Erzieher und Eltern Forum - junge Menschen

Anlage und Umwelt - ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung

Anlage und Umwelt - ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung

Anlage und Umwelt - ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung

von Gerhard Büttner


Eltern und pädagogisches Personal in vorschulischen und schulischen Einrichtungen stehen vor der gemeinsamen Aufgabe, Kinder zu fördern und zu erziehen. Nicht immer gelingt es ihnen, angestrebte Entwicklungs- und Erziehungsziele optimal zu erreichen. So kann es z. B. vorkommen, dass ein Schulabschluss verfehlt wird, dass sich ein Kind aggressiver verhält als gewünscht oder dass ein Kind allgemein in seiner Entwicklung langsamer voranschreitet als seine Alterskameraden. Besorgte Eltern und Pädagogen stellen sich in solchen Fällen bisweilen die Frage, ob sie etwas falsch gemacht haben, ob sie das Kind zu wenig unterstützt und gefördert haben oder ob nicht vielleicht doch die Entwicklung des Kindes in erster Linie durch Faktoren bedingt war, die im Kind selbst lagen und auf die sie keinen unmittelbaren Einfluss hatten. Fragen dieser Art spiegeln die Problematik von Anlage und Umwelt wider. Sie werden in allgemeinerer Form auch in der wissenschaftlichen Forschung gestellt.



Was ist mit den Begriffen Anlage und Umwelt gemeint?
Der Begriff Anlage (im Englischen nature) bezieht sich auf die genetischen Erbinformationen, die in den Chromosomen enthalten sind. Sie werden im Zeugungsakt von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben. Die genetische Ausstattung eines Menschen verändert sich während seines gesamten Lebens nicht. Allerdings werden verschiedene Gene zu unterschiedlichen Zeitpunkten aktiv und beeinflussen mit ihrer Aktivität die weitere Entwicklung des Menschen.

Die genetische Ähnlichkeit variiert zwischen den Menschen. Eineiige Zwillinge stimmen in ihrem genetischen Erbgut zu 100 Prozent überein. Wenn sich eineiige Zwillinge (z. B. in ihrer Intelligenz oder in ihrem Temperament) unterschiedlich entwickeln, werden nicht genetische Einflüsse, sondern unterschiedliche Umwelterfahrungen dafür verantwortlich gemacht. Zweieiige Zwillinge sowie sonstige leibliche Geschwister weisen eine durchschnittliche genetische Übereinstimmung von 50 Prozent auf. Entwicklungsunterschiede lassen sich hier sowohl auf Unterschiede im Erbgut als auch auf unterschiedliche Umwelterfahrungen zurückführen.

Mit dem Begriff Umwelt (im Englischen nurture) wird die materielle und die soziale Umgebung eines Menschen umschrieben.
Zur materiellen Umgebung zählen u.a. physikalisch-chemische Einflüsse (z. B. Umweltstoffe, globale Luftverschmutzung), Qualität des Wohnraumes (Größe, Lage), Verfügbarkeit von Ressourcen (Bücher, neue Medien) oder auch die Qualität der Wohngegend (Bildungsstätten, Freizeitmöglichkeiten).


Die soziale Umgebung umfasst im weitesten Sinne Einwirkungen durch andere Menschen. Hierzu zählen u.a. Lernangebote und Erziehungseinflüsse (in der Familie, im Kindergarten, in der Schule), Beziehungen zwischen Eltern und Kind, Kontakte zwischen Kind und anderen Kindern (Häufigkeit, Dauer und emotionale Qualität der Kontakte) oder auch Erwartungen von Gleichaltrigen in der sogenannten peer group.
Umwelteinflüsse lassen sich noch danach differenzieren, ob sie von Geschwistern geteilt werden (z. B. soziale Schicht, Familienstruktur, familiärer Status, Familienklima) oder ob sie individuelle Erfahrungen darstellen (z. B. Schwangerschaftsverlauf, Geschwisterposition, unterschiedliches elterliches Verhalten gegenüber den Kindern, persönliche Freunde, Erfahrungen in der Kindergartengruppe oder in der Schulklasse). Die Unterscheidung in geteilte und nicht-geteilte Umwelteinflüsse hat sich als sehr fruchtbar erwiesen. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung ist in jüngerer Zeit deutlich geworden, dass nicht-geteilte Erfahrungen wie z. B. das von der Persönlichkeit der Kinder abhängige elterliche Verhalten gegenüber Geschwistern für die Entwicklung von Unterschieden zwischen Kindern bedeutsamer sind als geteilte Umwelterfahrungen wie z. B. das allgemeine Familienklima (Dunn & Plomin, 1996). Unterschiede innerhalb einer Familie haben sich damit für die Entwicklung von Merkmalsunterschieden als wichtiger erwiesen als Unterschiede zwischen Familien.



