... mal was zum nachdenken !
[Leben]
25. April 2007. Die Angst regiert das Land.
Seit dem Eindringen von amerikanischen Elite-Truppen in die russisch besetzten Gebiete Serbiens ist es nicht mehr ruhig geworden in der Welt. Überall brechen Konflikte aus, stürzen von Amerika oder den wieder erstarkten ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten unterstützte oppositionelle Parteien die Regierungen. Österreich, Schweden und Norwegen sind russisch besetzt, während die Amerikaner den westlichen Teil Europas kontrollieren ...
Ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Um mich herum im Zimmer war es dunkel. Während ich meinen Blick durch den Raum wandern ließ, um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, spürte ich, wie das klitschnasse T-Shirt an meinem Körper klebte. Licht gab es keines. Seit sie hier den Ausnahmezustand verhängt hatten, wurde um 22 Uhr der Strom abgeschaltet. Nur die Suchscheinwerfer und militärischen Einrichtungen wurden versorgt. Ich tastete nach meiner Brille, fand sie auch und setzte sie auf. Dann wälzte ich mich schwerfällig aus dem Bett und ging zum Fenster.
Ich zog die Vorhänge zurück und schaute auf die Stadt, die in ihrer Dunkelheit einer Geisterstadt glich. Nur die Lichter der Suchscheinwerfer stachen wie riesige Skelettfinger in den Nachhimmel und erhellten diesen. Kein Stern war zu sehen. Ich seufzte und versuchte meine Gedanken zu ordnen, sah wie in einem inneren Film die Bilder der Nachrichten, die sich seit Wochen jedesmal glichen: Hunger. Leid. Krieg. Ich dachte an den Menschen, den ich über alles liebte, meine Freundin Sandra und spürte einen stechenden Schmerz in meiner Brust. Hatte unser Kind wirklich nur eine Chance wie eine Schneeflocke, die auf dem warmen Asphalt zergeht und, diese Frage quälte mich am meisten, war es denn nicht unverantwortlich gewesen, dieses noch ungeborene Leben zu zeugen ? Ich spürte, wie eine Träne über meine Wange lief.
Es war 4:20 Uhr.
"Herzlichen Glückwunsch !" Meine Mutter fiel mir um den Hals und küßte mich. "Alles Gute zum Geburtstag." Sie lächelte mich an. Doch es war nicht dieses fröhliche und unbeschwerte Lächeln, das ich an ihr immer so mochte. Es war ein gequältes Lächeln, das ihr Gesicht entstellte, ja, es fast schon zu einer Grimasse machte. Ich blickte in ihre ehemals glänzenden Augen, die jetzt stumpf in den Augenhöhlen lagen und spürte, wie etwas in meiner Kehle würgte. Seit Vater tot war, erschossen von Plünderern, wie sie jetzt überhand nahmen, war sie eine gebrochene Frau. "Komm, ich zeige Dir Dein Geschenk", rissen mich ihre Worte aus meinen Gedanken, "Du wirst überrascht sein ..." Sie gab mir ein liebevoll in dunkel blauem Geschenkpapier eingepacktes Kästchen. "Komm, mach auf."
Ich öffnete das Geschenk und glaubte meinen Augen nicht zu trauen, denn ich hielt einen Wohnungsschlüssel in den Händen. "Damit Du und Sandra endlich das tun könnt, was ihr schon so lange vorhabt, nämlich zusammenzuziehen. Und für das Baby ist es auch das Beste. Außerdem habe ich die Miete für ein Jahr im voraus überwiesen. Na, jetzt bist Du sprachlos, oder ?" Ich schaute Mutter an. "Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Das ist sehr lieb von Dir ... aber glaubst Du, das wir alle dieses Jahr noch erleben ?" Eine tiefe Traurigkeit lag in ihrer Stimme, als sie sagte: "Ich weiß es nicht, mein Sohn ... aber ich bete für euch !"
Kennen Sie diese Momente, in denen das Leben oder zumindest Bruchstücke davon in Ihrer Erinnerung wiederkehren ? Wo Momente des Glücks, aber auch Momente der Trauer an Ihrem geistigen Auge vorbei huschen ? Wann immer ich an meine wunderschöne Freundin dachte, dann erlebte ich solche magischen Momente ... unsere erste Begegnung, unser erstes Rendezvous, unser erster zärtlicher Kuß.
Und mein erstes Gedicht, daß ich für sie schrieb und bei dem sie weinte, als sie es laß.
"und wenn kein mensch mehr zu dir hält
und wenn dein bester freund dich verläßt
und wenn du nicht mehr an die LIEBE glaubst
die das wärmende licht im dunkeln ist
und wenn dein gott dich nicht hört
und wenn die wände dich erdrücken
und wenn die einsamkeit dich wie eine mauer umgibt
dann werde ich bei dir sein"
Ich hoffte nur, daß ich dieses Versprechen niemals brechen mußte.
Es war Sonntag und so besuchte ich den Gottesdienst. Es war eigentlich so wie immer mit der Ausnahme, daß die Kirche voll war statt halb leer und daß der Pfarrer über den Krieg predigte statt über die Nächstenliebe. Es schien so, als würden wir alle Zuflucht suchen bei Gott und doch zu wissen, daß er uns nicht wird helfen können.
