Liebe Meer
Wieso bin ich hier? Habe ich nicht gesehen, wie die Deiche brachen, wie die Ffluten kamen und sich alles nahmen, was sie kriegen konnten? Wie sie so schnell und tosend, stürmisch und allumfassend, mächtig und gründlich Städte ertränkten, Keller füllten und Vieh ersäuften?
Doch stehe ich hier, auf dem Scheitel neuer, höherer Dämme, wieder bis zum Rand von peitschenden Wellen bedroht, wieder aufgeweicht und dem Brechen nahe.
Der Sturm schmeißt die Gicht hoch und obwohl die Augen vom Salz brennen kann ich den Blick nicht abwenden, nicht blinzeln, mich nicht umdrehen.
In starrer Erfurcht begaffe ich eine Woge, die vor mir zerschellt, wie eine Provokation oder eine Einladung. Eine Drohgebärde dieser Macht, ein Muskelspiel und doch ein Heranwinken.
"Komm nur, komm", scheint das Meer unter dem Pfeifen des Windes und dem Rauschen des Wassers zu flüstern.
Und ich? Wie kann ich ihr widerstehen, dieser Flut?
Ich fange an vorwärts zu gehen.
Mein Fuß taucht ein und das eiskalte Wasser reißt an meinen Beinen, lässt sie taub werden, krampfen.
Ich taumele und beiße die Zähne zusammen.
Schon wieder trifft eine Welle den Deich von dem ich herunter trete, lässt das Wasser bis unter meine Hüfte steigen. Ich sauge Luft ein, erschrocken über diese plötzliche Berührung. Wie eine Grenzüberschreitung lässt es mich kurz zu sinnen kommen. Das Blut zieht sich aus der unteren Hälfte meines Körpers zurück und drückt in den Kopf.
Mir ist schwindelig und mein Herz hämmert. Ich kann nicht anders.
Noch einen Schritt vorwärts und die See umarmt meinen Bauch, meine Nieren, meinen Rücken.
Ich lasse mich fallen. Ich dringe voll und ganz durch die Wasseroberfläche, diese unscheinbare, unwirkliche Scheidewand zwischen Luft und wasser.
Sofort trägt das Meer mich, zieht mich, zerrt an mir, als hätte es auf mich gewartet.
Es ist dunkel und still. Das Kreischen der Wellen, das Brüllen des Sturms, all das verliert hier unten an Bedeutung. Wie an Händen geführt zieht mich die Strömung nach draußen, nach unten, umspült mich,spielt mit mir, reißt an mir.
Ich wage nicht zu strampeln, als könnte ich das Meer verärgern.
Meine Lunge schmeckt nach Salz und langsam lasse ich los, verliere mich im dumpfen Vergessen, in der Ohnmacht.
Als ich die Augen öffne liege ich an einem grauen Strand.
Aufgedunsen und verwaschen, vollgesogen mit Salzwasser blinzele ich in den Abendhimmel. Das Meer hat mir nichts als Fetzen am Leib gelassen und ich fühle kleine Steine und Muschelreste unter mir.
Ich winde mich im feuchten, kalten Sand. In meinem Rücken dröhnt und rattert eine Großstadt, doch das Meer liegt ruhig und still da.
Ich richte mich auf, meine Hände graben sich tief in den Schlick.
Auf wackligen Beinen komme ich zum Stehen.
Ich öffne den Mund, nicht sicher ob ich etwas sagen sollte. Die See liegt da, ruhig, gelassen, glatt und beinahe regungslos.
"Warum?", frage ich, doch bekomme ich nur ein leises Säuseln, ein entferntes Rauschen als Antwort.
"Warum?", frage ich nochmal und nochmal, "Warum?"
Sie antwortet nicht, steht da, sie so groß, so unglaublich groß und ich so klein, so unbedeutend.
"Warum?", schreie ich schließlich, "Warum schickst du mich zurück, jetzt da ich dich kenne?", doch die See schweigt.
Regungslos starre ich in den Horizont, wo sich die See und der Himmel in gemeinsamem Blau vereinen.