Anlage und Umwelt in der kindlichen Entwicklung - Welche Aussagen sind möglich?
Wie wirken Anlage und Umwelt zusammen?
In der wissenschaftlichen Forschung ist unbestritten, dass bei der Ausgestaltung aller menschlichen Merkmale (z. B. bei der Entwicklung der Intelligenz, der Sprache, der schulischen Leistungen, des Sozialverhaltens, des Temperaments oder der emotionalen Stabilität) sowohl Anlage als auch Umwelt als Einflussfaktoren beteiligt sind. Die Frage liegt nahe, wie die genetische Ausstattung und Umwelteinflüsse bei der kindlichen Entwicklung zusammenwirken, wenn ein Kind z. B. hochbegabt oder ausgesprochen temperamentvoll ist.

Aussagen zu dieser Fragestellung sind bisher nur begrenzt möglich, weil nur unzureichend bekannt ist, welche Gene in welcher Kombination für welches Persönlichkeitsmerkmal verantwortlich sind. Durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind erst in Zukunft präzisere Erkenntnisse über die Art und Weise zu erwarten, in der spezifische genetische Ausstattungen mit spezifischen Umwelten zusammenwirken und welche Chancen und Risiken mit verschiedenen Kombinationen von genetischer Ausstattung und Umwelt verbunden sind (Dick & Rose, 2002).


In welchem Ausmaß bestimmen Anlage und Umwelt die Entwicklung eines Kindes?
Häufig wird auch die Frage gestellt, wie stark Anlage und Umwelt zur Ausprägung eines Merkmals bei einem einzelnen Menschen beigetragen haben, ob z. B. auffälliges aggressives Verhalten eines Kindes stärker auf seine Erbanlagen oder stärker auf ungünstige Erziehungseinflüsse zurückgeführt werden kann. Es ist wichtig zu wissen, dass eine solche Frage prinzipiell nicht beantwortet werden kann, weil sich eine individuelle Merkmalsausprägung immer aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt ergibt, deren Beiträge zu dem Endprodukt nicht quantifiziert werden können (Klauer, 2001).

Ein Beispiel aus der Geometrie soll helfen, dies zu verdeutlichen. Die Fläche eines Vierecks ergibt sich als Resultat aus Höhe mal Breite. Die Frage, ob die Fläche mehr auf die Höhe oder mehr auf die Breite zurückgeführt werden kann, macht keinen Sinn. Beide Größen, sowohl Höhe als auch Breite, tragen gleichermaßen zur endgültigen Fläche des Vierecks bei. Ähnlich verhält es sich mit Anlage und Umwelt: Zur Ausprägung eines Merkmals bei einem einzelnen Menschen tragen Anlage und Umwelt immer gleichermaßen bei. Es macht deshalb auch hier keinen Sinn, unterschiedliche Anteile von Anlage und Umwelt beim Zustandekommen einer Merkmalsausprägung bestimmen zu wollen. Die Anteile lassen sich bei einem einzelnen Menschen prinzipiell nicht quantifizieren.


In welchem Ausmaß bestimmen Anlage und Umwelt die Entwicklung von Unterschieden zwischen Kindern?
Wenn von Einflüssen der Erbanlage und der Umwelt auf die kindliche Entwicklung die Rede ist, dann ist immer die Frage gemeint, zu welchen Anteilen vorfindbare Unterschiede zwischen Kindern (z. B. in der Ausprägung des Temperaments) durch Unterschiede in der genetischen Ausstattung und durch Unterschiede in Umwelterfahrungen bedingt sind. Bei unterschiedlichen Merkmalsausprägungen mehrerer Kinder macht es durchaus Sinn, nach den verschiedenen Anteilen von Anlage und Umwelt am Zustandekommen dieser Unterschiede zu fragen. Unser Beispiel aus der Geometrie soll wiederum helfen, diesen Sachverhalt zu verdeutlichen.

