Kindesentführungsfall Felix Tschök
(10.10.2006)
Die Spur führt nach Russland
1984 wird in Dresden ein Baby entführt: Felix Tschök. Die Eltern hoffen jetzt auf die Hilfe von Wladimir Putin
Von Steffen Kraft, Dresden
Das Pochen. Lenore Tschök kennt es seit langem. Es ist ihr Herzschlag, der lauter und lauter wird, bis sie ihn fast schmerzhaft spürt in der Halsschlagader, im Kopf. Das geschieht, wenn sie zu lange an Felix denkt. Lenore Tschök, 46, kneift sich in solchen Momenten fest in den rechten Oberschenkel. Das lenkt ab. Diesen Schmerz hat sie unter Kontrolle. Gut möglich, dass sich das Pochen an diesem Dienstag wieder einstellt, wenn der Fahrzeugkonvoi mit Angela Merkel und Wladimir Putin durch Dresden zum Kongresszentrum fährt. Die Bundeskanzlerin trifft den russischen Staatspräsidenten dort zum Petersburger Dialog. Auf der Strecke dorthin, wahrscheinlich an einer Kurve, an der die Autos abbremsen müssen, werden Lenore Tschök und ihr Mann Eberhard stehen und ein Schild in die Höhe recken: Herr Putin, bitte helfen Sie uns! Allein Putin, davon sind die Tschöks überzeugt, kann nun noch helfen, ihren entführten Sohn Felix zu finden und die Ungewissheit zu beenden, die die Eltern seit fast 22 Jahren quält.
28. Dezember 1984, nach dem Mittagsschlaf. Die Tschöks brauchen noch ein Geschenk. Morgen wollen sie nach Flöha fahren, Lenores Großmutter hat Geburtstag. Es ist ein nasskalter Wintertag. Lenore, damals 24, Studentin, und Eberhard, 28, Maschinenbauer, ziehen Felix, er ist gerade fünf Monate alt, zwei Wolljacken über den weißen Strampelanzug, dazu die blauweißen Ringelsöckchen, die Lenore erst kürzlich gestrickt hat, und nehmen die Tram. Sie wollen im Centrum-Kaufhaus ein Paar Strümpfe für die Oma aussuchen. Felix ist eingeschlafen. Die Tschöks freuen sich, denn Felix ist kein einfaches Kind, er schreit viel und schläft üblicherweise nur dann ein, wenn er getragen wird. Der Verdauungstrakt sei schuld, hatte der Kinderarzt gesagt und Lenore Tschök sogar einmal das Stethoskop auf den rumorenden Babybauch setzen lassen.
Als Felix an diesem Tag in seinem braunen Cord-Kinderwagen zur Ruhe kommt, wollen die Tschöks ihn lieber schlafen lassen, als sie beim Kaufhaus ankommen. Doch der beaufsichtigte Kinderwagenabstellplatz ist voll. Laut Protokoll der Dresdner Polizei stellen die Tschöks ihren Kinderwagen um 16 Uhr 10 in den Nebeneingang, der zur Waisenhausstraße führt. Neben Felix schlafen noch einige weitere Babys. Kurzzeitig unbeaufsichtigte Kinderwagen gehören in der DDR zum Alltag. Um 16 Uhr 40 kehren die Tschöks zurück. Der Kinderwagen steht noch an seinem Platz, die Decke ist etwas verrutscht. Felix fehlt.
Wenn Lenore Tschök heute davon erzählt, wie sie an diesem Dezembertag die anderen Kinderwagen durchsucht hat, erzählt sie auch von dem Pochen; damals hat sie es zum ersten Mal gehört. Sonst aber blieb sie, so sagt sie heute, erstaunlich ruhig. Als Eberhard Tschök den Wachdienst alarmiert, glaubt er noch, dass er das Kind selbst bei einer Entführung spätestens nach zwei Tagen wiederbekommen würde. Inzwischen weiß er es besser.
Dabei gibt es bald nach dem Verschwinden eine Spur. Am 6. Januar 1985 finden die Bewohner eines Dresdner Mietshauses ein männliches Baby in einem Karton. Bald geht in Dresden das Gerücht um, Felix sei gefunden worden. Doch die Polizei stellt fest: Das gefundene Kind sei definitiv nicht Felix, es sei zu jung, habe eine andere Blutgruppe und keine einzige der in der DDR vorgeschriebenen Impfungen. Schließlich seien da noch diese Narben an den Armen. Sie stammen von einer Infusionsbehandlung in den ersten Lebensmonaten. Selbst bei schweren Erkrankungen, so sagen Ärzte, würden die Behandlungsmethoden in der DDR keine solchen Narben zurücklassen.
