Sog ins Netz
Sog ins Netz
Volker ter Haseborg
Bei Internetsüchtigen dreht sich alles um die künstliche Welt.
Rund 500.000 Menschen in Deutschland sollen betroffen sein.
Kritiker zweifeln allerdings, ob es die Online-Sucht überhaupt gibt
Magnetisches Netz - Neun Stunden täglich surfen
Berlin, zwölf Uhr mittags. EasyEverthing, alles einfach, heißt das Internet-Café am Berliner Kurfürstendamm. Für die Touristen, die kurze E-Mail-Grüße in die Heimat schicken und weiter durch die Metropole schlendern, mag das so sein. Für Max K. stimmt das schon lange nicht mehr. Von morgens bis abends sitzt er vor der flimmernden Kiste, drischt auf die Tasten ein und lässt sich in die virtuelle Welt saugen. "Unter der Woche bin ich neun Stunden täglich hier", erzählt er. Am Wochenende kämen schon mal 13 oder 14 zusammen. Wie sein Tagesablauf aussieht, lässt sich auch optisch erahnen. Der 17-Jährige ist dicklich, übernächtigt und strotzt nicht gerade vor Gesundheit; auf Äußerlichkeiten scheint er nicht viel Wert zu legen. Menschen wie Max kleben wie Magnete am Bildschirm. Internet-Sucht heißt dies unter Experten.
Umstrittenes Phänomen
Für sie ist Max kein Einzelfall. Rund 500.000 Menschen in Deutschland sind internetsüchtig, schätzt Werner Platz, Direktor der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik der Berliner Humboldt-Universität. Der Psychologe ist einer von zwei Wissenschaftlern in Deutschland, die sich auf Online-Sucht spezialisiert haben. Seiner Erfahrung nach klettern die Zahlen - Vor fünf Jahren hatten wir gerade mal einen Internetsüchtigen pro Monat, heute kommen bis zu acht Patienten täglich in die Ambulanz.
1995 prägte der US-Psychiater Ivan Goldberg den Begriff Internet addiction disorder (IAD), er stufte die Abhängigkeit als psychisch ein. Eine Studie der Cyber-Psychologin Kimberly S. Young ergab, dass rund 200.000 Amerikaner internetsüchtig seien (1996). Auch in Deutschland gab es Untersuchungen. Manche Schätzungen gehen sogar von bis zu einer Million Betroffenen aus. Dabei spalten sich die Meinungen, ob diese Art der Abhängigkeit überhaupt den Kriterien einer Sucht entspricht.
Für die deutschen Krankenkassen ist die Online-Sucht jedenfalls kein Krankheitsbild, das Bundesministerium für Gesundheit will sich immerhin mit der problematischen Internet-Nutzung verstärkt auf fachlicher Ebene auseinandersetzen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht das exzessive Surfen im Web bis jetzt nicht als Droge. Der einzigen Selbsthilfegruppe in Deutschland (www.onlinesucht.de) ging vor zwei Jahren das Geld aus.
Der www-Kreisel
Klar ist jedenfalls, dass die Nutzung des Internets für einige Menschen problematisch ist. Sie verlieren das Interesse am Essen, vernachlässigen Hobbys, soziale Kontakte und schließlich sich selbst. Immer mehr treten sie den Rückzug aus der Umwelt an, driften ins gesellschaftlich Abseits und landen schließlich in der Isolation. Alles dreht sich nur noch um die künstliche Welt im Web, selbst dann, wenn sie offline sind, weiß Platz.
Als internetsüchtig gelte, wer seit sechs Monaten mehr als fünf Stunden täglich im Web surfe. Die Humboldt-Universität hat in einer Pilotstudie (2000) fünf Kriterien für die Online-Sucht erarbeitet: Kontrollverlust, Steigerung der Dosis, Entzugserscheinungen wie Nervosität oder Aggression, Verlust der sozialen Kontakte und der negative Einfluss auf Job oder Schule. Bei rund 90 Prozent der mehr als 7000 Befragten war die Internetnutzung unauffällig, sieben Prozent galten als suchtgefährdet, drei Prozent als süchtig, so das Ergebnis.