Ein Viereck von 1 cm Höhe und 4 cm Breite hat eine Fläche von 4 cm2. Eine Zunahme der Höhe um 1 cm führt zu einer Vergrößerung der Fläche auf 8 cm2, während eine Zunahme der Breite um 1 cm die Fläche lediglich auf 5 cm2 anwachsen lässt. Nehmen nun sowohl Höhe als auch Breite des Vierecks um jeweils 1 cm zu, ergibt sich eine Fläche von 10 cm2. Der Flächenunterschied zwischen dem ursprünglichen Viereck (4 cm2) und dem endgültigen Viereck (10 cm2) lässt sich in unserem Beispiel also stärker auf den Unterschied in der Höhe als auf den Unterschied in der Breite der beiden Vierecke zurückführen.

In ähnlicher Weise ist es auch möglich, Unterschiede in der Ausprägung eines Persönlichkeitsmerkmals (wie z. B. der Intelligenz) darauf hin zu analysieren, ob sie stärker durch genetische Einflüsse von seiten der Eltern oder stärker durch Umwelteinflüsse (wie z.B. dem intellektuellen Anregungsgehalt der außerfamiliären Umwelt) bedingt sind.

Das Ausmaß, in dem Unterschiede in einem Persönlichkeitsmerkmal auf genetische Einflüsse zurückgeführt werden können, wird als Erblichkeit des Merkmals bezeichnet. Wenn sämtliche Unterschiede durch genetische Einflüsse bedingt sind, beträgt die Erblichkeit 100 Prozent. Und umgekehrt: Wenn sämtliche Unterschiede in einem Persönlichkeitsmerkmal auf Umwelteinflüsse zurückgeführt werden können, beträgt die Erblichkeit des Merkmals null Prozent. Das Ausmaß der Erblichkeit hängt also davon ab, wie groß die genetischen Unterschiede der Menschen sind, die untersucht werden und wie groß die Unterschiede der Umwelten sind, in denen die Menschen leben.


Aussagen über die Bedeutung von Anlage und Umwelt - Grenzen der Verallgemeinerbarkeit
Eine wichtige Schlussfolgerung der vorausgegangenen Erläuterungen ist darin zu sehen, dass Aussagen über die Erblichkeit von Persönlichkeitsmerkmalen nur dann gewonnen werden können, wenn mehrere Menschen und deren Umwelt(en) miteinander verglichen werden. In der Fachsprache wird davon gesprochen, dass Aussagen über die Erblichkeit populationsabhängig sind. Sie gelten streng genommen nur für die untersuchte Gruppe von Menschen (Population) und nur für den Zeitraum, in dem die Untersuchung stattgefunden hat.



Entwicklung von Unterschieden zwischen Kindern - Dominiert der Einfluss der Anlage oder dominiert der Einfluss der Umwelt?
Bisweilen wird die Frage, wodurch Eigenschafts- und Fähigkeitsunterschiede zwischen Kindern bedingt sind, zu der Frage verkürzt, durch welche Einflussfaktoren die kindliche Entwicklung in erster Linie gesteuert wird. Die Frage lautet dann: Dominieren bei der kindlichen Entwicklung die Einflüsse des genetischen Erbes oder dominieren die Einflüsse der Umwelt?