Die Spuren führen zum sowjetischen Heer, dessen 1. Gardepanzerarmee in Dresden stationiert ist. Denn der Karton, in dem das Findelkind gefunden wurde, stammt aus der Filiale der Armeehandelsorganisation in der Magazinstraße 17. Die Dresdner Polizei fragt bei der sowjetischen Militärverwaltung nach. Für die Tschöks ist diese Nachricht ein Moment der Hoffnung, denn die Ermittler haben an dem Schnuller des Findelkindes Spuren von Felix Blutgruppe gefunden. Könnte ein Soldat sein eigenes, krankes Kind gegen Felix ausgetauscht haben?
Im Juli 1985 schickt der sowjetische Militärstaatsanwalt Opisniuk sein Ergebnis: Eine Täterschaft sowjetischer Militärangehöriger und ihrer Angehörigen könne nicht festgestellt werden. In den Jahren 1983 und 84 habe kein Neugeborenes von Armeeangehörigen eine Bluttransfusion erhalten. Ein Jahr nach dem Nachmittag im Centrum-Kaufhaus, am 27. Dezember 1985, stellt die DDR-Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein, da keine begründeten Aussichten bestehen, den unbekannten Täter zu ermitteln.
Enttäuschte Hoffnungen. Die Tschöks lernen zunächst, mit ihnen zu leben, ohne Psychologen und ohne Seelsorger, wie sie betonen. Sie versuchen, die Energie der Verzweiflung in die Selbstheilung umzuleiten. Einige Monate nach der Entführung machen sie eine Art Selbsttherapie: Sie gehen ins Centrum- Kaufhaus. Der Entführer kann uns vielleicht das Kind stehlen, aber nicht unser Leben, sagen sie sich, als sie zum ersten Mal nach der Tat aus dem Nebeneingang gehen, an dem sie Felix damals abgestellt hatten. Als sie auf den Bürgersteig heraustreten, sehen sie, dass hier nun ein Schild angebracht ist. In kleinen weißen Buchstaben steht da: Bitte keine Kinderwägen abstellen.
Das Leben ist weitergegangen. Und so versuchen auch die Tschöks, einen Haken unter die Sache zu machen. 1987 kommt Fabian zur Welt. Er soll den Platz im leeren Kinderbett füllen. Aber er soll nicht erfahren, dass darin einmal sein Bruder lag, ebenso wenig wie Nadja, die 1989 zur Welt kommt. Lenore Tschök packt also alle Sachen von Felix in eine Tüte und verstaut sie ganz unten im Schrank: Fotos, abgelöste Etiketten von Felix Breigläschen, die Geburtsurkunde.
Ich habe um Felix bis heute nicht eine Träne geweint, sagt sie. Lenore Tschök demonstriert, dass sie Schmerz aushalten kann, gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst, das ist ihre Strategie, mit dem Verlust klarzukommen. Auch Eberhard Tschök sagt, dass er um Felix nicht trauern will. Ich weiß ja nicht, ob er tot ist, sagt er.
Anfang der 90er-Jahre schickt ihnen die Schulbehörde versehentlich eine Aufforderung, Felix einschulen zu lassen. Die Postkarte wühlt die Tschöks auf. Sie spüren, dass das mit dem Hakenmachen so nicht funktioniert. Sie erinnern sich nun häufiger an Felix: Irgendwann musste da nur eine Mutter auf dem Spielplatz rufen ,Felix, komm mal her. Und schon pochte der Gedanke an den verlorenen Sohn durch den Kopf. Weihnachten 1998 schließlich erzählen die Tschöks ihren Kindern vom Bruder. Damit beginnt die Suche von vorne.
Die Tschöks stellen eine neue Vermisstenanzeige und erreichen so, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren wieder aufnimmt. Das führt immerhin dazu, dass die DNA-Probe eines russischen Verdächtigen es ist der Hauptbuchhalter der Armeehandelsorganisation, in deren Karton das Findelkind lag, und der einige Tage nach der Entführung das Land verlassen hatte mit dem Erbmaterial an dem Schnuller des Findelkindes verglichen wird. Zwar ergibt der Test keine Übereinstimmung, aber der Wirbel tut den Tschöks gut. Ich will lieber jetzt erfahren, dass Felix tot ist, als noch einmal 20 Jahre mit der Ungewissheit leben, sagt Lenore. Denn die bestimmt ihr Leben noch immer. Als sie erfährt, dass das russische Atom-U-Boot Kursk untergegangen ist, denkt sie: Was, wenn er zur Marine gegangen ist? Als Eberhard Tschök von der Tschetschenien-Offensive hört, hofft er: Hoffentlich schickt Putin nicht unseren Sohn.
