Riesensumpfschildkröte möchte wieder als Türsteherin arbeiten
Hallo Leo,
ich muss dich mit aller größter Dringlichkeit davon in
Kenntnis setzen, dass ich gerade eine höchst
bedenkliche Begegung mit einer extrem großen
Sumpfschildkröte hatte. Klar dass ich dieses flinke
Riesentier sofort zu dir in die Hafenstraße geschickt
habe. Ich vermute, dass die Schildkröte in Kürze
resolut durch eure Fenster im ersten Obergeschoss
hereinstieren wird. Du solltest dir also in der
Zwischenzeit die Mühe machen, zu lesen wie es dazu
kommt und welche Ansprüche da an dich gestellt werden:
Ich saß vor zehn Minuten hier in der
Otto-Wels-Straße unten im Keller und arbeite am PC.
Die Vibration durch meine Tastenanschläge muss die
Schildkröte wohl angelockt haben, jedenfalls schobe
sich plötzlich unmittelbar neben mir ein gelb
gesprenkelter Schildkrötenkopf fast so breit wie die
Tastatur durchs Kellerfenster. Ich musste zuerst ganz
schon um Fassung ringen, vor allem wegen diesem
resoluten Blick, der mich aus zwei großen schwarzen
Pupillen traf, die von einem noch größeren feurig
gelben Stern umrandet waren. Aber als die Schildkröte
mir sogleich die Frage nach einer kompetenten
Beratungsstelle für ihresgleichen stellte, wusste ich,
wo ich sie hinschicken würde und deutete an, eine
entsprechende Adresse zu kennen.
Daraufhin fing sie unvermittelt an zu erzählen, dass
sie Despina heiße, eine Europäische Sumpfschildkröte
sei und bis vor Kurzem in einem Wanderzirkus als
Türsteherin gearbeitet habe. Ich fragte da natürlich,
warum sie nicht in der Manege aufgetreten ist. Sie
meinte, dass ihr diese Arbeit zu exhibitionistisch sei
und dass ihr der starre Ablauf eines solchen Auftritts
nicht gefalle. Viel besser hat ihr die Arbeit als
Türsteherin neben dem Kartenhäuschen am Eingang zum
Zirkuszelt gefallen. Diesen Job hat sie immer gut und
gerne gemacht und die Tatsache, dass sie diesen Job
jetzt nicht mehr hat, liege nur sehr indirekt an ihrer
Arbeitsweise.
Die Kleinigkeit, dass sie vor einiger Zeit die
Angewohnheit entwickelte, die Schoßhunde mancher
Besucher in den Mund zu nehmen, war der Anfang vom
Ende in dieser Stellung. Besonders als sich dieses
Verlangen auch auf andere Kleintiere wie Katzen, Hase,
Tauben, Spuktierjunge usw. ausweitete.
Selbstverständlich ist den Kleintieren dabei nie etwas
passiert, da Despina diese so gleich wieder unversehrt
auf dem Boden absetzte. Manche Kleintiere haben dann
jedoch unvermittelt die Flucht ergriffen -
selbstverständlich die Flucht vor ihren Besitzern -
und gelangten erst nach aufreibenden
Wiederbeschaffungsmaßnahmen durch das übrige
Zirkuspersonal zurück in ihren ursprünglichen
Verfügungsbereich.
Eskaliert war die Situation eigentlich erst als
Despina das Kaninchen der kleinen Kinder des
Zirkusdirektors in den Mund nehmen wollte. Hierzu
musste sie nämlich mit ihrem Kopf in das Innere des
Wohnwagens der Zirkusdirektorfanilie eindringen. Zum
Glück hat sie ja einen langen Hals und das
Wohnwagenfenster stand gerade mal wieder offen, als
keiner zu Hause war. Leider hatte Despina dabei den
Kaninchenkäfig ausversehen vom Tisch geworfen und das
darin befindliche Stroh und Futter auf dem Teppich
verteilt. Doch schlimmer war, dass die Käfigtür durch
den Aufprall auf dem Wohnwagenboden aufsprang und dass
das Kaninchen durch die offene Wohnwagentür
heraushoppeln konnte. Denn das Kaninche hoppelte
darauf hin völlig unverständlicher Weise ohne genauere
Kenntnis der Verkehrsregeln auf die nahe gelegene
Straße und wurde dort sofort überfahren. Die Rinnsale
an Krokodilstränen auf den roten Bäckchen der kleinen
Kinder des Zirkusdirektors wollten nicht versiegen,
die Gattin des Zirkusdirektors war über die Unordnung
erbost und der Zirkusdirektor selbst wollte nun doch
die kostspielige Arbeitsstelle für eine Fachkraft der
Türsteherei neben dem Kartenhäuschen
wegrationalisieren.