Unterschiedliche Antworten von Anlage- und Umwelttheorie
In der Vergangenheit wurden auf diese Frage unterschiedliche Antworten gegeben. Zum einen wurde die Auffassung vertreten, dass in erster Linie das genetische Erbe die kindliche Entwicklung determiniert. Daneben gab es aber auch die gegenteilige Position, in der davon ausgegangen wurde, dass die Umwelt der entscheidende Einflussfaktor ist. Mit beiden Extrempositionen waren weitreichende bildungspolitische und pädagogische Schlussfolgerungen verbunden (Quitzow, 1990). Wenn ohnehin das genetische Erbe dominiert, so lautete ein Argument der Anlagetheoretiker, dann lohnen sich kostspielige bildungspolitische Programme zur Beseitigung materieller, sozialer und intellektueller Ungleichheit nicht, da durch solche Maßnahmen die bestehenden Unterschiede zwischen Individuen oder Bevölkerungsgruppen nicht nachhaltig beeinflusst werden können (Jensen, 1973; Herrnstein & Murray, 1994). Und umgekehrt aus der Perspektive von Milieutheoretikern: Wenn die Umweltbedingungen der entscheidende Faktor bei der kindlichen Entwicklung sind, dann muss darauf hingearbeitet werden, durch bildungspolitische und pädagogische Maßnahmen die Umweltbedingungen so zu gestalten, dass vorhandene Ungleichheiten egalisiert werden.

Beide Extrempositionen und die daraus abgeleiteten politischen oder pädagogischen Schlussfolgerungen sind mit dem derzeitigen Wissensstand nicht zu vereinbaren. Gründe dafür werden nachfolgend erläutert.


Die Bedeutung von Anlage und Umwelt ist je nach Persönlichkeitsmerkmal unterschiedlich.
Eine generelle Aussage darüber, ob Unterschiede zwischen Kindern stärker durch genetische Faktoren oder stärker durch Umweltfaktoren bedingt sind, ist nicht möglich, weil die Bedeutung von Anlage und Umwelt beim Zustandekommen von Merkmalsunterschieden je nach Eigenschaft oder Fähigkeit verschieden groß sein kann. So lassen sich z. B. Intelligenzunterschiede einerseits und Leistungsunterschiede in Schulfächern andererseits in unterschiedlichem Ausmaß auf genetische Einflussfaktoren zurückführen (Teasdale & Owen, 1984 ). Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass Schulleistungen durch Faktoren wie Bildungsorientierung oder allgemeine Einstellungen gegenüber schulischen Anforderungen beeinflusst sind, die bei Intelligenztestleistungen eine geringere Rolle spielen. Es ist also bei jedem Persönlichkeitsmerkmal gesondert zu fragen, ob in stärkerem Maße genetische Einflüsse oder Umwelterfahrungen zur Entwicklung von Persönlichkeitsunterschieden beitragen.


Die Bedeutung von Anlage und Umwelt ist je nach Beschaffenheit der Umwelt unterschiedlich.
Eine generelle Aussage darüber, ob Unterschiede zwischen Kindern stärker durch genetische Faktoren oder stärker durch Umweltfaktoren bedingt sind, ist auch deshalb nicht möglich, weil die Bedeutung von Anlage und Umwelt beim Zustandekommen von Merkmalsunterschieden von der Homogenität der Umwelt abhängig ist (Plomin, DeFries, McClearn & Rutter, 1999). Wenn es z. B. gelänge, die Umwelteinflüsse so zu vereinheitlichen, dass alle relevanten Umweltunterschiede eliminiert wären und jedes Kind optimal gefördert werden könnte, dann wären alle Fähigkeitsunterschiede, die trotzdem noch zwischen den Kindern vorhanden wären, genetisch bedingt. Die Umwelt hätte für das Zustandekommen der Unterschiede zwischen den Kindern keine Bedeutung mehr. Von dieser Utopie sind wir weit entfernt. Dennoch macht dieses Gedankenexperiment deutlich, dass sich Aussagen über die Bedeutung von Anlage und Umwelt immer nur auf eine spezifische gesellschaftlich-kulturelle Situation beziehen und nicht beliebig verallgemeinert werden können (Ceci, 1993).


