Leila Marouane: Entführer
Leila Marouane: Entführer
Scheidung auf algerisch
oder wie man einer Tragödie mit Witz begegnen kann. Eine Parabel auf ein Algerien, das in Lüge und Aberglauben, Doppelmoral, Heuchelei und Gewalt erstickt.
Offiziell hat Leila Marouane nicht nur zwei verschiedene Namen: zwei Vor- und zwei Nachnamen. Glaubt man den Akten der Behörden, dann ist die 43-jährige Schriftstellerin sogar gleich an drei unterschiedlichen Orten geboren worden: in Algerien, Tunesien und in Frankreich:
"Meine Geschichte ist recht kompliziert. Ich bin mitten im algerischen Befreiungskrieg geboren - 1960, also zwei Jahre vor der Unabhängigkeit. Meine Eltern waren beide führende Widerstandskämpfer - es war lebensnotwendig für sie, Algerien zu verlassen, um mich in einem anderen Land zur Welt zu bringen. Dieses Land war Tunesien, genau genommen Djerba. Als zwei Jahre später dann die Unabhängigkeit Algeriens offiziell proklamiert wurde, kehrten meine Eltern in ihre Heimat zurück und ließen mich auch dort registrieren."
Das war Leilas zweite Geburt. Ihre dritte Geburt fand erst 30 Jahre später statt. Die junge Frau und inzwischen bekannte Journalistin war von islamistischen Terroristen brutal überfallen worden und nach Frankreich geflohen. Dort bekam sie laut französischer Bürokratie Nantes als dritten Geburtsort zugewiesen.
Absurdität des algerischen Alltags
Das Ganze klingt absurd, genauso absurd wie all die Geschichten, die Leila Marouane in ihren Romanen erzählt. Sie alle hat sie im französischen Exil geschrieben, und dennoch berichtet sie nach wie vor von der Absurdität des algerischen Alltags. So kann zum Beispiel in Algerien ein Mann seine Frau verstoßen und an einen neuen Mann weitergeben. Und zurückbekommen kann er sie nur, wenn der neue Ehemann einwilligt. Was aber, wenn der neue Ehemann die Frau gar nicht hergeben will? Was, wenn er und die Frau schon seit Jahren eine geheime Liaison hatten und die beiden plötzlich wie vom Erdboden verschwunden sind?
Diese für europäische Ohren phantastisch anmutende Verwicklung ist das Thema ihres Buches "Ravisseur" - zu deutsch Entführer oder auch Verführer. Eine durch und durch skurrile Geschichte, die sich am Anfang des Romans etwas grotesk anlässt:
"Mein Vater ruhte reglos auf dem Kanapee, während meine Mutter mit Youssef Allouchi in den heiligen Hafen der Ehe einlief. Der Mann meiner Mutter wohnte in dem kleinen Haus gegenüber. Wir hatten freien Blick auf seinen Garten, der unsere Balkone mit seinem Duft erfüllte."
Maske der Sorglosigkeit als Tarnkappe
Für Leila Marouane ist das Phantastische ein Raum der Freiheit. Eine kindliche Schutzburg gegen eine unverständliche Realität. Ganz so, als könnte sie sich damit jeder sozialen und politischen Realität entheben, besteht sie darauf, dass sie nur die reinste Fiktion schreibt. So weigert sie sich beharrlich, über die politische Brisanz ihrer Bücher zu sprechen und wird sogar ärgerlich, wenn sie auf ihre Vergangenheit als Journalistin in Algerien angesprochen wird.
Auch beim "Ravisseur" tut sie so, als hätte sie eine Geschichte geschrieben, die überhaupt nichts mit Algerien zu tun hat. Das ist umso erstaunlicher, als unter der Oberfläche des Romans die algerische Realität unverkennbar zu spüren ist. So sind zum Beispiel hinter den immer wieder beschworenen, apokalyptischen Erdbeben ganz klar die terroristischen Anschläge zu erkennen, die in den 1990er Jahren Tausende von Opfern gefordert und sie selbst aus dem Land getrieben haben. Das ist wohl auch die Meinung der algerischen Behörden, die ihre Bücher nach wie vor verbieten.
So wie sich hinter dem scheinbar nach Entführer klingenden Romantitel "Ravisseur" der Verführer verbirgt, so versteckt sich auch hinter der sich nach außen humorvoll gebenden Leila Marouane eine Person, die ihre Tragik mit einer sorglosen Maske tarnt.
Rebecca Partouche
© DEUTSCHE WELE/DW-WORLD.DE 2003
Leila Marouane
Entführer
Haymon, 2003
ISBN 3-85218-427-4
17.90 EUR
Haymon Verlag, Innsbruck
Quelle:https://www.qantara.de/webcom/show_articl...-35/_p-1/i.html
Lieben Gruss Petra