Grundeinkommen - Reziprozität und Bedingungslosigkeit
Lieber Ronald Blaschke,
auf die von Ihnen vorgetragene Interpretation der Ausdrucks
"Bedürftigkeitsprüfung" hat mich Michael Opielka gerade in einer E-Mail
hingewiesen. Das ist, das sehe ich jetzt, tatsächlich eine mögliche
Interpretation, eine Interpretation, die ich übersehen hatte. Ich hatte den
Ausdruck ganz anders verstanden, nämlich nicht im Sinne der Prüfung der
"Einkommensbedürftigkeit" sondern darüber hinausgehend im Sinne der Prüfung
der Hilfsbedürftigkeit bzw. der Prüfung, ob jemand eine Transferzahlung
bezieht, weil er nicht erwerbstätig sein will, obwohl er dies könnte, oder
weil er nicht erwerbstätig sein kann und auf die finanzielle Unterstützung
wirklich angewiesen ist. Bei einem solchen Verständnis des Ausdrucks würde
"keine Bedürftigkeitsprüfung" etwa auch eine Negative Einkommenssteuer
zulassen. Das nur zur Aufklärung des Zustandekommens meiner Interpretation.
Ich habe Michael Opielka gegenüber schon gesagt, daß nun ja deutlich sei,
daß wir uns in der Sache sehr einig sind, was mich sehr freut. Jetzt bleibt
bestenfalls noch zu überlegen, wie man unser Grundeinkommensverständnis in
Zukunft noch prägnanter und weniger mißverständlicher darstellen könnte.
Ich kann auch sonst Ihren Ausführungen durchgehend folgen. Etwas kritischer
sehe ich die Diskussion um ein Grundeinkommen in Deutschland in der
Vergangenheit. Aus meiner Sicht gab es da doch einige Inkonsistenzen, und
nicht immer stand das bedingungslose Grundeinkommen sehr klar als
Bezugsmodell im Vordergrund, wie sie ja selbst sagen (im Unterschied zur BAG
SHI natürlich), womit ich die Verdienste der Protagonisten dieser Diskussion
nicht schmälern möchte. Ein Beispiel für eine Inkonsistenz wäre in meinen
Augen die von der BAG SHI, wie Sie wissen, längere Zeit mit der
Existenzgeldforderung verknüpfte Forderung nach Arbeit für alle, die
arbeiten wollen. Diese doppelte Forderung bedeutete, wenn man es genau
nimmt, letztlich nur: Den Kuchen essen und ihn zugleich behalten wollen,
weil einerseits mit dem Existenzgeld Konsequenzen aus dem strukturellen
Mangel an Erwerbsarbeit gezogen würden und die Möglichkeit eines positiven
Lebens jenseits der Erwerbsarbeitssphäre geschaffen würde, dann aber
andererseits mit der Forderung "Arbeit für alle" doch an der
Arbeitsgesellschaft festgehalten würde und die durch das Existenzgeld
eröffnete Möglichkeit der radikalen Einsparung von Arbeitsplätzen für
Unternehmer gleich wieder verschüttet würde. Eine Ausnutzung der ungeheuren
Rationalisierungspotentiale, die zur Zeit aufgrund der sozialen Folgen einer
radikalen Rationalisierung nicht genutzt werden können, ist aber
trivialerweise nicht nur wünschenswert, sondern m.E. auch unverzichtbar für
eine ordentliche Wertschöpfungsdynamik, aus der ein Grundeinkommen durch
entsprechende Abschöpfung von Werten finanziert werden könnte. Aber das ist
angesichts unserer Einigkeit zum meiner Freude eher eine akademische
Diskussion über die Vergangenheit.