Die Bedeutung von Anlage und Umwelt ist je nach Alter unterschiedlich.
Die Bedeutung von Anlage und Umwelt variiert auch mit dem Alter der Personen. Dies hat zum einen damit zu tun, dass bestimmte Gene nur zu bestimmten Zeitpunkten aktiv sind. Darüber hinaus hat sich in den letzten Jahren z. B. bei der Intelligenz herausgestellt, dass der genetische Einfluss mit wachsendem Lebensalter zunimmt (Asendorpf, 1998). Dies zeigt sich daran, dass Intelligenzunterschiede zwischen eineiigen Zwillingen kleiner werden, je älter die Kinder werden, während bei zweieiigen Zwillingen (deren Erbgut nicht zu 100 Prozent, sondern im Durchschnitt nur zu 50 Prozent übereinstimmt) die Intelligenzunterschiede mit zunehmendem Alter größer werden. In die gleiche Richtung deuten Befunde, die an Adoptivkindern gewonnen wurden: Adoptiveltern und ihre Adoptivkinder werden in ihrer Intelligenz mit wachsendem Alter der Kinder unähnlicher, während die Ähnlichkeit der Adoptivkinder mit ihren leiblichen Eltern zunimmt, obwohl sie mit ihnen nicht in Kontakt stehen. Die Befunde werden damit erklärt, dass Kinder und Jugendliche mit wachsendem Lebensalter außerhalb ihrer Familie verstärkt solche Umwelten aufsuchen oder überhaupt erst aktiv herstellen, die ihren Fähigkeiten entsprechen, z. B. indem sie sich darum bemühen, Freunde auszusuchen, die vom intellektuellen Niveau her zu ihnen passen (Dick & Rose, 2002), indem sie in der Schule Wahlfächer belegen, die ihren Neigungen entsprechen oder indem sie sich in der Freizeit mit Dingen beschäftigen, die ihrem Begabungspotential angemessen sind.


Fragwürdigkeit der Schlussfolgerungen über die Veränderbarkeit von Persönlichkeitsmerkmalen durch pädagogische und bildungspolitische Maßnahmen
Aus der Bedeutung, die Anlage und Umwelt beim Zustandekommen von Persönlichkeitsunterschieden bei einem bestimmten Persönlichkeitsmerkmal haben, lassen sich keine unmittelbaren pädagogischen und bildungspolitischen Schlussfolgerungen ableiten. Wenn z. B. Intelligenzunterschiede zu 100 Prozent durch Unterschiede in der genetischen Ausstattung bedingt sind, bedeutet dies nur, dass alle Personen durch ihre Umwelterfahrungen optimal gefördert worden sind und dass es in den Umwelterfahrungen keine bedeutsamen Unterschiede mehr gibt, die zu den noch vorhandenen Unterschieden in der Intelligenz beigetragen haben könnten. Es bedeutet aber nicht, dass die Umwelteinflüsse bei der Ausgestaltung der Intelligenz generell bedeutungslos sind und dass deshalb auf pädagogische Fördermaßnahmen verzichtet werden könnte.

Unangemessen sind pessimistische pädagogische Schlussfolgerungen auch, wenn sie auf der Annahme beruhen, "genetisch bedingt" sei gleich bedeutend mit "nicht veränderbar". Diese Annahme ist ein Missverständnis. So gibt es z. B. Stoffwechselkrankheiten wie die Phenylketonurie, die durch Gendefekte bedingt sind und die zu schweren körperlichen und geistigen Schädigungen führen können. Durch geeignete Umweltmaßnahmen (Einnahme von Medikamenten, strenge Diät) lassen sich die Auswirkungen der Stoffwechselkrankheiten jedoch vermindern oder gar verhindern. Die genetische Ausstattung legt somit die gesundheitliche Entwicklung des Menschen nicht deterministisch fest. Ähnliches trifft auch auf die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen (wie z. B. die Intelligenzausstattung) zu. Sie sind (auch dann, wenn sie genetisch beeinflusst sind) in ihrer Entwicklung nicht vollständig determiniert, sondern können durch geeignete pädagogische Fördermaßnahmen verändert werden.

Die Veränderbarkeit von Persönlichkeitsmerkmalen hat allerdings ihre Grenzen. Die genetische Ausstattung legt eine Bandbreite des Entwicklungsspielraumes fest, die nicht beliebig überschritten werden kann. Dies zeigt sich unter anderem an der relativ hohen Stabilität von Persönlichkeitsmerkmalen. Mit Stabilität ist gemeint, dass Kinder, die in einem Persönlichkeitsmerkmal eine unterdurchschnittliche, durchschnittliche oder überdurchschnittliche Ausprägung aufweisen, auch einige Zeit später mit hoher Wahrscheinlichkeit unterdurchschnittliche, durchschnittliche oder überdurchschnittliche Merkmalsausprägungen haben. Hohe Stabilitäten über einen Zeitraum von mehreren Jahren sind z. B. in den Bereichen Intelligenz, Aggressivität und Temperament belegt. Die Grenzen des Entwicklungsspielraumes, die durch die genetische Ausstattung festgelegt sind, haben zur Konsequenz, dass Ungleichheiten zwischen Menschen durch bildungspolitische und pädagogische Maßnahmen nicht vollständig egalisiert werden können. So können noch so vielfältige Fördermaßnahmen letztlich nicht bewirken, dass aus schwach begabten Kindern hoch begabte Kinder werden.



