Lichtkinder - Christentum

Der schleichende Fundamentalismus in den Landeskirchen

Der schleichende Fundamentalismus in den Landeskirchen

Die Voraussetzung fuer jedes Verstehen ist eine klare Sprache --- und das bedarf auch der Definitionen--- der Artikel aus der idea fehlt m.E. dieses
https://www.nzz.ch/2005/08/28/il/articleD39BI.html

Zitat:
28. August 2005, NZZ am Sonntag
Der schleichende Fundamentalismus in den Landeskirchen
Religiöse Rechthaberei findet sich nicht nur im Islam oder bei Christen in den USA. Es gibt sie zunehmend auch in den Schweizer Landeskirchen, schreibt Walter J. Hollenweger
Im Weissen Haus beginnt der Tag mit Bibelstudium oder Gebeten. Wer dies schwänzt, wird vom US-Präsidenten ermahnt: «Missed you at Bible study.» Das Nichterscheinen zum Gebet kann einen Karriereknick zur Folge haben. Für diese religiösen Veranstaltungen gibt es weder eine Agenda noch ein Protokoll. Es wird alles «dem Heiligen Geiste» überlassen. So funktioniert der gruppendynamische Event als Trendsetter für die amerikanische Politik. Kritische Rückfragen sind weder möglich noch erwünscht. Die Nahostpolitik der USA wird durch eine perverse Bibelauslegung als «gottgewollt» erfahren, die brutale Hegemoniepolitik wird so religiös abgesichert.

Diese Religiosität schwappt auch nach Deutschland und in die Schweiz, zwar noch nicht auf die Ebene der Politik, wohl aber auf die Ebene der Kirchen und der theologischen Fakultäten. Als ich in Zürich und Bern unterrichtete, stellte ich fest, dass viele Studenten sich überhaupt nicht für die kritische Exegese interessierten. Sie sagten ganz offen: «Was die Professoren erzählen, lernen wir nur für das Examen. Für unsere Frömmigkeit und unseren Dienst als Pfarrer ist es bedeutungslos. Unsere Orientierung erhalten wir in kleinen Gebetszeiten. Dort wird unser Glaube genährt.» Mit anderen Worten: Die Bibel als ein Buch der Aufklärung, die Theologie als kritische Wissenschaft wird aufgegeben zugunsten einer diffusen Frömmigkeit.

Nicht im Stall geboren
In den USA führt das zu grotesken Erscheinungen. Ärzte, die legale Abtreibungen vornehmen, werden von frommen Eiferern mit dem Tode bedroht. Der ehemalige Justizminister John Ashcroft, Mitglied der pfingstlichen «Assemblies of God» und ein radikaler Abtreibungsgegner, kam in Schwierigkeiten, wenn er gegen diese Todesdrohungen vorgehen sollte, denn er war inhaltlich mit den frommen Abtreibungsgegnern einverstanden, konnte aber als Justizminister die «Justiz der Strasse» nicht dulden.

In der Schweiz und in Deutschland muss fast jeder Pfarrer drei alte Sprachen lernen und sechs Jahre lang Theologie an einer anerkannten Universität studieren. Da lernt er zum Beispiel, dass Jesus nicht in Bethlehem, nicht in einem Stall und nicht von einer Jungfrau geboren wurde. Die vom Zürcher Kirchenrat herausgegebene Bibel erwähnt eine alte biblische Handschrift, die Jesus als den unehelichen Sohn des Joseph bezeichnet (Anmerkung zu Matthäus 1, 16). Er oder sie lernt, dass Adam und Eva, Kain und Abel, Abraham und Isaak, Hiob und Noah keine historischen Personen sind, sondern historisierte Identifikationsfiguren, die archetypische Erfahrungen spiegeln.

Aber in den Gemeinden der Kirchen klingt es ganz anders. Die Bethlehem- Idylle wird behauptet mit Krippenspiel und Kerzenschein. Mit Tannenduft und Johann Sebastian Bach wird uns eine Idylle vorgegaukelt, von der das kirchliche Personal sehr wohl weiss, dass sie nicht der Wahrheit entspricht. Wenn dann die Menschen merken, dass sie falsch informiert worden sind, reagieren sie mit Ärger.

