Lemming
Lemminge - Der Mythos
Lemminge begehen hin und wieder Massenselbstmord, indem sie sich von Klippen ins Meer stürzen. Das ist jedenfalls eine weit verbreitete Meinung über die Tiere. Was ist dran an der Legende, Lemminge wären depressiv und würden sich in Massen in den Tod stürzen?
Besonders bekannt sind die Lemminge durch den im Jahre 1958 von Walt Disney veröffentlichten Film "White Wilderness". In diesem Film wurde eine Massenwanderung von Lemmingen mit anschließendem kollektiven Selbstmord dargestellt. Leider handelte es sich hier, wie bei vielen anderen Szenen aus den Naturfilmen der Disney-Werkstatt auch, um gestellte Szenen, die sich so nie in der Natur abgespielt haben. Durch diesen Film mit seinen gefälschten Szenen wurde das Bild von den Lemmingen nachhaltig im Bewusstsein vieler Menschen geprägt.
In Wirklichkeit wird ein Beobachter selbst zu Zeiten einer extremen Bestandsdichte keine spektakulären Ansammlungen von Lemmingen feststellen können. Auch findet das Massensterben der Lemminge mehr im Verborgenen statt, ohne dass sich irgendwo Berge von Tierkadavern auftürmen würden. Dennoch handelt es sich bei dem rasanten Wachstum der Lemmingbestände mit dem anschließenden ebenso schnellen Niedergang um ein wissenschaftlich interessantes Phänomen, da es ein Vorgang ist, der regelmäßig in Abständen von zwei bis fünf Jahren auftritt.
Nach Ansicht der Wissenschaftler müssten an diesem Phänomen besonders deutlich die Kräfte zu Tage treten, durch welche die Anzahl von Individuen einer Art, die in einem Gebiet leben können, bestimmt werden. Doch Jahrzehnte lange Forschungen auf diesem Gebiet brachten im Wesentlichen nur unbewiesene Theorien zustande und deuteten darauf hin, dass diese scheinbar einfachen Systeme doch höchst kompliziert sein müssten.
Nun scheinen Dr. Benoît Sittler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Landespflege der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie Dr. Olivier Gilg und Prof. Dr. Ilkka Hanski von der Universität Helsinki eine einfache Lösung für dieses Problem gefunden zu haben.
Nach einer Langzeitstudie, die über sechzehn Jahre dauerte, kam das Team zum Ergebnis, dass dem Phänomen wohl die einfachst denkbare Räuber-Beute-Beziehung zu Grunde liegt. In dem Untersuchungsgebiet in Nord-Ost-Grönland ist der Halsbandlemming (Dicrostonyx groenlandicus) die einzige Beutetierart, von der sich im Großen und Ganzen vier unterschiedliche Beutegreifer ernähren: das Hermelin (Mustela erminea), der Polarfuchs (Alopex lagopus), die Schnee-Eule (Nyctea scandiaca) und die Falkenraubmöwe (Stercorarius longicaudus).
Während das Hermelin das ganze Jahr über bei seiner Ernährung auf die Lemminge angewiesen ist, ernähren sich Füchse, Eulen und Möwen im Wesentlichen nur in den drei Sommermonaten von den Lemmingen. Bei der durchgeführten Studie wurde neben der Bestandsentwicklung der Lemminge auch die Bestandsentwicklung der Beutegreifer beobachtet.
Es erwies sich, dass, obwohl der Einfluss von Polarfuchs, Schnee-Eule und Raubmöwe im Sommer auf die Lemminge verheerend sein konnte, die Gesamtentwicklung des Lemmingbestandes durch den Jäger geprägt wurde, der dem Lemming das ganze Jahr über nachsetzt: das Hermelin.
Obwohl dem Hermelin die Schlüsselstellung bei der Bestandsentwicklung der Lemminge zukommt, ist es aber denoch nicht in der Lage, den Bestand der Lemminge alleine zu kontrollieren. Denn um den Bestand der Lemminge alleine kontrollieren zu können, müsste sich das Hermelin schneller vermehren können als die Lemminge.
Denn nur, wenn die Zahl der Jäger schneller wächst als die Zahl der Beutetiere, kann er einer Zunahme der Beutetiere entgegenwirken. Gewöhnlich ist aber die Vermehrungsrate der Jäger wesentlich langsamer als die der Beute, so auch beim Hermelin. Nimmt also im Winter die Zahl der Lemminge zu, so nimmt auch die Zahl der Hermeline zu. Der Hermelinbestand wächst dann zeiverzögert auch an.
Der Anstieg bei den Hermelinen ist zeitverzögert gegenüber den Lemmingen, da die Hermeline ja erst mehr Lemminge fangen müssen, um damit eine größere Anzahl an eigenem Nachwuchs ernähren zu können. Die Lemming können aber ungleich mehr Nachkommen pro Wurf und Zeit großziehen als die Hermeline.
Nun kommen aber im Sommer die anderen Beutegreifer hinzu. Und die können sich in ihrer Zahl sehr schnell auf die erhöhte Anzahl Lemminge einstellen. Da es sich um wandernde Jäger handelt, siedeln sich in Gebieten mit mehr Lemmingen mehr Tiere an als in welchen mit wenig Lemmingen.
Durch das Eingreifen der anderen Jäger wächst der Bestand der Hermeline schneller als der Bestand der Lemminge, und nun kann die im Verhältnis außergewöhnlich große Zahl Hermeline im kommenden Winter den Lemmingen so zusetzen, dass der Bestand der Lemminge drastisch zusammenbricht. Wodurch sich die Hermeline aber ihre eigene Nahrungsgrundlage entziehen und ihr Bestand ebenfalls zusammenbricht. Danach kann alles wieder von vorne beginnen.
Dieses Beobachtungen lassen sich auch anhand von mathematischen Modellen und Computersimulationen nachvollziehen. Da diese Ergebnisse dem sehr einfachen ökologischen System einer arktischen Landschaft entstammen, können sie nicht ohne weiteres auf andere Regionen mit ähnlichen Vermehrungsphänomenen bei Nagetieren übertragen werden.
Doch spricht einiges dafür. Zum einen finden sich diese Phänomene im Wesentlichen nur in nördlichen Lebensräumen mit relativ einfachen Räuber-Beute-Beziehungen, und zum anderen spricht das häufige Vorkommen dieses Phänomens in den unterschiedlichsten Gegenden dafür, dass ihm ein einfacher Mechanismus zugrunde liegt.
Wer die schlechten Zeiten nicht übersteht, wird die guten
nie erleben!
