Kreative Intelligenz - Kurzgeschichten

1993: Wie ich verdoppelt wurde

1993: Wie ich verdoppelt wurde

Wie ich verdoppelt wurde

“Aus Brüssel sind Sie?” Der Portier des
Wolkenkratzers gab mir den Zimmerschlüssel für mein Apartment. “Was
machen Sie in New York?”

“Ich halte ein Referat. Auf der Tagung für Spitzenköche.”

“Worüber?”

“Über den Nutzen des ayurvedischen Würzens in der französischen Küche.”

“Oho! Dann kennen Sie bestimmt das Twins?”

“Was ist das?”

“Ein Nobelrestaurant. Ein ganz besonderes. Dort können Sie sich duplizieren lassen.”

“Wie bitte!?”

“Sie bekommen eine lebende Dublette. Letztes Jahr war ich mit meinem
Double Windsurfen in Florida. Sagenhaft! Natürlich, so ein Double nervt
auch manchmal. Es zeigt einem hautnah, welche Nervensäge man ist. Auf
der anderen Seite: dieses tröstliche Gefühl, jemanden zu haben, der
einen ganz und gar versteht. Ohne Worte. Blick genügt ... Einfach
fantastisch.”

“Sie sollten Geschichten schreiben.”

“Wieso?”

“Weil Sie mir so was auftischen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber bitte, reden Sie weiter. Wo ist Ihr Double jetzt?”

“Recycled. Ich hatte es nur für ‘ne Woche. Mehr konnte ich mir nicht leisten – als Student. Portier bin ich nur nebenher.”

“Double für eine Woche?” Ich musste schmunzeln. “Sie haben Talent.”

“Sie glauben wohl, ich sauge mir das alles aus den Fingern? Wetten, dass
Sie anders denken, sobald Sie Ihrem Double gegenüberstehen?”

“Ich sage Ihnen Eines: Machen Sie mit so was keine Scherze. Heute wird
genug geklont, gepfuscht, an Genen rumgeschnippelt. Jedes Wesen hat doch
sein eigenes Schicksal, seine Seele, seine ganz persönlichen Aufgaben
und Wünsche.”

“Genau so hab ich auch gedacht. Bis ich selber ...” Er stockte, sah mir
ins Gesicht und schaute dann neben mich, als stünde dort noch jemand.
“Stellen Sie sich vor, Sie stehen doppelt da. So was können Sie im Twins
erleben. Heute Abend um acht. Okay? Bitte kommen Sie mit. Ich wette
eine große Flasche Bourbon, es wird der tollste Abend Ihres Lebens.” Er
schob meinen Koffer in den Aufzug, drückte Stockwerk 54 und reichte mir
die Hand. “Ich heiße Arthur.”

“Angenehm. Hendrik mein Name.” Ich schlug ein. “Ich lass mich überraschen.”

Nach dem Duschen lag ich auf der Couch, um den Jetlag auszuschlafen, da
klingelte das Telefon. “Hendrik, hier ist Arthur, der Portier. Hätten
Sie was dagegen, wenn noch zwei Gäste mitkämen? Linda und Robert Brown.
Sind gerade aus Neuseeland eingeflogen.”

“Meinetwegen.”



Das Paar aus Neuseeland gefiel mir auf Anhieb: Robert, ein kleiner,
drahtiger Anwalt mit graumeliertem Schnauzer, Linda, seine üppige junge
Frau mit wallendem, kastanienbraunem Haar. Und das Ambiente des Twins
erinnerte tatsächlich an ein Nobelrestaurant. “Austern und
Weinbergschnecken sind hier der Hit”, meinte Arthur, als uns der Ober
die Karte brachte. “Bis das Zeug fertig ist, können wir nebenan
zuschauen.”

Gespannt schlug ich die Karte auf. Aber noch vor Salaten und Vorspeisen blieb mein Blick an folgender Preisliste hängen.



Ihr lebendes Duplikat

5 Minuten 1000 Dollar

30 Minuten 2000 Dollar

1 Stunde 3000 Dollar

1 Tag 5000 Dollar

1 Woche 10000 Dollar

1 Monat 20000 Dollar

Auf Lebenszeit 1 Million Dollar

Kinder unter 12 die Hälfte

Drittkopie 30 Prozent Rabatt



Linda und Robert starrten genauso wie ich. “Wie ist das zu verstehen?”, fragte Linda.

