Das Summen der Farben
Ein Gespräch über das Reifen der Wahrnehmung von Musik, Malerei und Sprache
Von Ueli Ganz
Sabine Jo malt am liebsten in der Dämmerung. Sie sagt, dass dann die Farben in ihr summen. Wenn sie an der Staffelei steht, erklingt im Hintergrund Musik. Ihr Atelier, das sie sich, als eine Oase der freien Kunstausübung eingerichtet hat, befindet sich unter dem Dach einer alten Villa. Grosse Fenster, die sie eigens anbringen liess, lassen das Licht einströmen und von ihrem kleinen Balkon aus hat sie einen herrlichen Ausblick auf den uralten Baumbestand im Park der Villa. Als Johannes letzthin wieder einmal bei ihr vorbeischaute, hörte er schon im Treppenhaus, dass sie heute zu Klaviermusik aufgelegt war.
"Sag mal" fragte er sie belustigt, "wie vernimmst du denn die Farben, die in dir summen, wenn du gleichzeitig eine ganz andere Musik dazu hörst?"
"Genau so wie ich meine Farben mische, mischen sich auch die Töne - mich inspiriert das zu ganz neuen Farbtönen".
"Es ist doch merkwürdig, dass du als Malerin von Farbtönen sprichst, wir Musiker reden umgekehrt von Klangfarben und so nennt jeder das, was ihm am nächsten ist, zuerst: Du die Farben, ich die Töne!"
Sie hatte gerade ein sehr helles Grün aufgetragen und wandte sich ihm zu, die Palette in der Hand: "Da scheint ja die Sprache viel über unsere beiden Künste zu wissen - das ist doch merkwürdig: Klangfarben-Farbtöne", sagte sie nachdenklich. "Vielleicht ist Sprache eine ganz besondere Brücke zwischen unseren Künsten, oder was glaubst du?"
Johannes, der am Fenster stand und die alten Bäume im Park betrachtete, antwortete:"ãDer alte Park draussen scheint mir heute wie verzaubert - mir ist, als sei er irgendwie in Klang getaucht. Ich höre den Klang in mir, kann mit Dir darüber sprechen, ja ich könnte ihn Dir auf meinem Cello vorspielen und Du könntest meine Klangfantasie dann wieder in Farbe umsetzen. Was dabei wohl rauskäme?"
Sabine Jo hatte ihre Palette abgelegt und war zu Johannes ans Fenster getreten. Auch sie betrachtete die alten Bäume, die Wiesen dazwischen, den kleinen, etwas gar kitschig geratenen Springbrunnen vor dem Haus. "Malerei ist statisch" stellte sie fest, "wir erfassen den Augenblick, den flüchtigen Eindruck, wir spielen mit der Form, den Farbabstufungen und fassen alles zusammen in eine Momentaufnahme. Musik dagegen ist dynamisch, sie bewegt sich in der Zeit. Hör´ doch: gerade ist Debussys sérénade interrompue zu Ende gegangen und nun erzählt er uns schon eine andere, neue Geschichte".
Johannes hatte aufmerksam zugehört und mit einem feinen Lächeln sagte er: "Ja, da hast du recht, wenn du auf die Unterschiede zwischen unseren Künsten hinweist. Aber auch die Musik kann sich mit Eindrücken befassen, oder wie die Franzosen sagen mit Impressions. Gerade Debussy ist ja der grosse Meister der Impressions! Jeder Komponist befasst sich aber auch intensiv mit dem, was wir beide "Form" nennen und für die Farbabstufungen haben wir, wie ihr auch, ein schönes griechisches Fremdwort gewählt: Chromatik, von Chroma, die Farbe."
"Du siehst, liebe Sabine Jo, unsere Künste sind sich doch sehr nahe, nur arbeiten wir mit ganz verschiedenen Mitteln. Aber eigentlich bin ich gekommen, um dir adieu zu sagen. Ich fahre mit dem Nachtzug nach Paris. Am Dienstag gebe ich dort ein Recital und am...."