Ich weiss das, weil ich Kurse gebe für Menschen, die der Kirche fern oder kritisch gegenüberstehen. Ich tue das, damit sie erkennen, auf welche Schätze sie verzichten, wenn sie wegen der Kirche die christliche Tradition aufgeben. Und das wollen sie eigentlich gar nicht. Aber sie wollen nicht «ständig angelogen» werden, wie ein Teilnehmer klagte. Sie sind dankbar, wenn man ihnen hilft, die Bibel mit Verstand und kritisch zu lesen, wenn sie zu unterscheiden lernen zwischen historischen Berichten und theologischen Legenden.

Ob Jesus als Jungfrauensohn in Bethlehem geboren wurde oder nicht - das ist nicht nur irrelevantes Theologengezänk. Hinter dieser Auseinandersetzung versteckt sich ein schleichender Fundamentalismus, der nicht weniger gefährlich ist als der islamische. Unser gefährlichster Feind kommt nicht von aussen, sondern von innen, aus der Mitte unserer eigenen Kultur. Er stellt einen exklusiven Wahrheitsanspruch auf. Mit Berufung auf das Johannes- Evangelium (14, 6) spricht er denen, die anders glauben als wir, das Heil und die Wahrheit ab. Er erklärt seine eigene Politik für «gottgewollt». Gegen eine gottgewollte christliche Politik können wir so wenig argumentieren wie gegen den heiligen Krieg des Islams.

Was unternimmt das Personal der Landeskirchen gegen diese Verbiegung der biblischen Wahrheit? Ein Pfarrer sagte mir: «Der grösste Teil meines Gehaltes besteht aus Schweigegeld.» Auch kirchliche Behörden schweigen. Seit Jahrzehnten versprechen die theologischen Fakultäten Besserung, nachdem Emil Brunner schon vor bald 100 Jahren die theologischen Fakultäten wegen ihrer Ineffizienz kritisiert hatte. Bis jetzt hat sich grundsätzlich nichts geändert. Das kann jeder beim nächsten Kirchgang selber herausfinden. Oder man kann seine Kinder befragen, was sie im Unterricht gelernt hätten.

Wenn zum Beispiel ein reformierter Pfarrer, Doktor der Theologie der Universität Basel, seine Unterrichtskinder in ihr Heft schreiben lässt: «Ich bin ein grundverlorener Sünder und bedarf der Erlösung durch das Blut Jesu Christi», so ist die Aussage zwar durch Apostel Paulus gedeckt. Trotzdem grenzt es an ein Verbrechen, solches den Kindern zu diktieren, denn die Jugendlichen können sich gegen diese Katechese nicht wehren. Sie quittieren diesen Unterricht, indem sie nach der Konfirmation in Scharen von der kirchlichen Bildfläche verschwinden. Unser Pfarrer im Berner Oberland kaschiert diese Entwicklung so: «Es ist gar nicht nötig, dass die Jugendlichen nach der Konfirmation in der Kirche mitmachen. Es genügt, wenn sie im Turn- und Musikverein mitmachen: Das ist auch Kirche.» Hier wird der Pfarrer als «Obergrüezicheib» der Dorfvereine gesehen. Warum er dann sechs Jahre lang Theologie studieren muss, ist mir ein Rätsel.

Rechthaber-Christen
Die Zahl der fundamentalistischen Pfarrer und Kirchgemeinderäte in den Landeskirchen steigt rapide. Und dieser schleichende Fundamentalismus in unserer Landeskirche führt einerseits zu einem exklusiven Christentum, das sich von der biblischen Tradition und von der Wirklichkeit abkoppelt und - wie in den USA - zu einem gewalttätigen Rechthaber-Christentum führen kann. Natürlich sind die Fundamentalisten in allen Religionen - auch bei uns - eine Minderheit. Aber sie sind eine laute und manchmal eine gewalttätige Minderheit. Das führt aber auch dazu, dass sich die kritischen Christen degoutiert von einer solchen Kirche abwenden. Sie wollen nicht ständig für dumm verkauft werden.