“Die Technik ist neu”, erklärte Arthur. “Der Rohstoff ist wahnsinnig
teuer und zerfällt sehr schnell. Wir gehen gleich mal nach drüben und
schauen zu.”

Nachdem wir bestellt hatten, führte uns Arthur in einen Warteraum, in
dem Kunden saßen und gebannt nach vorne schauten. In einer Art
Telefonzelle saß eine zittrige, weiß gepuderte Dame, zog ihre Ringe ab
und legte sie in ein Schälchen. Die Nebenzelle war leer. Der Bereich vor
den beiden Zellen war durch eine Trennwand aus getöntem Glas in zwei
Hälften unterteilt. Videokameras filmten das Geschehen. Eine Kamera
schwenkte zu uns. Ich sah mein Gesicht auf dem Bildschirm.

Eine Assistentin nahm der Dame die Schale ab. “Sonst noch Metall am Körper, Mrs. Watson? Halskette, Uhr, Schlüssel, Münzen?”

“Mein Oberschenkelbruch wurde genagelt.”

“Das ist in Ordnung. Nur was Sie ablegen können.”

“Und mir kann wirklich nichts passieren?”

“Keine Bange, Mrs. Watson. Sie müssen nur stillsitzen, während der
3D-Scanner läuft. Würden Sie bitte Ihr Kinn hier auflegen.” Die
Assistentin klappte eine Kinnstütze nach vorn und stellte sie ein, bis
die Kundin aufrecht saß. “Solange das rote Lämpchen blinkt, bitte nicht
bewegen.”

Sie schloss die Kabine von außen, bat uns, an der Wand Platz zu nehmen,
und griff zu einer Armatur, die an einem dicken Kabel von der Decke
hing. In den Zellen ging das Licht aus. Nur das rote Lämpchen blinkte.

Alle starrten auf die beiden Zellen. Anfangs dachte ich, es geschähe
überhaupt nichts. Bis ich merkte, dass in Zelle zwei unmerklich die
Beleuchtung zunahm und das Ebenbild der Dame immer deutlicher sichtbar
wurde. Das rote Licht erlosch, die Assistentin öffnete die Zellen, schob
die Kinnstütze zur Seite und reichte das Schälchen zurück. “Das war ’s
schon, Mrs. Watson. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie bitte heraus.”

Während die Kundin ihren Schmuck anlegte, bewegte sich ihr Double wie
ihr Spiegelbild. Es griff in ein unsichtbares Schälchen und legte sich
nicht vorhandenen Schmuck an. Dann standen beide auf, traten vor die
Zelle und betrachteten sich durch die Scheibe.

“Der Augenblick der Selbstbegegnung ist für viele ein Schock”, flüsterte
Arthur. “Ihr Spiegelbild hinter der Scheibe dagegen sind Sie gewohnt.
Erst wenn Sie gefasst genug sind, schreiten Sie um die Trennwand und
reichen Ihrem Double die Hand. So war ’s jedenfalls bei mir.”

“Und wie fühlt man sich dabei?”

“Als träte Ihr Spiegelbild leibhaftig aus der Scheibe.”

Die beiden Damen standen sich wie angewurzelt gegenüber. Eine Ewigkeit
verging. Dann gaben sie sich einen Ruck und schritten zitternd zum Ende
der Trennwand. Dort blieben sie nochmals stehen, zögerten, machten einen
Schritt nach vorn und lagen sich in den Armen. Die Assistentin gab dem
Original, das den Schmuck trug, ein Kärtchen. “Achten Sie bitte auf den
Rückgabetermin, Mrs. Watson. Kommen Sie lieber etwas früher als zu spät.
Nach dem Verfallsdatum übernehmen wir keine Garantie. Das Video vom
Augenblick Ihrer Selbstbegegnung erhalten Sie an der Kasse. Ich wünsche
Ihnen eine wunderschöne Zeit zu zweit. – Mr. Barley, bitte in Kabine
eins.”

Der Ober kam auf uns zu und meldete, das Menu sei angerichtet.



“Wie funktioniert das?” Robert pulte seine Weinbergschnecken aus dem Gehäuse.