"Du, Johannes", unterbricht ihn da Sabine Jo, und voller Eifer schildert sie ihm die Idee, die sie gerade hatte: "Was du da vorhin sagtest, hat mich auf eine Idee gebracht. Hör zu, und sag mir, was du davon hältst! Mir gefällt das mit den Impressions und unseren Künsten, die sich in der Sprache begegnen. Wir könnten nun folgendes Experiment versuchen: Du beschreibst für mich ein Bild und versuchst es mit der Sprache, die du sonst für die Musik gebrauchst, während ich probiere ein Musikstück mit den Begriffen der Malerei zu beschreiben. Du sollst das Bild nicht komponieren, das wäre zu einfach für dich - nur beschreiben. und ich will dann mit einem Musikstück gerne Gegenrecht halten, einverstanden?"
Johannes war nun doch recht skeptisch geworden. "Ja, ja, mal sehen was sich machen lässt, ich melde mich nach meiner Rückkehr wieder bei dir".:
Harmonie bleue:
Harmonie in Blau, also. Harmonie ist Zusammenklang feinster Abstufungen, aufeinander abgestimmte Formteile, Motive, die in manchmal geheimnisvollem Zusammenhang stehen. Monets " Cathedrale de Rouen"ist ein solches Werk. Dreiteilig ist es aufgebaut: Zunächst ein einziger, übermässiger Akkord, kaum wahrnehmbar, nur von den Holzbläsern im piano angestimmt, führt hin zum Thema "Turm",. Er bereitet uns vor auf den grossen, folgenden Satz: Die Kathedrale. Dreiteiliger Aufbau ist wörtlich zu nehmen: Dreimal steigt es nach oben, dreimal bringt der Komponist das Turm-Thema: A-B-A. Eigentlich ein Aufbau wie ein Menuett oder ein Scherzo. Aber in diesem Werk wird nicht getanzt und von scherzen will ich auch nicht sprechen. In allen Teilen steigt der Klang aus den tiefsten Bassregionen hinauf in den Diskant. Kleinste aufsteigende, tonleiterartige Motivpartikel drängen in verschleierter Harmonik nach oben. Keine Tonart, keine Linie ist konkret auszumachen, nur dieses Steigen und Wachsen, alles jedoch ohne eigentliches crescendo! In den A- Teilen bietet jedoch plötzlich ein reiner Dreiklang Halt. Das geheimnisvolle Klingen soll sich nicht in der Unendlichkeit verlieren. Dies ist hingegen dem B-Teil vorbehalten: und wir stellen fest, dass nicht "Turm" das Hauptthema war, sondern "Portal". Hier sind die verschleierten Harmonien aufgelöst. Klare Akkorde, sagen wir A-Dur, schwingen nun in die Tiefe. Das Portal leuchtet auf in den warmen Klängen der Holzbläser. Das Portal: Eine Ouvertüre, die Ouvertüre, die nicht in den ersten Akt einer Oper hineinführt. Dieses Portal führt zu den inneren Geheimnissen dieses heiligen Ortes. Durch einen aus lauter Quarten aufgebauten, stehenden Pianissimo-Akkord, bleibt uns das Innere verschlossen. Dafür beginnt nun auch in diesem Mittelteil alles sich nach oben zu entwickeln. Die Motivteilchen fügen sich zu grösseren Melodiebögen zusammen, ein aus verhaltenem Pianissimo mächtig anschwellender Choral, getragen von Trompeten, Hörnern und Posaunen, überwölbt das nun klar erkennbare Thema. Violoncelli, Kontrabässe und Fagotte setzen dazu einen dunklen Kontrapunkt, als wollten sie das Steigen aufhalten. Doch mit dem Eintreten aller Streicher, der Oboen und der drei Flöten ist der Drang nach oben nicht mehr aufzuhalten. Je höher die Musik steigt, umso leiser wird sie. Im Flageolett von vier Solostreichern verklingt dieser Teil im dreifachen pianissimo. Und ebenso leise setzt nun die Wiederholung des A-Teiles ein: Durch die Wiederholung wird nochmals deutlich: Das Wesentliche liegt nicht in der Konstruktion, dem Bau, der Form, sondern in der Atmosphäre, die ihn umgibt und darin, was er im Innersten birgt.
