Meister Eckhard--Von ungelassenen Leuten
"Von ungelassenen Leuten, die voll Eigenwillens sind"
Die Leute sagen:"Ach, ja, Herr, ich möchte gerne, daß ich auch so gut zu Gott stünde und daß ich ebensoviel Andacht hätte und Frieden mit Gott, wie andere Leute haben, und ich möchte, mir ginge es ebenso oder ich wäre ebenso arm", oder: "Mit mir wird's niemals recht, wenn ich nicht da oder dort bin und so oder so tue, ich muß in der Fremde leben oder in einer Klause [Einsiedelei] oder in einem Kloster".
Wahrlich, darin steckt überall dein ICH und sonst ganz und garnichts. Es ist der Eigenwille, wenn zwar du's auch nicht weißt oder es dich auch nicht so dünkt: niemals steht ein Unfriede in dir auf, der nicht aus dem Eigenwillen kommt, ob man's nun merkt oder nicht. Was wir da meinen, der Mensch solle dieses fliehen und jenes suchen, etwa diese Stätten und diese Leute und diese Weisen oder diese Menge oder diese Betätigung - nicht das ist schuld, daß dich die Weise oder die Dinge hindern: DU bist es (vielmehr) selbst in den Dingen, was dich hindert, denn DU verhältst dich verkehrt zu den Dingen.
Darum fang zuerst bei dir selbst an und LAß DICH! Wahrhaftig, fliehst du nicht zuerst dich selbst, wohin du sonst fliehen magst, da wirst du Hindernis und Unfrieden finden, wo immer es auch sei. Die Leute, die da Frieden suchen in äußeren Dingen, sei's an Stätten oder in Weisen, bei Leuten oder in Werken, in der Fremde oder in Armut oder in Erniedrigung - wie eindrucksvoll oder was es auch sei, das ist dennoch alles nichts und gibt kein Frieden. Sie suchen völlig verkehrt, die so suchen. [...] Aber, was soll er denn tun? Er soll zuerst sich selbst lassen, dann hat er alles gelassen. Fürwahr, ließe ein Mensch ein Königreich oder die ganze Welt, behielte sich aber selbst, so hätte er nichts gelassen. Läßt der Mensch aber von sich selbst ab, was er auch behält, sei's Reichtum oder Ehre oder was immer, so hat er alles gelassen.
Denn wer seinen Willen und sich selbst läßt, der hat alle Dinge so wirklich
gelassen [...]. Denn was du nicht begehren willst, das hast alles hingegeben und gelassen um Gottes willen. Darum sprach unser Herr: "selig sind die Armen im Geiste"(Matth.5,4), das heißt: an Willen. Und hier soll niemand zweifeln Gäb's irgendeine bessere Weise, unser Herr hätte sie genannt, wie er ja auch sagt:"Wer mir nachfolgen will, der verleugne zuerst sich selbst" (Matth.16,24);daran ist alles gelegen. Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du DICH findest, da laß von dir ab; das ist das Allerbeste.
https://www.unix-ag.uni-kl.de/~kasparek/Eckhart/Traktat.2.d.html#4
Meister Eckhart
https://de.wikipedia.org/wiki/Meister_Eckart
Beste Grüße
Annegret