Auch im schlimmsten Getto gibt es Hoffnung POP: Xavier Naidoos zweite "O Live Lait"-Show bringt das Thema Integration kurzweilig auf die Bühne des Nationaltheaters
Von unserem Redaktionsmitglied Jörg-Peter Klotz
Info Die komplette Show steht ab 25. Dezember im Internet unter www.olivelait.de gegen eine Gebühr von 9,99 Euro zum Herunterladen bereit. Einzelne Songs im reinen Audio Format kosten 1,49, ein Video-Paket mit den Duetten 2,49 Euro.
Die "Ode an die Freude" ist so etwas wie die Hymne "O Live Lait"-Show, mit der Xavier Naidoo jetzt zum zweiten Mal das Mannheimer Nationaltheater füllt. Und zur Freude gibt es durchaus Grund: Denn obwohl sich der Abend unter dem Motto "170 Nationen in einer Stadt" inhaltlich dem gewöhnlich sperrigen Thema Integration widmet, sind diese zwei Stunden eine erstaunlich kurzweilige Gratwanderung zwischen Unterhaltung und Information. Die erste Auflage der Show, die sich zu Hunderttausenden als Bonus-DVD zum Nummer-1-Album "Telegramm für X" verkauft hat, war zwar auch gelungen, hatte aber aufgrund einiger eher langatmiger Elemente bei weitem nicht diese flüssige Taktung, die inszenierten Jubel für die Aufzeichnung überflüssig machte: Die Zuschauer applaudieren auch so stehend, wie es Naidoos Co-Moderator Christian "Chako" Habekost beim "Aufwärmen" des Publikums prophezeit hat.
Die Show hat drei wesentliche Bestandteile: Musik, Gespräche auf der Couch und eingespielte Reportagen, die Xavier Naidoo bei der Vorort-Recherche zeigen. Dabei schaut sich der Sänger auf dem Mannheimer Marktplatz, in der Schlossuniversiät und im Interkulturellen Bildungszentrum (Ikubiz), das nichtdeutschen Jugendlichen beim Übergang von der Schule in den Beruf hilft, um. Der längste Beitrag widmet sich der Mannheimer Moschee - offensichtlich eine Inspiration für viele Besucher, denn im Foyer diskutieren hinterher viele, dass man die "offene Moschee" längst mal hätte besuchen müssen. Klassenziel erreicht. Zumal auch Talat Kamran, der Naidoo durch das islamische Gotteshaus geführt hat, den Stellenwert des Besuch hoch ansetzte: "Unsere Gemeinde nimmt das auch so auf. Das ist ein echter Schritt zur Integration."
Zwangsläufig besonders eindrucksvoll: Ein Besuch in den Banlieues von Paris, wo Naidoos Team gefährlich lebte: "Wir wurden sogar mit Steinen beworfen", berichtet der Popstar. Gewundert habe ihn das nicht, schließlich würden die Kamerateams der Medien sich nicht nur dort stets auf die negativen Aspekte konzentrieren. Das Gegenteil tut Naidoo - und zeigt junge Leute, die auf der Straße spontan ihr musikalisches Talent demonstrieren - oder sich engagieren. Wie John. Der junge Pariser ist ins Nationaltheater gekommen, um zu berichten, dass es auch für das finsterste Vorstadt-Getto Hoffnung gibt. Das Problem sei nur, "die jungen Leute glauben einem das nicht mehr". Trotzdem sei es wichtig, ihnen ein positives Beispiel zu geben. "So wie es mein Bruder früher für mich getan hat."
Oder wie es die Saïan Supa Crew (SSC) darstellt. "Ich wüsste nicht, wo wir ohne die positive Energie der Musik wären", erzählt Féfé, einer der Protagonisten des Hip-Hop-Kollektivs, im Gespräch mit Naidoo und Habekost. Diese Energie hat sie nicht nur in Frankreich zu Stars gemacht - erst im März haben die fünf rasanten Mikrofon-Artisten den Heidelberger Karlstorbahnhof in ein Tollhaus verwandelt. Auch im Nationaltheater reißen sie die Zuschauer von den Sitzen. Und als Naidoo sich für einen zweiten Song zu ihnen gesellt, schaffte er es erstaunlicherweise, sich relativ nahtlos in ihr aberwitziges Rap-Tempo und die Derwisch-Choreografie einzupassen.
Überhaupt beeindruckt der Mannheimer wieder einmal durch enorme Wandlungsfähigkeit: Eben noch im Rap-Gewitter steht er Minuten später neben Ex-Ultravox-Sänger und "Live 8"-Mitinitiator Midge Ure auf der Bühne und schmettert dessen Welthit "Vienna" - ein Erlebnis, weil die gewohnt fulminante Begleitband The Wright Thing dem Lied zwar seine bombastische Hymnenhaftigkeit lässt, es aber durch sukzessive verschärftes Tempo ungeahnt mitreißend inszeniert. Im Duett mit Rafet el Roman - und in seinem neuen Song "Europa" - beweist Naidoo auch Sinn fürs Arabeske. Diese Töne sind für deutsche Hörer oft ungewohnt - von daher war es Glück im Unglück, dass beim Soloauftritt des türkischen Superstars, dessen nächste Live-Stationen Tel Aviv, Baku und Moskau sind, die einzige spürbare Technik-Panne eine Wiederholung für die Kameras nötig macht. Beim dritten Durchlauf kommen die Hitqualitäten seines Songs auch beim Letzten an. Außerdem hat Naidoo neben einer druckvollen Version der Hitballade "Was wir alleine nicht schaffen . . ." neben "Europa" noch einen weiteren neuen Song zu bieten. Zu "Die Stadt ist aufgewacht" tanzen 17 Mannheimer Mädchen, die vor einem Jahr an Schulen ohne Nennung des Auftraggebers gecastet wurden, eine MTV-reife Choreografie von Bettina Habekost.
Deren Ehemann "Chako" bleibt das Schlusswort vorbehalten: "Integration funktioniert im Theater und auf der Bühne wunderbar, wichtiger wäre es aber auf der Straße." Und auch wenn eine solche Show kein konkretes Problem lösen wird, liefert sie genug Denkanstöße und gute Beispiele, die ab 25. Dezember hoffentlich eine Wirkung entfalten. Dann wäre die "Ode an die Freude", die zum Schluss noch mal erklingt, doppelt angebracht.
Mannheimer Morgen 07. Dezember 2006
Quelle: www.morgenweb.de |