Sabine Jo fand ein paar Tage später die Postkarte mit Monets Kathedrale von Rouen in ihrem Briefkasten. Johannes hatte bloss darauf geschrieben:
Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmässig die menschliche Seele in Vibration bringt.Ó (W. Kandinsky).
Obwohl Sabine Jo die Werkbeschreibung von Johannes ein wenig romantisch vorkam, mit Hilfe des Bildes auf der Postkarte konnte sie fast alles nachvollziehen. Nur, was er mit Flageolett meinte, wollte sie dann später noch nachfragen.
Von all der intensiven Auseinandersetzung mit Monets Cathédrale de Rouen dargestellt in der Sprache der Musik, war sie nun gespannt, wie sie auf die Musik Debussys reagieren würde. Sie war es gewohnt beim Malen Musik zu hören, aber Musik nur zu hören und darauf zu warten, welche Bilder in ihr aufsteigen würden, das war neu für sie.(...)
"Ich hörte eine Musik von fast unendlicher Grösse, Tiefe und Ruhe. Sie füllte einen enormen Raum aus, wie das Meer und doch war alles so einfach und gross. Es gab kaum Vordergrund und Hintergrund, nur dieses Kreisen von Farbakkorden in feinsten Abstimmungen. Konzentrische Kreise, dicht ineinander gedreht. Schon ganz zu Anfang, diese enorme Weite, gleichzeitig dunkelstes Blau und darüber hellstes Silbergrau. Das siehst Du hier, ganz links. Gleichzeitig erhaben und tief traurig kam es mir vor. Und dann brach dieser Hymnus hervor wie ein Lichtstrahl aus der Dunkelheit. Eine ernste Prozession in gemessenem Schritt, wie aus einer vergangenen Zeit, in die sie auch wieder zurückkehrte. Du kannst etwas davon ahnen in meinem Bild: Hier diese konzentrischen Kreise, alle in verschiedenen Blautönen und hier, in der Bildmitte nun der plötzliche Übergang in rechteckige Formen, eine an die andere gereiht, in verschiedenen abgestuften Rottönen. Doch gleich daneben übernehmen wieder die Kreisformen das Geschehen, werden intensiver, konturenreicher, doch nur auf einer kurzen Strecke. Hier, weiter rechts mischen sie sich nochmals mit den Rottönen der vorübergegangenen Prozession und verblassen schliesslich. Schau, die Kreisformen hier ganz aussen, sind genau gleich angeordnet wie jene zu Beginn, nur sind sie wie verwaschen als würden sie sich ins Nichts verlieren."
Johannes stand immer noch gebannt vor Sabine Jos Bild, dessen Beschreibung er eben fasziniert gefolgt war. Ihm waren durch die Sprache der Malerei zu einem Musikstück ganz neue Bezüge aufgegangen: er hatte erlebt, dass man mit den Augen hören kann, so wie für Sabine Jo das Sehen über die Ohren zu einer neuen Entdeckung wurde:
Die Musik kann nicht anders genannt werden als die Schwester der Malerei, denn sie ist dem Gehör zugeordnet, einem Sinn, der nach dem Sehvermögen kommt, und erzeugt Harmonie durch die Verbindungen ihrer wohlproportionierten und gleichzeitig auftretenden Teile, die aber gezwungen sind, in einem einzigen oder mehreren Zeitmassen zu entstehen und zu vergehen. (Leonardo da Vinci) |