Im Sommer 2005 hat die Dresdner Staatsanwaltschaft von den russischen Kollegen die Information erhalten, dass 1984 wohl doch vier Babyjungen in einem sowjetischen Militärkrankenhaus eine Bluttransfusion bekommen hätten, wie es bei dem kranken Findelkind der Fall gewesen sein muss. Bei dem, das vielleicht gegen Felix ausgetauscht worden ist. Könnten die Eltern der Kinder vernommen werden, brächte das die Ermittlungen einen Schritt voran. Die Namen von Kindern und Eltern behalten die russischen Behörden bisher aber für sich.
Hier nun soll Wladimir Putin helfen. Schließlich kam er als KGB-Agent im Jahr 1985 nach Dresden. Er müsste den Fall also kennen. Die Tschöks haben Angela Merkel in einem Brief gebeten, sich dafür einzusetzen, dass eine entsprechende Anfrage des Dresdner Oberstaatsanwalts Christian Avenarius an die russischen Behörden schnell, vor allem aber vollständig beantwortet werde. Sicher sind die Tschöks allerdings nicht, dass Angela Merkel das Thema heute beim Petersburger Dialog anspricht. Das Bundeskanzleramt hat allein den Eingang ihres Schreibens bestätigt. Ein Sprecher wollte sich aber nicht festlegen, ob das Thema zur Sprache kommt. Die Themen ergäben sich aus dem Gesprächsverlauf. Vielleicht, so hoffen die Tschöks, ist das Schild an der Kurve ja ein Anlass.
Der Tagesspiegel (Montag, den 09. Oktober 2006)
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Herr Präsident, wo ist unser Sohn?
Von Thomas Schade
Hilfe. 22 Jahre suchen die Tschöks ihren Sohn. Nun soll ihnen Wladimir Putin helfen, denn sie hoffen, Felix lebt in Russland.
Als Leonore und Eberhard Tschök am 8. Oktober 2001 kurz vor 18 Uhr in der Dresdner Schießgasse auftauchen, glauben die Polizisten anfangs, das Ehepaar will sie auf den Arm nehmen. Dabei sind Tschöks nur gekommen, um eine Vermisstenanzeige zu machen. Wir suchen unseren Sohn Felix, sagt die damals 41-jährige Mutter. Auf die Frage, seit wann sie Felix vermisse, sagt sie: Seit dem 28. Dezember 1984.
Die Beamten müssen erst im eigenen Haus nachfragen. Dabei erfahren sie, dass es um jenen Felix Tschök geht, nach dem im Winter 1984/85 ganz Dresden sowie Hundertschaften von Polizei und Staatssicherheit gesucht hatten. Es gilt als ziemlich sicher, dass der damals fünfeinhalb Monate alte Felix gegen ein anderes Kind ausgetauscht wurde. Dieser kleine Junge lag einige Tage später eingepackt in einer Pappkiste in einem Dresdner Hausflur. Alle Spuren endeten vor den Kasernentoren der Sowjetarmee. Ein Jahr nach dem Verschwinden von Felix wird von Berlin aus angeordnet, die Fahndung einzustellen. Es wurde intensiv gesucht, aber es war politisch nicht opportun, dem Brudervolk eine Entführung anzuhängen, sagt Leonore Tschök rückblickend.
Die Eltern fügten sich, zur Ruhe gekommen sind sie nie, auch durch Fabian und Nadja nicht, die nach Felix zur Welt kamen. Sogar die Behörden erinnern die Eltern immer wieder an den Erstgeborenen. Wir sollten mit Felix zur Pflichtimpfung und später zur Einschulungsuntersuchung erscheinen, erzählt die Mutter. Momente, die Tschöks stets wieder aufwühlten.
Lebt er, und geht es ihm gut?
Am Heiligen Abend 1998 haben die Eltern ihren beiden Kindern offenbart, dass vermutlich irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion ein 14-jähriger Junge lebt, der ihr Bruder ist. Zwei Jahre später, im Juli 2000, beantragten sie, die Ermittlung wieder aufzunehmen. Schließlich arbeitet jetzt in beiden Ländern eine demokratische Justiz, ohne politische Rücksichtnahme, sagt Leonore Tschök. Doch in der sächsischen Justiz scheitern die Eltern erstmal an formalen Hürden. Neue, erfolgversprechende Ermittlungsansätze sind nicht ersichtlich, teilt ihnen ein junger Staatsanwalt mit. Auch eine Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft bleibt erfolglos.