Die meisten Theologen der Landeskirchen weisen den Vorwurf des Fundamentalismus weit von sich und behaupten, die andern, zum Beispiel die Freikirchen, seien fundamentalistisch. Auch diese Behauptung kann jeder Leser bei der nächsten Weihnachtspredigt selber prüfen. Die Ausrede zeigt im Übrigen auch, wie oberflächlich die betreffenden Theologen und Theologinnen studiert haben. Die Methodistenkirche zum Beispiel (der auch George W. Bush angehört) hat in den USA, in der Schweiz und in Deutschland mit Vehemenz gegen die Verdrehung der Bibel durch den US-Präsidenten protestiert. Für sie gilt die Gleichung «US-Politik gleich Christentum» nicht. Auch waren zwei Generalsekretäre des Ökumenischen Rates in Genf Methodistenpfarrer. Wer in der Ökumene mitmacht, kann kein Fundamentalist sein, denn er bezeugt durch seine Mitgliedschaft im Kirchenbund, dass er auch andere Formen des Christentums als die seinige anerkennt. Das ist der Hauptgrund, warum die römisch-katholische Kirche nicht Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen sein kann. Nach ihrem Selbstverständnis sind die nicht römischen Kirchen höchstens Kümmerformen der allein wahren Kirche.

Die wissenschaftliche Theologie, die jeder Pfarrer (katholisch und evangelisch) studieren muss, hat gezeigt, dass es unterschiedliche (aber nicht beliebige) Interpretationen des Jesus von Nazareth gibt, von den vier Evangelien bis zu Paulus und der Offenbarung des Johannes. Wenn aber diese Unterschiede auf eine einzige Ideologie reduziert werden, verschwindet die biblische Ökumene. Dies führt zu einem gefährlichen und rechthaberischen Fundamentalismus, wie wir ihn in den USA beobachten können. Noch ist es bei uns nicht so weit. Aber die jüngste Geschichte zeigt: Wenn religiöse Schwätzer in den Kirchen die Oberhand gewinnen über besonnene und informierte Ausleger der biblischen Texte, dann ist es für den Staat fast unmöglich, Gegensteuer zu geben. Gegen fanatisierte Religion kommt man mit Argumenten nur schwer an. Darum muss die Gesellschaft ein Interesse daran haben, dass keine rechthaberischen Fundamentalisten - weder islamische noch christliche - unsere Kanzeln beherrschen.

In Birmingham habe ich jahrelang mit einem islamischen Theologen zusammen Christologie (die Lehre von Jesus Christus) gelehrt. Ich tat das, weil es damals schon 57 Moscheen in Birmingham gab und weil ich einen theologischen Dialog mit den Muslimen für nötig hielt. Mein Kollege fing die Vorlesung mit dem Satz an: «Für zwei Religionen ist Jesus von Nazareth konstitutiv. Diese zwei Religionen sind der Islam und das Christentum.» Dann führte er uns durch den Koran und zeigte das koranische Christentumverständnis. Es entspricht in weiten Teilen demjenigen des neutestamentlichen Judenchristentums, das von den ersten Aposteln (ausser Paulus) repräsentiert wird. Es wurden aber auch Unterschiede klar. Die Muslime können nichts anfangen mit Trinität und Kreuz.

Am Ende des letzten Semesters fragte ich meinen islamischen Kollegen: «Wo sehen Sie Fortschritte in unserer Zusammenarbeit?» Der islamische Theologe sagte: «Die Christen können ihr Gründungsdokument, die Bibel, kritisch hinterfragen. Sie können ihre Ideologie, die Dogmatik, und ihre Institution, die Kirche, kritisch befragen. Dem würden im Islam der Koran, die Scharia und die Moschee entsprechen. Wir können diese nicht - noch nicht - hinterfragen. Solange wir das nicht lernen, werden wir nie dialogfähig.»

