Süchtig nach Stadien
Weihnachtszeit ist hierzulande fußballfreie Zeit. Nicht für Deutschlands verrückteste Fans, die Groundhopper. Sie sammeln Stadion-Eintrittskarten wie andere Briefmarken - auch während des Festes der Liebe. Spielfreudige Nachbarn in Europa und Billig-Airlines machen es möglich.
Hamburg - Carlo Farsang hat einen Weihnachtswunsch. Er möchte einmal ein Fußballspiel in Nordkorea sehen. Nicht, dass Nordkorea derzeit für besonders attraktiven Fußball berühmt wäre. Aber Nordkorea fehlt ihm noch in seiner Sammlung - und ist ein Kick für den Mann, der fast alles gesehen hat.
Es gibt wenige Länder auf der Welt, die Farsang noch nicht bereist hat. Er ist ein Groundhopper, hüpft von Stadion ("Ground" zu Stadion, sammelt Eintrittskarten, Flugtickets, Fotos und hebt alles fein säuberlich auf. Die Statussymbole des Groundhoppers sind seine Länderpunkte. Für jedes Land, in das ein Fan reist, gibt's einen - die besten Hüpfer haben über 100 Zähler auf dem Konto.
Gibt es für Groundhopper eine Winterpause? "Nicht wirklich", sagt Farsang. Der 35-jährige galt jahrelang als der Groundhopper Deutschlands. Mittlerweile führt er sein eigenes Unternehmen im Schwarzwald. Seit der Firmengründung sind die Fußball-Reisen seltener. Träumen ist aber immer noch erlaubt. Farsang träumt von Nordkorea, Mauritius und dem Kongo. Ein Match im Kongo, ein zweites am gleichen Tag nebenan, in der Demokratischen Republik Kongo, die früher Zaire hieß - dafür würde er noch mal losziehen. Wolfsburg gegen Leverkusen - solche Spiele reizen ihn nicht mehr. "Es darf kein Spaziergang sein", sagt Farsang.
Weihnachtszeit ist Familienzeit. Auch für Groundhopper. Die Familie sitzt bloß nicht zu Hause auf dem Sofa, sondern steht auf der Stadiontribüne, den Schal um den Hals gebunden, die Kehlen geölt. In den Neunziger Jahren sieht Farsang am zweiten Weihnachtstag eins der traditionsreichsten Fußballspiele der Welt. Er fliegt nach Glasgow, zum Derby zwischen Celtic und den Rangers, dem "Old Firm". Weihnachten 2001 ist er in Brasilien, besucht ein Spiel in der Kultstätte "Maracanã". Das Stadion liegt in Rio de Janeiro und gehört mit einem Fassungsvermögen von über 100.000 Zuschauer zu den größten der Welt.
Länderpunkte unterm Weihnachtsbaum
Wenn bei Erik Roos alles gut geht, ist er an Heiligabend rechtzeitig zur Bescherung wieder zu Hause. Roos, 29, sieht noch am 23. Dezember zwei Spiele in Frankreich, erste und zweite Liga. Anfang Januar geht's weiter nach Malta. Und wieder kommt ein Länderpunkt dazu.
"Wenn ich 17 Stadien in der belgischen ersten Liga gesehen habe, will ich auch noch das achtzehnte sehen", sagt Roos über die Groundhopper-Philosophie. Kurz vor und kurz nach Weihnachten gibt es für ihn keine Tabus - die Festtage selbst verbringt er zu Hause in Willich. Roos sagt: "Aber vielleicht ändert sich das ja irgendwann." Das Kribbeln beim Betreten eines unbekannten Stadions erlebte er 1997 zum ersten Mal. Ohne Bezug zu den Vereinen besucht er ein Pokalspiel zwischen Alemannia Aachen und dem SV Waldhof Mannheim. Ein Jahr später ist er ein Groundhopper.
Weihnachten zu Hause, mit Omas und Tanten - das erlebt nun auch Farsang wieder. "Ich war müde", sagt er über sein Ende als "richtiger Groundhopper" vor fünf Jahren. "Irgendwann will man nicht mehr jeden zweiten Tag in Zwei-Dollar-Hotels aufwachen." Aber noch immer besucht er regelmäßig Stadien auf der ganzen Welt. Über den derzeit angesagten Trend zu Fußball-Reisen lacht Farsang: "Um ein Groundhopper zu sein, musst du für den Fußball leben. In Deutschland gibt es fünf bis zehn Menschen, die das wirklich tun. Es gibt auch Leute, die waren in fünf Ländern und schimpfen sich Groundhopper."
Für Roos gilt dieser Vorwurf sicher nicht. Eine Karriere wie Farsang hat er zwar noch nicht hinter sich - aber "Maracanã", das Mekka der Stadionhüpfer, hat er gesehen - und ganz Europa dazu. Fast ganz Europa: Sein Weihnachtswunsch ist eine Fußball-Tour nach Island.
Für Ansgar Spiertz aus Gevelsberg ist der zweite Weihnachtstag traditionell Fußball-Tag. In den vergangenen Jahren war er in England, diesmal soll es in die Niederlande gehen. In der dortigen Ehrendivision haben es Groundhopper nicht einfach. "Es gibt kaum Tickets im freien Verkauf", sagt Spiertz. Die Vereine verlangen von den Fans, sich registrieren zu lassen. "Eine sehr unerfreuliche Entwicklung", so der 41-Jährige. Fahrten wie in diesem Jahr muss er lange vorher planen.
1156 Stadien - an Weihnachten kommen ein paar dazu
Die Szene, in der sich Spiertz bewegt, wird von Männern dominiert. Er selbst wird meistens von seiner Frau Almut begleitet. "Eigentlich ist sie gar nicht so fußballinteressiert, aber sie hat auch Spaß an den Reisen ", sagt er. Vor kurzem haben die beiden Stadien in Zentralasien besucht. Kirgisistan, Usbekistan, Kasachstan hieß die Reiseroute. Solche Flüge kosten mehrere hundert Euro. In Europa zahlen die Fans diese Preise nicht mehr. Seit es Ryanair und Co. gibt, ist Groundhopping erschwinglich geworden.
1156 Stadien in 58 Ländern: Spiertz' Statistik wird in der Winterpause, die für ihn keine ist, wieder ein bisschen länger: Weihnachten fährt er in die Niederlande, im neuen Jahr nach Frankreich. "Dort finden Pokalspiele statt, das sind tolle Duelle zwischen kleinen und großen Mannschaften", sagt er.
Die Rückrunde der Fußball-Bundesliga beginnt am 26. Januar. Dann ist die Winterpause zu Ende. Farsang denkt weniger an Bayern gegen Dortmund, sondern vielmehr an Nordkorea. Einmal war er sogar schon kurz davor, dort ein Spiel zu sehen. Der Flug nach Pjöngjang war gebucht, das Aufeinandertreffen der Nordkoreaner gegen Japan fest anvisiert. Randale bei der Partie zwischen Nordkorea und Bahrain wenige Tage zuvor machten seinen Plan zunichte: Das Japan-Match musste verschoben werden.
Aus dem Länderpunkt wurde nichts. Carlo Farsang sagt: "Das Spiel haben sie mir geklaut."
->spiegel-online(+Bilder)