Nach dem Gottesdienst fuhr ich zu Sandra. Ihre Eltern hatten mich zum Essen eingeladen. Sandras Mutter begrüßte mich an der Haustür. Meine Freundin selbst fand ich im gemütlichen Kaminzimmer, wo sie laß. Als ich eintrat, lief sie mir entgegen. "Herzlichen Glückwunsch und alles Gute zum Geburtstag !" Wir küßten uns lange. Dann schaute ich meine Freundin an. "Du schaust blaß aus." "Ich habe schlecht geschlafen und Dir ist es wohl ebenso ergangen" spielte sie auf die verräterischen Ringe unter meinen Augen an. "Mehr schlecht als recht" mußte ich zugeben. Sandra nahm meine Hand. "Komm mit, ich zeige Dir Deinen Geburtstagstisch."
Sie führte mich zu dem kleinen Beistelltisch, auf dem ein riesengroßer Blumenstrauß prangte. Daneben nahmen sich die beiden Bücher und die Flasche Rotwein fast bescheiden aus. "Aha, Böll und Homér was will man mehr ?" witzelte ich, wurde aber sofort wieder ernst, als ich das bedrückte Gesicht meiner Freundin sah. "Hoffentlich ist es nicht der letzte Geburtstag, den wir zusammen feiern" sagte sie leise. Wie gerne hätte ich jetzt etwas Tröstendes zu ihr gesagt, aber ich konnte es nicht ...
Draußen läuteten die Kirchturmglocken. Es war 12 Uhr.
Nach dem Mittagessen, daß sehr schweigsam verlaufen war, fuhren Sandra und ich zu mir. Mutter begrüßte Sandra herzlich und holte dann eine Vase für die Blumen. "Wie schön sie sind fast so wie eine Oase in der Wüste, die dem Leben keine Chance gibt." Ich sah die Tränen in den Augen meiner Mutter schimmern und kam mir unendlich hilflos vor. Sandra legte den Arm um sie. "Vielleicht wird sich doch noch alles zum Guten wenden. Denn wer kann es schon verantworten, Milliarden von Leben grausam zu vernichten ? Es darf keinen Krieg geben, denn jedem muß bewußt sein, daß es der letzte wäre ..." Vielleicht manchmal bewunderte ich die Kraft und den Lebensmut meiner Freundin, nie würde sie den Traum von einer glücklichen Zukunft aufgeben !
Und doch, waren wir nicht alle längst verloren ? Hatte die Menschheit denn überhaupt noch eine letzte Chance oder sollte das gewissenlose Machtstreben der Politiker das Armagedon, das Ende aller Tage, bedeuten ?
Deutschland unsere Heimat, wo amerikanische Atomwaffen auf der einen und russische Atomraketen auf der anderen Seite stationiert waren. Jederzeit bereit, eine atomare Eiszeit heraufzubeschwören. Alpha und Omega Anfang und Ende. Wieviel Zeit blieb uns noch, bis unsere Bestimmung wahr werden sollte ?
Ein Tag ? Ein Jahr ? Ein Menschenalter ?
Wir gingen über die Felder. Hand in Hand. Wie zwei Menschen, die auf der Suche nach dem letzten Paradies sind. "Manchmal scheint es so, als würden wir beim Gehen den Boden unter den Füßen verlieren" sinnierte Sandra. Ich blickte sie fragend an. "Wolltest Du das denn ?" Sie nickte. "Manchmal schon ... und Du ?" Ich schaute auf das Land, das weitestgehend brachlag. Die Bauern hatten keinen Samen und Dünger mehr bekommen, die meisten von ihnen waren enteignet worden.
Mit meinen Fingern fuhr ich Sandras weiche Gesichtszüge nach, nahm ihre Hand und küßte sie. "Können wir denn das vergessen, was uns bedrückt ? Es würde doch nichts bringen, wenn wir unsere Angst vor der Zukunft durch Flucht aus der Realität kompensieren." Sandra fing an zu weinen. "Ja, ich weiß. Du hast Recht aber ich habe eine scheiß Angst vor dem, was vielleicht kommt." Ich nahm sie ganz fest in die Arme. "Ich auch, mein Schatz, ich auch ..." Und während sie in meinen Armen weinte, ging am Horizont die Sonne blutrot unter zum letzten Mal ?
Die Sirenen heulten. Sandra und ich fuhren aus dem Bett hoch. "Oh, mein Gott ! Was bedeutet das ?" flüsterte Sandra. Ich sagte nichts und machte das batteriebetriebene Radio an, das auf meinem Nachttisch stand.
Und dann hörten wir es: "... hat Rußland vor zwei Minuten mit atomaren Sprengköpfen bestückte Langstreckenraketen auf das Bundesgebiet abgefeuert. Bitte begeben sie sich in die ihnen zugewiesenen Luftschutzkeller und schützen sie sich vor der Strahlung. Wie das Verteidigungsministerium bekanntgab, hat Rußland vor zwei Minuten ..."
Die Türe öffnete sich und meine Mutter kam total verstört ins Zimmer. Mit der Taschenlampe leuchtete sie erst mir, dann Sandra ins Gesicht. "Ist das das Ende ?" fragte sie. Ich mußte schlucken, ehe ich antworten konnte. "Ja" sagte ich rauh und nahm sie und Sandra in den Arm. "Unser Kind hat verloren."
"... Das ist der letzte Ton, den Sie hören werden. Bitte seien Sie nicht beunruhigt. Das ist der letzte Ton, den Sie hören werden. Bitte seien Sie nicht beunruhigt. Das ist der letzte Ton ..."
Der Blitz blendete uns, machte für Sekunden die Nacht zum Tag. Den Donnerschlag vom Bersten der Atombomben hörten wir nicht mehr ...
Stille lag über den Kontinenten und Meeren, den Tälern und Bergen.
Jegliches Leben war tot. Ausgelöscht von denen, die sich die Erde Untertan gemacht hatten.
Die Erde hatte verloren.
Für immer.
Martin Frick
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