“Ich bin kein Ingenieur”, erwiderte Arthur. “Ich weiß nur: Das Gefühl ist sagenhaft.”

“Ich dachte”, warf ich ein und stocherte in meiner Vorspeise, “ein Klon wächst langsam wie ein Embryo.”

“Das Duplizieren hat nichts mit Klonen zu tun. Es beruht auf
Sensormodulationen. Das dauert nicht länger als eine
Kernspin-Tomografie.” Arthur fischte sich vom Nebentisch ein Faltblatt
und las. “Durch reflexive Photosynthese, atmosphärische
Überdruckkompression und projizierte Ätherfeldanregung wird die Kopie
sichtbar, greifbar und hörbar.” Er legte das Faltblatt beiseite und
machte sich über seine Salatplatte her. “Vor zwei Jahren fing der
Erfinder an, mit dieser Methode Freunde und Kollegen zu verdoppeln.
Dabei stellte er fest, dass es mit gebürtigen New Yorkern am leichtesten
ging. Vielleicht, weil Double und Original den gleichen Geburtsort
hatten.”

Linda löffelte ihre Schildkrötensuppe. “In Neuseeland haben wir noch nie davon gehört.”

“Der Erfinder will erst testen, ob es weltweit funktioniert. Sobald er
weiß, dass sich Menschen aller Kontinente problemlos duplizieren lassen,
beginnt die Serienproduktion für den internationalen Markt.”

Der Gedanke, dass so ein Apparat bald schon in Brüssel stehen sollte,
gefiel mir gar nicht. “Sofern sich Europäer darauf einlassen.”

“Sie sagen es. Genau das ist der Knackpunkt. Bisher wurden nur
Amerikaner verdoppelt. Wie wär ‘s? Wollen Sie der erste Europäer sein?”

“Nein danke. Was geschieht, wenn ich bei der Rückgabe in der falschen
Zelle lande? Lacht sich dann mein Duplikat ins Fäustchen? Lebt es
weiter? Übernimmt es meine Aufgaben im Leben? Oder sind wir beide –
ausgelöscht?”

“Europäer nehmen so was viel zu ernst. Wir Amerikaner sind da lockerer.”

“Sie sagten, Sie hatten letztes Jahr ein Double auf Zeit.” Ich legte die
Gabel beiseite. “Sind Sie sicher, dass Sie nicht Ihr eigener
Doppelgänger sind?”

Er überhörte meine Frage, denn der Ober brachte das bestellte Steak mit
gebackenen Kartoffeln. Arthur schlang es hinunter, als hätte er seit
Jahren nichts gegessen. “Und wie steht ’s mit Ihnen, Linda?”

“Reizen würde mich das schon. Aber die Preise!”

“Kein Problem. Ich kenne den Geschäftsführer. Da ich als Portier ständig
Ausländer kennen lerne, bat er mich um Hilfe. Sie wären ja nicht nur
Kunde, sondern gleichzeitig Versuchsperson. Ein Fünf-Minuten-Duplikat
reicht völlig aus, um festzustellen, ob Neuseeländer kopierbar sind. Mit
200 Dollar sind Sie dabei.”

“Fünf Minuten? Unsinn! Mindestens eine Stunde. Robert, was meinst du?”

Robert strich sich den Schnauzer. “Ich ähm ... ich glaube, ich würde das
nicht aushalten. Zwei Lindas – nichts gegen dich, meine Liebe – aber
wenn ich mir vorstelle, beide reden unaufhörlich auf mich ein. Ähm ...
Hättest du was gegen zwei Roberts mit zwei Brieftaschen?”

“O ja, zwei Roberts mit Brieftasche und zwei Lindas.”

Arthur grinste. “Und dann Partnertausch!”

“Ob sich das Double genauso anfühlt wie das Original?”, überlegte Linda. “Was würde das kosten, Arthur?”

“Ich frage mal den Geschäftsführer.” Arthur verließ den Raum.

“Hendrik”, Linda faltete die Hände. “Lassen Sie sich diese Chance nicht
entgehen. Ich sehe schon die Schlagzeilen: das doppelte Geburtstagskind
... mehr Urlaub durch Dublette ...Hochzeitsnacht zu dritt ... Robert,
wir sollten die Generalvertretung für Neuseeland übernehmen.”

