlich gewesen wäre, wenn die Drow nicht schon zu mächtig geworden war. Doch das konnte jederzeit kommen. Es war nicht zu übersehen, wie sich die Kameraden den rauen Sitten ihrer Umgebung anpassten, zunehmend skrupelloser wurden und eintauchten in das natürliche Verhalten ihrer neuen Identitäten. Warum sollte nicht auch sie zu dem werden dürfen, was sie war, ohne ständige Todesangst und den Rechtfertigungen, die das zu häufige Leuchten des Amuletts ständig von ihr verlangten. Noch zu schwach, musste sie lange genug buckeln und sich einschleimen, entgegen ihrer Natur. Eines Tages würde sie sich rächen, würde Vergeltung üben an diesem lichtsüchtigen Gesindel. Und hier unten, wo sie niemand sah, sie aber jeden sehen konnte, der sich ihr näherte, wuchs ihr Selbstvertrauen, kam die Kraft, die ihr das Lösen von der Nabelschnur der ständigen Gängelei erlaubte.
Schon oft war Dsir nun in unbekannte Höhlen gekrochen, ständig auf der Suche nach etwas Gleichgesonnenem, als sich ihr eines Tages in einer der großen unerschlossenen Höhlen das übernatürliche, klare und laute Klingen einer Glocke in ihrem Gehirn festsetzte, zum quälenden Klang wurde und sie über Minuten fast zum Wahnsinn getrieben hatte. Wie lange sie nach dieser Attacke bewusstlos war, wusste Dsir nicht. Anscheinend war sie weit in die unbekannte Höhle hineingerannt, ohne sich wie gewohnt den Weg einzuprägen. So lag sie nun da, wer weiß wie weit vorgedrungen in das vulkanischen Innere einer riesigen Halle, gestrauchelt, kurz vor einem steilen Abhang. Die Wärme im unteren Bereich ließ die Hallen in ihren Augen in gleißender Helligkeit erleuchten. Was auch immer dieses Klingen in ihrem Kopf erzeugt hatte, sicher war sie, dass es kein natürliches, über die Ohren wahrzunehmendes Geräusch gewesen war. Es war verklungen. Und sie musste zurück, durfte nicht zu lange wegbleiben, um den Neidern an der Oberfläche keinen Ansatz für weitere Quälereien zu geben. Einst waren sie Freunde, irgendwann in immer mehr verschwindender Erinnerung. Doch nun? Leben und leben lassen, die kleinste Gemeinsamkeit, auf die man sich einigen konnte.
Dsir war wenigstens nicht ernstlich verletzt. Sie raffte sich auf, klettert ein paar Geröllstufen hinauf, knapp sieben Schritte vor einem Gang, der aufwärts führte. Doch dann die Schrecksekunde: wo war das Amulett? Nicht dass sie es geliebt hätte, aber ohne das Ding hätte sie nicht überleben können, zumindest jetzt noch nicht. Wann war das Ding verlorengegangen? Schon auf dem Weg hierher, oder dort, wo sie wieder erwacht war aus dem quälenden Alptraum? Was soll´s, zuerst musste sie an dem Ort mit der Suche beginnen, wo sie gestrauchelt war. Also zurück! Die wenigen Schritte waren schnell geschafft, aber nichts war zu sehen. In speziellem unnatürlichen Licht hatte das Amulett in der Dunkelheit der Höhlen immer gestrahlt, fast rosa. Hässlich genug für Dsir, dass sie dieses Leuchten nie vergaß. Doch hier war nichts von Rosa, hier war überhaupt nichts außer dem steilen Abgrund. Bei ihrem Glück lag das Ding sicherlich unerreichbar dort unten! Natürlich, als sie vorsichtig über den Rand schaute, lag knapp dreißig Schritte tiefer das verfluchte Ding. Leichtes rosa Leuchten über einer weißen Wärmestrahlung, die weiter unten fast blendend für empfindsame Infravisionisten war. Doch ohne das schimmernde Ding konnte Dsir nicht zurück, soviel war sicher.
Also trat sie an den Abhang und kämpfte sich Schritt für Schritt abwärts. Zuerst griffen Hände und Füße noch in lockeres Material wie porösem Tuffstein. Der gab immer öfter nach, bröckelte ab und verschwand nach mehrmaligen hallenden Aufschlagen in der weißen Hitze. Weiter unten schien das Gestein härter zu werden, wurde ersetzt durch fast glasartige Zacken und spiegelglatte Wände aus Obsidian. Dsirs Finger waren bereits blutig zerfurcht und auch das Gesicht hatte einige Schrammen durch das scharfkantige Gestein erfahren. Ein leichter Überhang war unmöglich zu überwinden, und es fehlten noch gut acht Schritte bis zum schmalen Sims, auf dem das Amulett verführerisch leuchtete. In dieser anstrengenden Position war es ohne Hilfsmittel praktisch nicht möglich, längere Zeit auszuruhen. Etwas weiter rechts war ein kleiner Vorsprung, den konnte sie erreichen. Doch die Angst schlich über ihren Nacken, zu sehr war sie noch Mensch, zu wenig Drow, um sich dagegen wehren zu können. Ein großer Ausfallschritt und Dsir hatte mit dem rechten Bein Halt gefasst, stand aber so sehr im Spagat, dass die Position unhaltbar schien. Also weiter! Schweiß brannte in den offenen Schrammen an der Wange, die rechte Hand begann unaufhaltsam zu zittern. Nur noch dieses Stück, nur noch die paar Schritte, doch dann brach die morsche Felsnase ab. Kurze Panik, ein heißer Schwall von Adrenalin rauschte in Dsirs Bauch, sie rutschte ab und fiel. Den Schrei hatte sie nicht unter Kontrolle. Auf halbem Wege zum Amulett stoppte ein brennender Schmerz im rechten Arm den Fall. Steine krachten nach unten, losgelöst vom Aufprall nach dem kurzen Sturz. Das pure Entsetzen sprang Dsir an wie eine Bestie, ließ ihren Atem stocken, als einer der Steine - nur wenig weiter unten - das Objekt ihrer Mühsal mit in die Tiefe riss.