Als Despina mir dies alles so erzählt, stellte sich
mir die Frage, ob der Tatbestand der fahrlässigen
Tötung an dem Kaninchen womöglich erfüllt sei, da die
Gesetze der Menschen meiner Meinung nach auch auf ein
Tier mit Despinas Intellekt anzuwenden sind. Dagegen
steht jedoch, dass ein gewöhnliches Kaninchen aus
juristischer Sicht als Tier zu behandeln ist. So kam
ich zu dem Schluß, dass die Schildkröte das Kaninchen
selbst dann nicht fahrlässig getötet hat, wenn die
Gesetze der Menschen auf die Schildkröte anzuwenden
sind. Als ich diesen Gedankengang verfolgte, bemerkte
ich wie durchdringend Despina mich ansah. Ich wurde
das Gefühl nicht los, die Schildkröte könnte meine für
sie womöglich folgenschweren Gedanken lesen. Jetzt war
klar, dass es höchste Zeit wurde unser Zusammentreffen
zu beenden und ihr den Weg zu dir zu weisen.
Ich eilte also aus dem Kelle auf die Terrasse, von
wo aus der riesige Schildkrötenkopf den Weg durch das
Kellerfenster gefunden hatte. Auf der Terrasse
angekommen, wurde ich mit Erstaunen der übrigen
Ausmaße dieses Schildkrötenkörpers gewahr. Die
Stockmaße des Panzers schätze ich auf zweieinhalb bis
drei Meter in der Länge, eineinhalb Meter in der
Breite und etwas weniger als einen Meter in der Höhe.
Die Schildkröte war nicht nur am Kopf, sondern am
ganzen Körper gelb gesprenkelt. Wenn sie sich auf die
Hinterbeine stellt, sich mit den Vorderbeinen an eurer
Hauswand abstützt und ihren Hals ausstreckt, kann sie
bestimmt ohne weiteres bei euch durch die Fenster in
Obergeschoß stieren.
Obwohl ich geradezu reflexhaft in die Richtung von
eurem Haus deutete und sagte:"Vier Kilometer in dieser
Richtung, ...Hafenstraße." Konnte ich mir zum Schluß
die Frage, wie eine Europäische Sumpfschildkröte so
groß werden kann, nicht verkneifen. Schon im Weggehen
begriffen, erläuterte Despina darauf hin, dass sie
früher als Brennstabkontrolltaucherin im Reaktorbecken
eines Kernkraftwerks hier in der Region gearbeitet
hatte. Man hatte ihr dort sogar ein Zertifikart
ausgestellt, demgemäß sie für Schildkrötensuppe
ungeeignet sei. Nach einiger Zeit in dieser Stellung
setzte ein starker Wachstumsschub bei Despina ein.
Anfangs machte sich das dadurch bemerkbar, dass sie
sich immer häufiger zwischen den Brennstabbündeln
einklemmte. So etwas ist nicht ganz ungefährlich.
Jedenfalls wurde sie bald zu groß für die Stellung als
qualifizierte Brennstabkontrolltaucherin.
Ich sah Despina mit einiger Erleichterung nach, als
sie davonwanderte und allmählich in der kühlen
Dunkelheit des heutigen Abends verschwand, so dass
bald nur noch das schwache schimmern einige weniger
gelbe Flecken zu sehen war. Sie erzählte dabei immer
weiter. Natürlich konnte ich ihre Worte schon bald
nicht mehr vernehmen. Nur noch so viel: Dieser
Wachstumsschub hat Despinas Leben bis jetzt eigentlich
eher positiv beeinflusst. Mit ihren körperlichen
Fähigkeiten übertrifft sie gewöhnliche
Sumpfschildkröten bei weitem an Schnelligkeit,
Ausdauer und Kraft. Durch ihre großen Körperausmaße
ist sie sogar unempfindlicher gegenüber einsetzender
Kälte. Ich finde bei Antritt einer Wanderung von vier
Kilometer in dieser Jahreszeit ist das eine sehr
wichtige Eigenschaft. - Na ja, mal sehen ob sie den
Weg zu dir überhaupt schafft. - Diejenige Fähigkeit,
an der Despina die größte Freude hat, ist ihr enormes
Fassungsvermögen bei der Nahrungsaufnahme. Aufgrund
ihres ständig vorhandenen Appetits beginnt sie jeden
Tag mit dem festen Vorsatz eine hedonistische Großtat
zu begehen.
Was fressen Europäische Sumpfschildkröten
eigentlich? Vielleicht kannst du ja einen Garagenplatz
mit Standheizung oder etwas ähnliches organisieren.
Habt ihr einen Geigerzähler? Ich würde meine
Kleintiere wie Katzen, Schildkrötzen, Gänse und
Kaninchen rein prophylaktisch in Sicherheit bringen,
wenn ich solche Kleintiere hätte. Ach ja - Kleintiere
- ich vermute Despina wird dir einen
Behandlungsauftrag bezüglich ihres auffälligen
Verhaltensmusters gegenüber solchen Tieren erteilen.
Eine interessante Aufgabe find ich. So eine Behandlung
an einer Sumpfschildkröte kann womöglich den ganzen
Winter über dauern. Na ja, du schaffst das schon.
Bis demnächst.
Gruß Robert