Anlage und Umwelt - Eine allgemeine Empfehlung für die Erziehung
Die vorangegangenen Erläuterungen haben deutlich werden lassen, dass bei der Ausgestaltung von Persönlichkeitsmerkmalen bei jedem Menschen immer sowohl die genetische Ausstattung als auch bedeutsame Umwelterfahrungen beteiligt sind. Zu den bedeutsamen Umwelterfahrungen zählen auch die erzieherischen Maßnahmen. Welche allgemeine Empfehlung lässt sich nun vor dem Hintergrund der Anlage-Umwelt-Forschung für die Erziehung geben?


Pädagogische Maßnahmen zur Förderung von Kindern sind sinnvoll - überzogene Erwartungen sind es nicht!
Umwelterfahrungen können eher günstig oder eher ungünstig für die weitere individuelle Entwicklung eines Kindes sein. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Veränderungen in Umwelterfahrungen zu Veränderungen in der Entwicklung von Kindern geführt haben. Adoptionsstudien zeigen, dass Kinder, die in anregungsreiche familiäre Umwelten adoptiert wurden, sich günstiger entwickeln als Kinder, deren neue Umgebung nur wenige Anregungen bietet. Ein weiteres Beispiel für den Einfluss der Umwelt ist der sogenannte Flynn-Effekt. Er besagt, dass die Intelligenz der Gesamtbevölkerungen westlicher Industrienationen in den letzten 50 Jahren deutlich angestiegen ist. Der Anstieg der Intelligenz wird auf veränderte Umweltbedingungen (bessere Ernährung, bessere medizinische Versorgung, umfangreichere schulische Ausbildung, komplexere Anforderungen in der alltäglichen Umwelt) zurückgeführt.

Aus Befunden dieser Art lässt sich die generelle Empfehlung ableiten, Umwelten für Kinder so günstig und so anregungsreich wie möglich zu gestalten (zu konkreten Anregungen, wie die kindliche Umwelt gestaltet werden kann, um die intellektuelle Entwicklung zu unterstützen, siehe den Beitrag im Familienhandbuch von Hubert Sydow "Förderung der geistigen Entwicklung im Vorschulalter - Was können Mütter und Väter tun?"). Pädagogischer Pessimismus ist nicht angebracht. Legt man dem pädagogischen Handeln einen individuellen Vergleichsmaßstab zu Grunde, bei dem Entwicklungsveränderungen eines Kindes nicht mit Entwicklungsveränderungen anderer Kinder verglichen werden, sondern mit dem Entwicklungsstand des Kindes vor einer pädagogischen Maßnahme, dann wird in aller Regel deutlich, dass gut fundierte Förderangebote wie z. B. das Training phonologischer Bewusstheit von Küspert & Schneider (1999) oder das Training induktiven Denkens von Klauer (1989) zu einer individuellen Verbesserung führen, die als Rechtfertigung für die Durchführung der Maßnahme angesehen werden kann. Auch alltägliche Förderangebote wie z. B. das Anschauen von Bilderbüchern oder lustige Sprachspiele wie Reime finden haben neben ihrem hohen Eigenwert als Freizeitbeschäftigung ihre zusätzliche Berechtigung darin, dass sie den Erwerb von Kompetenzen unterstützen. Gewarnt sei allerdings vor überzogenen Erwartungen. Fähigkeitsunterschiede zwischen Kindern können durch Fördermaßnahmen nicht vollständig egalisiert werden. Ansprüche, die darauf ausgerichtet sind, Unterschiede in der genetischen Ausstattung durch Umweltmaßnahmen zu überwinden, können nicht nur nicht erfüllt werden, sondern schaden letztlich auch den Kindern.


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