Alles vergeblich. Nun erst bemerkte Dsir die warme Flüssigkeit, die ihr über die rechte Achselhöhle in ihr Untergewand lief, stellte quälend langsam fest, dass sie scheinbar nur der Schmerz im rechten Arm an dieser Felswand festhielt, ohne dass ihre Muskeln irgend etwas dazu taten. Dsir richtete ihren Kopf auf, bewegte ihr zerschlagenes Gesicht über die Felswand weg von der Tiefe, um an ihrer rechten Schulter entlang nach oben zu schauen, zum Zentrum ihrer Schmerzen. Infravisionen zeigten ihr, was sie befürchtet hatte: ihr rechter Unterarm war von einer scharfkantigen Felsnadel vom Ellenbogen bis zum Handgelenk aufgerissen, die beiden Enden der gebrochenen Speiche standen leuchtend aus dem offenen Bruch. Der scharfe Felsdorn aus Obsidian, der ihren Arm aufgeschlitzt hatte, schaute eine Spanne unter ihren Handwurzelknochen heraus, hielt ihren Körper wie angenagelt in leichtem Pendeln an dieser Wand aus schierem Glas. Zur Panik und den unvorstellbaren Schmerzen kam nun noch das Gefühl des Grauens hinzu. Dsir fühlte es, das Andere, das Dunkle um sich herum. Es kam herauf aus der Tiefe, die ihr Amulett verschlungen hatte. „Hilf mir, was immer du auch bist!“ Ihr letzter Aufschrei ging in Agonie unter, Schwärze senkte sich über ihr Bewusstsein.
Als Dsir nach unbestimmter Zeit erwachte, gingen ihre ersten Gedanken zu ihrem schmerzenden Arm. Doch die Schmerzen hatten nachgelassen. Schwer pochte das Blut auf neuen ungewohnten Bahnen, doch ihre Infravisionen war dunkler Schwärze gewichen. Heftige Stärke durchflutete sie, Befriedigung allenthalben bei der Berührung mit dem Dunklen. Gestaltlos hing diese Macht vor ihr, unter ihr, ja sie schien in ihr. „Folge meinen Befehlen genau, sonst wird das dein Tod. Halte unsere Absichten geheim, bis dass der Tag gekommen ist, und du wirst einen Platz an unserer Seite erhalten, sitzend an der Seite der Sieger. Denn müssen wir vollenden, was Ragnarök heißt. Des Verfluchten Klang hat uns gezeugt von dem Unaussprechlichen, Unberührbaren aus einer anderen Welt, das nicht hier sein darf. Ihr Jauchzen wird den Weg weisen. Erwecke kein Aufsehen, denn du hast einen Auftrag zu erfüllen. Gefährde dies nie durch unachtsame Dinge, denn du darfst das Ziel nicht gefährden. Nutze die angeborenen Fähigkeiten deiner Rasse, einer Rasse, der einst auch ich entsprungen bin. Stelle keine Fragen, doch berichte in deinen Gebeten über die Dinge, die uns vielleicht verborgen werden könnten. Fürchte dich nicht vor den Lichtsüchtigen, denn ich will dir Schutz und Waffe geben.“ Ein leichtes Rumoren und die Klärung ihres Gesichtskreises begleiteten das Entfernen des Schattens.
Dsir kam auf dem kleinen Felsvorsprung vollends zur Besinnung. Vor ihren ungläubigen Augen bewegte sich ihre rechte Hand an einem scheinbar unversehrten Arm. Dsir spürte die Macht und das beruhigende Gefühl ihres Amuletts auf der Brust. Die linke Hand verbarg die Sonne. Beim Betasten des Amulettes stellte sich höchste Freude bei ihr ein, und zuerst bemerkte sie die feine Struktur des Metalls unter dem groben Stoff ihres Überwurfes nicht. Ein Kettengewebe, zart und fein, eine Arbeit, die ein Vermögen wert sein musste. Dort, wo ihr rostiger Säbel hing erweckte ein Funkeln ihre Aufmerksamkeit. Als Dsir die Klinge aus der Scheide zog war zuerst nur der Griff für sie zu sehen. Die Klinge war kalt, schwarz und wie aus Glas, nur zu erkennen, weil sie die Wärmemuster ihrer Beine wie ein Schatten verdeckte, Schattenklinge!