“Abwarten.” Robert war einsilbig. “Mit uns geht ’s todsicher schief.”

“Wieso?”

“Neuseeländer sind Originale. Die lassen sich nicht kopieren.”

“Aber schau dich doch mal um! Die Duplikate sehen genauso aus wie die Originale.”

Linda wies auf die Tische ringsum. Überall saßen Kunden mit ihrem
Double, das ihnen ähnelte wie ein Ei dem anderen. Arthur kam in
Begleitung eines rundlichen Herrn mit Glatze und abstehenden Ohren
zurück. “Darf ich vorstellen. Mr. McDole.”

“Zwei Stundendubletten für 400 Dollar”, sagte McDole.

“Wenn Sie mir 400 Dollar draufzahlen”, meinte Robert, ““würde ich ’s mir überlegen.”

“Wo denken Sie hin!? Versuchspersonen werden nicht bezahlt.”

“In Neuseeland werden Personen, die sich freiwillig für derart riskante Tests zur Verfügung stellen, entschädigt.”

“Aber Mr. Brown! Sie neigen zu Nostalgie.” McDole breitete die Hände
aus. “Seit Jahren sind solche Tests in Branchen wie dieser weder
freiwillig noch kostenlos.”

Ich nickte. “Man denke nur an Gentech-Nahrung, Klonen, an In-vitro-Fertilisation menschlicher Eizellen ...”

Robert wischte sich den Mund ab. “Neuseeländer sind keine Versuchskaninchen!”

“Also gut”, meinte McDole. “Ein Neuseeländer für eine Stunde – gratis!”

Robert zwinkerte uns zu. “Meinetwegen.” Er schien mit seinem Deal zufrieden.

“Eines wüsste ich noch gerne, Mr. Brown”, sagte McDole. “Glauben Sie, dass es bei Ihnen funktioniert?”

“Auf keinen Fall.”

“Danke, das genügt. Wir wollen testen, ob die innere Einstellung dabei
eine Rolle spielt.” Lächelnd verschwand McDole im Nebenraum.

“Wenn wir drüben sind, Linda,” Robert lehnte sich zurück, “werfen wir
einen Quarter, wer von uns beiden in die Zelle steigt. Zahl oder Adler?”

Lindas Hände zitterten leicht, während sie ihr Omelette mit Spargelspitzen aß. “Adler”, sagte sie.



Im Nebenraum stand eine junge Frau mit zwei gleich aussehenden Mädchen.
Die Assistentin führte die Mädchen zu den Kabinen. “Das Original bitte
hier rein.” Sofort liefen beide zu Zelle eins. Die Assistentin lachte.
“Keine Angst. Ihr bleibt doch beide am Leben. Nach der Fusion seid ihr
beide nur im selben Körper.” Dennoch wollte keines der Mädchen in Kabine
zwei. “Das Duplikat hält sich höchstens bis morgen. Es ist besser, eine
von euch geht freiwillig in Zelle zwei. Schon wegen der
Wiederverwertung der Rohstoffe. Das Haltbarkeitsdatum darf auf keinen
Fall überschritten werden. Nun kommt, Kinder, der Nächste wartet.”

Die Zwillinge umarmten sich, küssten sich auf die Wange und schlichen,
während sie sich umschauten und winkten, in die Zellen links und rechts
der Trennwand. Die Assistentin schob die Kinnstützen zurecht, bat die
Mädchen stillzuhalten, schloss die Türen und bediente ihre Armatur.
Langsam, fast unmerklich, wurde es in den Zellen dunkler, bis nichts
mehr zu sehen war. Als das Licht wieder an ging und die Kleine den
leeren Stuhl in Zelle zwei sah, fing sie bitterlich an zu schluchzen.
Ihre Mutter kam und nahm sie in den Arm. “Komm, Sheila. Länger als ein
Monat war nicht drin. Wenn du gute Noten kriegst, fragen wir Papa, ob du
zum Geburtstag nächstes Jahr wieder in die Zelle gehen darfst.”

“Oh ja!”



“Zahl!”, rief Robert, während Arthur mit der Assistentin sprach. “Tut
mir leid, Linda, für die nächste Stunde musst du zwei Roberts ertragen.
Ich meine, falls es klappen sollte. Das kann ich mir aber beim besten
Willen nicht vorstellen.”