Wer den Frieden will, muss den Krieg in den Köpfen bekämpfen, nicht mit Bomben, sondern mit den Waffen des Geistes und des Herzens. Gegen den christlichen und den muslimischen Fundamentalismus muss sowohl mit Argumenten wie mit dem Vorbild des Glaubens angegangen werden, denn echter Glaube braucht weder die Exklusivität gewisser amerikanischer Christen noch diejenige der fundamentalistischen Muslime



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Re: Der schleichende Fundamentalismus in den Landeskirchen

Ursprungsdokument zum persönlichen Vergleich: https://www.ekd.de/download/EZWINF102.pdf
Wenn von christlichem Fundamentalismus die Rede ist, dann muss man wohl auch den Ursprung und die Selbstdefinition benennen:
Die Bezeichnung "Fundamentalismus" rührt von der Schriftenreihe "The Fundamentals: A Testimony to the Truth" her. Fünf Grundwahrheiten ("5 fundamentals" werden darin dem Modernismus gegenübergestellt:
1. Verbalinspiration
2. Gottheit Christi
3. Jungfrauengeburt
4. Sühneopfer Christ
5. die leibliche Auferstehung und Wiederkunft Christi
Die fundamentalistische Glaubenshaltung betont die Notwendigkeit der persönlichen Bekehrung.

Dazu gesellt sich oft eine Abkapselung von den Normalo-Christen und ausgeprägtes Elite-Bewusstsein, die einzig wahren und jedenfalls die besseren Christen zu sein. Ihre Basis ist offensichtlich weder hinterfragbar noch diskutierbar. Sie hat dogmatisch fast Offenbarungscharakter.

In https://www.dsp.at/ka_kmb/1999_05/fundamentalismus.htm ist einiges zu den Gründen für die Attraktivität von Fundamentalismus in einer immer komplexer werdenden aufgeklärten säkularen Welt geschrieben:

Zitat:
Warum der starke Trend zum Fundamentalismus?
Thomas Mayer (Fundamentalismus, rororo aktuell 1989) spricht von einem „Aufstand gegen die Moderne“. Vor der Zeit der Aufklärung bildeten Welterklärung, Lebensführung und die Erwartung des Heils eine Einheit In den letzten Jahrhunderten - und diese Entwicklung hat in den letzten Jahrzehnten alle Schichten der Bevölkerung erfaßt - sind diese Bereiche auseinander gefallen. Die Menschen wissen viel mehr, haben viel mehr Freiheit in der Lebensführung, mehr Chancen zur persönlichen Entfaltung, aber in der Suche nach Halt und Orientierung, nach Geborgenheit und Tröstung werden sie allein gelassen, auf sich selbst zurückgeworfen. Nicht wenige sind durch die gewonnene Freiheit überfordert, sehen ihre Identität bedroht. Gotthard Fuchs (Wiesbaden) hat die Sehnsucht, aber auch die Angst vieler Menschen unserer Zeit in folgenden Bereichen festgestellt:
* Die Sehnsucht nach Gewißheit und die Angst vor Veränderung.
* Die Sehnsucht nach Einheit und die Angst vor der Vielfalt.
* Die Sehnsucht nach Entschiedenheit und die Angst vor der Offenheit.
* Die Sehnsucht nach Geborgenheit und die Angst vor dem Erwachsenwerden.
* Die Sehnsucht nach Bewahrung und die Angst vor dem Neuen.
* Die Sehnsucht nach Führung und die Angst vor der Freiheit.
Bei so viel unerfüllter Sehnsucht und so vielen Ängsten liegt die Versuchung nahe, in Schein-Sicherheiten zu flüchten. Der Fundamentalismus bietet sich dafür an.






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Re: Der schleichende Fundamentalismus in den Landeskirchen

Ein Lexikon-Eintrag zum Gemeinsamen uund zur Abgrenzung Evangelikal - fundamentalistisch https://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Evangelikal.html

Der Sprachgebrauch in USA und Deutschland ist widersprüchlich. Das führt zu Missverständnissen, wenn man nicht gleich eine Definition mitliefert.



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