Zur Reziprozitätsfrage möchte ich noch anmerken, daß bei einem
bedingungslosen Grundeinkommen die Reziprozität m.E. auf einer anderen Ebene
liegt. Zunächst einmal sind alle darin gleich, daß sie ein Grundeinkommen
erhalten. Die Lebenden haben also untereinander keine aus der Reziprozität
folgenden Forderungen. Faktisch würde ein solches Grundeinkommen natürlich
vor allem aus der Erwerbsarbeit der Erwerbstätigen (der Wertschöpfung von
Personen, wenn man so will) und der Wertschöpfung von Unternehmen finanziert
werden müssen, so daß man auf die Idee kommen könnte, daß durch diesen
Umstand dann doch wieder ein Ungleichgewicht entstünde. Das ist m.E. aber
ein Fehlschluß. Denn wenn der Staat im Auftrag der politischen Gemeinschaft
Steuern erhebt und die Wertschöpfung von Erwerbstätigen und Unternehmen
steuerlich abschöpft, dann ist die Legitimation dafür von der Frage eines
Grundeinkommens m.E. ganz unabhängig. Die Legitimität von Steuern ruht in
meinen Augen schlicht darin, daß die Wertschöpfung eines Individuums oder
eines Unternehmens nicht allein das Resultat der tatkräftigen Arbeit dieser
ist, sondern ebenso das Resultat der Familien, die überhaupt erwerbsfähige
Erwachsene großgezogen haben, des öffentlichen Ausbildungs- und
Wissenschaftssystems, das einzelne Erwerbstätige und Unternehmen zur
Wertschöpfung nutzen, der staatlich bereitgestellten und gemeinschaftlich
finanzierten Infrastruktur, des rechtsstaatlichen Rahmens, und und und. Die
Liste wäre noch lange fortzusetzen, was sicherlich evident ist. Alles das
wiederum ist in dieser Form nur denkbar, weil es sich über eine lange Kette
von Generationen allmählich entwickelt hat und uns Lebenden wie eine
Erbschaft in den Schoß gefallen ist. Dazu gehört insbesondere die
technologische Entwicklung und die ungeheure Entwicklung des Wissens, die es
heute ermöglichen, daß ganze Fabrikhallen bei der Produktion fast
menschenleer sind. Wenn also einzelne Erwerbstätige oder ganze Unternehmen
sich diese Erbschaft zunutze machen und dabei zugleich die politische
Gemeinschaft als Rahmen in Anspruch nehmen, dann haben sie zwar durch ihre
tatkräftige Arbeit ein Eigentumsrecht an den Früchten ihrer Arbeit erworben,
aber genauso untrennbar auch die politische Gemeinschaft, die das
Produzierte eben indirekt mitproduziert hat. Und das über Generationen
entwickelte Wissens ist per se etwas Allgemeines, daß niemandem gehört,
bestenfalls einer politischen Gemeinschaft (um ein Argument Oevermanns zu
übernehmen, von dem ich ohnehin viel übernehme). Die Abschöpfung von Werten
durch den Staat bzw. die politische Gemeinschaft ist, so gesehen, immer
schon legitim. Man kann sich lediglich darüber streiten, zu welchen Anteilen
sie dies ist. Was die politische Gemeinschaft dann mit dem abgeschöpften
Werten macht, ist dann schlicht ihre Sache. Das geht dann die Erwerbstätigen
und Unternehmen nichts mehr an, und sie können sich demnach nicht darüber
beklagen, daß sie nicht gleich behandelt werden, wenn "aus ihren Steuern" an
alle ein Grundeinkommen ausgezahlt wird. Bleibt noch die Frage, ob es nicht
doch ein Ungleichgewicht im Hinblick auf die Reziprozität gibt, wenn ein
Grundeinkommen ausgezahlt wird. Und die Antwort lautet m.E.: ja. Ein
Ungleichgewicht kommt schlicht dadurch zustande, daß man in Gestalt eines
Grundeinkommens zunächst einmal ohne Gegenleistung etwas "erben" würde,
dessen Existenz vorausgehenden Generationen und dem durch diese bewirkten
Wissensfortschritts zu verdanken ist. Bei individuellen Erbschaften verhält
es sich ja ähnlich: Man hat im Prinzip die Freiheit, das Erbe einfach
unproduktiv zu konsumieren. Man würde sich dann aber an seinen Vorfahren
"versündigen", die eben auch für ihre Nachkommen gearbeitet haben und nicht
alles selbst konsumiert haben. Also gerät man letztlich ohne äußeren Zwang
unter den moralischen Druck, seinerseits einen Beitrag in der Abfolge der
Generationen zu leisten, so daß die Nachkommen wiederum etwas ansehnliches
vererbt bekommen. Bei einem Grundeinkommen verhielte es sich m.E. ganz
analog.
Ich bin übrigens nicht auf die Hart IV-Problematik fixiert, und kann Ihren
Ausführungen zu dieser Problematik durchaus folgen.
Was die Gestaltung des nächsten Treffens und die Diskussion um das Thema
Bedingungslosigkeit angeht, so ist über dessen Gestaltung ja noch zu reden.
Mit besten Grüßen
Manuel Franzmann
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: [mailto:[email protected]]
Gesendet: Dienstag, 27. Juli 2004 21:21
An: [email protected]; [email protected];
[email protected]; [email protected]; [email protected];
@carookee.com
Betreff: Re: AW: Zur Frage der Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens
Lieber Manuel Franzmann,
wir müssen alsbald unsere Konferenz zur Bedingungslosigkeit machen.
Alle ihre Argumente kann ich voll und ganz unterstützen. Nicht nur das: Es
sind meine Argumente in Diskussionen, Konferenzen usw.
Wenn ich sage, ohne Bedürftigkeitsprüfung heißt das, es wird bei
keiner/keinem geprüft, ob andere Einkommen, Vermögen usw. usf.