Suche nach dem Ich
nternetsüchtige entsprechen nicht dem gesellschaftlichen Bild von Drogensüchtigen. Sie sind keine Junkies, die sich hinter dem Bahnhof Spritzen setzen, erklärt Dr. Oliver Seemann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Wolfratshausen bei München. Sozial seien sie meist viel besser dran, so der Psychologe, der sich seit 1999 mit dem Thema beschäftigt.
Das Grundproblem dieser Menschen sei die Selbsttäuschung.
Sie suchen im Web nicht den Anderen", so Seemann, sondern sich selbst." Die Suche nach dem Ich im Internet kann niemals funktionieren. Viele hielten etwas für Kommunikation, was in Wirklichkeit eine Scheinkommunikation sei. Gefährlich, wenn Menschen auch im Alltag so mit anderen in Kontakt treten oder im schlimmsten Fall die Kommunikation vollkommen einstellten, meint der Psychiater.
Gründe für die Flucht ins Netz gibt es genug: Stress in der Schule, Eheprobleme oder Arbeitslosigkeit. Besonders gefährdet sind offenbar junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren. Seemann sagt: Sie verlassen das Elternhaus, wenden sich aber nicht der Welt zu, sondern ziehen sich in sich selbst zurück. Als zweite Problemgruppe hat er Menschen um die 40 ausgemacht. Die Partnerschaft dümpelt dahin und viele suchen sich neue Partner im Internet.
Zwischen Nähe und Distanz
Nur die wenigsten sind sich der Suchtgefahr bewusst. Max dagegen weiß: Ich bin süchtig und surfe weiter. Meistens werden die Eltern zuerst aufmerksam und bringen ihre Kinder zur Therapie. Wer sich am Humboldt-Klinikum behandeln lassen will, muss einmal pro Woche zu Werner Platz auf die Couch. In Gesprächen versucht der Psychologe, die Ursachen für die Online-Sucht herauszufinden und zu bekämpfen. Unter anderem setzt er darauf, den Konsum schrittweise zu senken. Mit seinen Patienten schließt er deshalb Verträge. War ein Patient sieben Stunden täglich im Internet, verpflichtet er sich jetzt, in der nächsten Woche nur noch fünf Stunden zu surfen, erläutert der Therapeut.
Oliver Seemann verfolgt einen anderen Ansatz: Er klammert das Thema Internet in den Sitzungen mit seinen Patienten komplett aus. In meiner Behandlung fokussiere ich das Kernproblem: die Unterscheidung von Nähe und Distanz, sagt Seemann. Der Psychologe will klarmachen, dass das weltweite Netz keine Nähe bieten kann. Sie müssen lernen, dass die Beziehung zu Menschen aus ihrer Umgebung viel gehaltvoller ist. Dazu gehören auch die Erfahrung von Intimität und Autonomie. Im Vergleich zur Drogensucht seien die Erfolgschancen gut, weil die Patienten meist noch nicht lange am Netz hingen. Doch Süchte sind austauschbar, warnt Platz, und viele verfallen nach erfolgreicher Therapie einem anderen Laster.
Billige Droge Internet
Max steckt immer noch im Netz fest. Für ihn ist das Internet eine billige Droge: Gerade mal zwanzig Euro legt Max für ein Monatsticket im Internet-Café auf den Tisch. Dafür kann er surfen, so viel er will, so lange er will. Was da über den Bildschirm flimmert, ist genau seine Welt. Chatten mit Gleichgesinnten, über Fantasy-Filme und Action-Figuren. Unterhalten will - oder kann - sich Max nicht. Was von außen zu ihm vordringt, quittiert er mit gestotterten Halbsätzen oder er antwortet einfach nichts. Wie lange das schon so geht? Zwei Jahre, sagt Max. Freunde? Nö, hat er nicht. Hobbys? Mehr als das Internet ist nicht drin. Schule? Hmm, müsste er eigentlich Aber: "Wenn ich nicht mehr surfen könnte, sagt Max, "keine Ahnung, was ich dann machen würde."
Fragen an Euch
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