“Mr. Brown!” Als Robert ohne Portemonnaie, Schlüsselbund und Armbanduhr
in Zelle eins saß und das Licht erlosch, starrten wir gebannt auf Zelle
zwei. Robert war nüchtern, skeptisch, ein kerniger Typ. Ich war mir
sicher, der Stuhl würde leer bleiben.

Ich muss genauso große Augen gemacht haben wie Linda, als in Zelle zwei
immer deutlicher ein zweiter Robert sichtbar wurde. Spiegelsymmetrisch
verließen beide ihre Zelle und schritten die Trennwand ab. “Hallo,
Robert, how are you?”

Zwei Roberts kamen auf uns zu. “Seltsam”, meinten beide im Chor. “Darauf
müssen wir anstoßen. Linda, schau auf die Uhr. Wir haben genau eine
Stunde.”

“Robert, bist du ’s? Lass dich umarmen.” Linda trat zaghaft an Robert
zwei, der lediglich durch die fehlende Armbanduhr vom Original zu
unterscheiden war. Er umarmte sie, als wäre er der Echte.

“He”, meinte Robert. “Nimm die Finger weg von meiner Frau!”

“Aber Robert! Das bist doch du!”

“Ich glaube, Linda, da verwechselst du was. Das bin nicht ich, das ist mein Abklatsch.”

Robert zwei lief puterrot an. “Ich bin Neuseeländer”, sagte er in Roberts knappem Tonfall. “Ich hasse Abklatsch.”

“Neuseeländer? New Yorker! Keine fünf Minuten alt. Ein Baby!”

“Hört auf, hört auf!” Linda stellte sich zwischen Robert und Robert.
“Kannst du ... könnt ihr denn nie aus eurer Haut ... wenigstens für eine
Stunde! Lasst uns den feierlichen Augenblick lieber begießen.”

Sichtlich verstimmt setzten sich die beiden Roberts an den Tisch und stießen mit uns an.

“Kalifornischer Weißwein.” Linda beäugte Robert zwei wie ein Wunder. “Schmeckt er dir?”

“Hm”, Robert zwei zuckte die Schultern. “Was heißt denn schmecken?”

“Oh, ich muss euch was erklären. “Arthur sprach zu Linda und mir, als
wollte er etwas sagen, was nicht für alle bestimmt war. “Das Duplizieren
klappt noch nicht für alle Sinne. Nur Sehen, Hören und Tasten werden
kopiert. Das Double sieht genauso aus, fühlt sich genauso an und hat
dieselbe Stimme. Zum Schmecken und Riechen aber müsste man das Erd- und
Wasserelement kopieren. Wenn das so einfach wäre, gäbe es längst
Kinofilme mit Geruch.”

“Typisch Amerika.” Robert eins verzog die Mundwinkel.

“Kein Geschmack”, entfuhr es mir. Sofort bereute ich meine Bemerkung,
als ich sah, wie Robert zwei erbleichte und jeden Gesichtsausdruck
verlor. Linda berührte seine Hand. “Bitte nimm das nicht persönlich,
Robert zwei.”

“Wie?!” Robert zwei riss plötzlich Mund und Augen auf, griff sich an die
Brust und klappte zusammen. Arthur sprang ihm zur Seite und fing ihn
auf. Auch Robert eins wurde kreidebleich und kippte mir in die Arme.
Arthur gab mir ein Zeichen mit dem Kopf. “Schnell in die Kabinen.” Wir
schleiften sie in die Zellen. Sofort ging die Assistentin an die Arbeit.
Linda und ich verfolgten gespannt, wie sich Robert zwei wieder in
Nichts auflöste, während Robert eins langsam zu Kräften kam. Die
Zellentür sprang auf, und Robert trat aufatmend neben Linda. “Was hab
ich gesagt? Neuseeländer sind eben Originale. Und wie steht ’s mit
Europäern?” Er sah mich herausfordernd an.

“Danke, ich werde mich hüten. Sie haben ja selbst erlebt, was dabei rauskommt.”

“Hendrik, Sie enttäuschen mich. Ich hab mich auch getraut.”

“Ja”, meinte Arthur. “Sie könnten auch gratis ...”

“Keine zehn Pferde bringen mich in die Zelle!”