Wenn ich sage, ohne Arbeitszwang (lieber wäre mir ohne Arbeits- und
Tätigkeitsverpflichtung, da Arbeitszwang missverständlich ob seiner stark
menschenrechtlicher und damit auch erwerbsarbeitsorientierter Fixierung ist,
noch lieber wäre mir zusätzlich ohne jegliche vorherige
Einzahlungsverpflichtung), dann eben ohne den Zwang etwas zu arbeiten, zu
werken, zu handeln (um mal alle Arendtschen Kategorien der vita activa zu
bemühen).
Nehmen wir noch den Personenbezug hinzu: d. h. das BGE wird als unabhängig
von irgend welchen möglichen anderen Haushaltssituationen, Partnermodellen
usw. usf. gezahlt.
Fazit: Das BGE bekommt also jede(r). Keinesfalls nur Einkommensbedürftige,
eben genau wegen der politischen Durchsetzbarkeit und der allgemeinen
Akzeptanz, und des Verhinderns einer Spaltung der Gesellschaft in
Transferzahler und Transferempfänger.
Das waren immer wieder auch die früheren Überlegungen von Georg Vobruba,
Michael Opielka usw.
So verstehen auch die Existenzgeldbefürworter (BAG SHI) ihr Existenzgeld.
Nachzulesen in meiner Studie zum garantierten Grundeinkommen.
Einiges verwirrt natürlich:
Die starke Fixierung auf die Hartz IV - Problematik. Daraus könnte man
ableiten, es geht nur um Erwerbslose, Einkommensbedürftige. Die Hartz IV -
Thematik ist aber deswegen so interessant, weil mit Hartz IV genau das
Gegenteil eines bedingungslosen Grundeinkommens zelebriert wird. Nämlich
verschärfte Bedürftigkeitsprüfung inkl. Verweisens auf andere Einkommen und
Ressourcen, verschärfter Arbeitszwang (bis hin zum workfare), verschärfter
Haushaltsbezug (Bedarfsgemeinschaft). Dies zwar nur für bisherige
Alhi-Bezieher/innen. Aber mit gewollter Wirkung auf alle
Erwerbsarbeitsabhängigen (siehe dazu auch Zygmunt Baumans - Argumentation in
meiner Studie). Michael Opielka sieht ja aber mit Hartz IV einen Schritt in
Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommen - und jedesmal müssen dann der
Kollege der BAG SHI und ich dann aufs Gegenteilige verweisen, sozusagen als
Kenner der Materie und Opfer von Hartz IV. Diese Argumentation, dass Hatz IV
ein Einstieg in etwas Besseres wäre, ist übrigens die klassische
Grünen-Argumentation, bezogen auf deren Grundsicherungs-Modell. Das ist
natürlich aber nur politisches Gerede um Kopf und Kragen, weil die Grünen,
zumindest einige, aufgrund ihrer Wahlversprechen und ihrer BDK-Beschlüsse
ein schlechtes Gewissen haben. Da muss man dann halt etwas schlechtes gut
reden.
Noch etwas verwirrt:
Es gibt Ansätze in Richtung eines BGE, so genannte schrittweise
Einführungen, die natürlich erheblich von einem BGE abweichen. Sie haben den
Sinn, Volk und Feind langsam an ein BGE zu gewöhnen. Darin liegt natürlich
auch ein Risiko. Denn damit kann man das eigentliche Ziel schnell verwässern
und sich gar vollends in technischen Fragen verlieren. Ich bin mir bei
manchen Befürwortern einer solchen Vorgehensweise nicht immer sicher, ob das
Ziel nicht schon verwässert ist. Aber dennoch: über schrittweise
Hinführungen zum BGE sollte man nachdenken.
Und noch etwas: Angebliche Ansätze eines BGEs sind gar keine, insbesondere
bestimmte Formen einer Negativen Einkommenssteuer. Sie sind ja deswegen auch
eher auf das Problem Einkommensbedürftige bzw. Arbeitsmarkt-Schleuse in den
Niedriglohnbereich fixiert.
Zusammenfassung:
Ihrer Argumentation kann ich voll zustimmen.
Ich würde mich freuen, wenn Sie diese auf unserer nächsten Netzwerk-Runde,
die ja zum inhaltlichen Schwerpunkt die Bedingungslosigkeit hat, vortragen
könnten. Auch mit dem Bezug zu BIEN.
Wolfram Otto und ich würden dann etwas zum Hartz IV-Gesetz und seiner
Beziehung zum BGE vortragen wollen. Auch dabei kann man wunderschön das
Thema Bedingungslosigkeit aufdröseln.
Spannend, auch im Sinne der Schärfung unserer Argumente, wäre,
mögliche wissenschaftliche Gegenargumente zur Bedingungslosigkeit zu
diskutieren. Die Reziprozitätsfrage scheint mir z. B. noch nicht vollends
geklärt. Ist übrigens auch die schwierigste Frage in unserem
reziprozitätslastigen Osten.
Beste Grüße von Ronald Blaschke
Meine Studie steht unter
www.labournet.de/diskussion/arbeit/existenz/blaschke.pdf