Als Arthur merkte, dass ich standhaft blieb, holte er McDole herbei, der
gerade mit dem Ober sprach. “Eigenartig”, sagte McDole. “Kein Europäer
will sich testen lassen. Dabei sind Europäer nicht schwächer als
Amerikaner. Ich sehe da überhaupt keinen Grund. Auch in mir fließt
europäisches Blut. Meine Vorfahren stammen aus Irland.”

“Warum testen Sie sich dann nicht selber?”

“Das bringt nichts. Ich bin gebürtiger New Yorker. Ich wäre sogar
bereit, Ihnen eine Entschädigung zu zahlen, damit ich endlich etwas
testen kann, was mir schon seit Jahren in den Fingern juckt.”

“Warum ausgerechnet mit mir?”

“Weil Sie nicht nur Europäer, sondern auch Spitzenkoch sind. Einer der
besten der Welt. Ich habe von Ihnen gehört, Hendrik. Ich bewundere Ihre
Kochkunst. Dürfte ich Sie für einen Augenblick unter vier Augen
sprechen?”

Ich hatte keine Ahnung, was der Test mit meinem Beruf zu tun haben
sollte. Das begriff ich erst, als er mir persönlich eine Platte mit
bestem belgischem Käse servierte. “Es ist Ihr Geschmack, Hendrik, der
Sie einmalig macht. Ich möchte testen, ob Ihre Dublette vielleicht doch
etwas schmecken kann. Wenigstens zehn Prozent der Geschmacksempfindung
ihres Originals. Das würde schon reichen. Dann könnte ich in dieser
Richtung weiter forschen. Menschen wie Sie findet man nicht alle Tage.”

Ich kam ins Schwanken. “Wer garantiert mir, dass es keine Nebenwirkungen hat?”

“Dafür lege ich meine Hand ins Feuer, Hendrik.”



Mein Widerstand war gebrochen. Als das Licht in den Zellen nach dem
Erlöschen langsam wieder aufblendete, sah ich mein Ebenbild durchs
dunkle Glas. Die Zellentür sprang auf, und langsam, Schritt für Schritt,
näherten wir uns dem Ende der gläsernen Wand. Hinter meinem Double sah
ich die Kameras, die meine Selbstbegegnung auf Video bannten. Ich gab
mir einen Ruck und schritt zum Rand der Trennwand. Der Schatten meines
Ebenbilds erschien am Boden. Meine Arme zitterten, meine Knie wurden
weich ... Dann wusste ich nichts mehr ...

Als ich die Augen aufschlug, saß ich auf dem Stuhl in Zelle eins. Robert
stand neben mir und drückte mir die Hand. “Bravo! Ich hab ’s gewusst.
Ein Europäer lässt sich nicht kopieren!”

Er stützte mich und half mir aus der Zelle. Benommen steuerte ich den
nächsten Stuhl an. Alle umringten mich. Robert, Arthur, Linda, die
Assistentin und sogar die Kameramänner. McDole kam mit dem Ober,
Sektgläser wurden herumgereicht, alle hoben die Gläser und strahlten
mich an. “Applaus für Hendrik”, prostete Robert, “das nicht zu
kopierende Original.”

Alle klatschten. Plötzlich sah ich in der Runde Robert zwei. Mir wurde
übel. “Darf ich vorstellen”, sagte Robert, “mein Zwillingsbruder
Ronald.”

McDole hielt mir ein Klemmbrett mit Stift hin. “Hendrik, als Europäer
haben Sie doch sicher Sinn für Humor. Würden Sie mir bitte
unterschreiben, dass Sie nichts dagegen haben, wenn wir den Ulk am
Samstag Abend senden. In unserer Serie VORSICHT KAMERA.”

Ich unterschrieb, ohne meine Brille aufzusetzen. Man drückte mir ein
Glas Champagner in die Hand. Ich trank. Alle starrten mich an, als wäre
ich der erste Mensch.

“Kalifornischer Sekt,” sagte Linda. “Schmeckt er Ihnen?”

“Hm”, ich zuckte die Schultern. “Was heißt denn schmecken?”



Alle lachten – außer mir.

Erster Preis beim Mitmach-Projekt im Juli 2004 auf schreib-lust.de


Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband:
https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html