So entschließt sich die Familie im Oktober 2001, ihren Sohn nach 17 Jahren noch einmal als vermisst zu melden. Wir wollen wissen, ob unser Sohn lebt und ob es ihm gut geht. Ich glaube das ist unser Recht, sagt Eberhard Tschök. Wir wollen ihn nicht zurückholen, er ist jetzt 22 Jahre und muss selbst entscheiden, wo er leben will, sagt seine Frau. Und da sei ja auch noch eine Straftat, die es zu klären gelte.
Der Kriminalist Thomas Günther und der engagierte Staatsanwalt Jan Hille beginnen erneut zu ermitteln. Ihre Argumentation: Felix wird seinen Eltern bis heute entzogen. Das ist strafbar und nicht verjährt. Hauptkommissar Günther beginnt, wo die Ermittlungen 1985 endeten: in der 1. Panzergardearmee, die damals in Dresden und Umgebung stationiert und 1992 abgezogen war. Ohne Hilfe aus Russland kommt er nicht weiter.
Schon 1985 waren viele Fragen offen geblieben, weil die sowjetischen Waffenbrüder ausweichende Antworten geliefert hatten. Angeblich unauffindbar blieb damals jener Risaldin Sultanow, der als Buchhalter im Militärhandel der Sowjetarmee in Dresden tätig war. Er passte zur Beschreibung, die Zeugen von dem Mann gegeben hatten, der das Paket mit dem kleinen Jungen abgelegt hatte. Das Findelkind erhielt den Namen Martin Sonntag. Es war das wichtigste Indiz dafür, dass sowjetische Eltern ihr eigenes Kind, das sie für krank hielten, vor der Rückkehr in die Heimat ausgetauscht hatten. Der Junge hatte Narben einer intensivmedizinischen Behandlung, reagierte auffallend auf russische Worte und lag in einer Kiste, die nur im Militärhandel kursierte. Buchhalter Sultanow, so vermuteten die Ermittler damals, war Erfüllungsgehilfe bei dem Kindertausch. Dass das sowjetische Militär Sultanow bereits im Januar 1985 vernommen und im Mai vorzeitig nach Hause geschickt hatte, erfuhren die DDR-Ermittler damals nicht.
Hauptkommissar Günther hat nach dem Studium des über drei Meter hohen Aktenberges aus dem Jahr 1985 sehr konkrete Fragen an die russischen Behörden. Sie werden 2003 in einem Rechtshilfeersuchen dem Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation zugeleitet, verbunden mit der Bitte um Speichelproben von Personen, die in Verbindung mit dem Fall stehen.
Ich habe nichts damit zu tun
Der Hilferuf aus Dresden landet bei dem Oberstleutnant der Justiz W. A. Golowatschew, seines Zeichens Ermittler in hochwichtigen Angelegenheiten der Moskauer Militärstaatsanwaltschaft. Der Mann versucht, den Auftrag mit Akribie zu erledigen. Aber der Militärstaatsanwalt scheitert bereits im Moskauer Archiv für Personenstandswesen, wo die Akten der Dresdner Garnisionsverwaltung liegen. Die Einwohnermeldestelle teilt zwar mit, dass zur fraglichen Zeit bei der Sowjet-Militärkommandantur 1 665 Geburten registriert wurden und kein Kind namens Sultanow dabei ist. Aber die 1 665 Geburtsurkunden kopiert das Archiv nicht. Ein Vierteljahr dauert der Streit um die Kopien. Das Archiv beruft sich auf die russische Verfassung, die Militärstaatsanwaltschaft auf die Strafprozessordnung und blitzt ab.
Dennoch findet Oberstleutnant Golowatschew in einem der vielen Militärarchive Sultanows Personalakte. Natürlich ist der ehemalige Militärbuchhalter auch nicht in den Weiten Russlands verschwunden, sondern lebt als Witwer in Ufa, der Hauptstadt der russischen Republik Baschkortostan.
Ausgerechnet am 6. Januar 2004, auf den Tag genau 19 Jahre, nachdem das russische Kind in Dresden entdeckt wurde, vernimmt die Militärstaatsanwaltschaft Sultanow noch einmal. Er leugnet hartnäckig, mit dem Tausch der Kinder etwas zu tun zu haben. Ich bin nie mit irgendwelchen Kartons durch Dresden gegangen, sagt er und gibt wie alle Familienangehörigen Speichelproben ab. Die genetischen Fingerabdrücke der Sultanows werden mit denen der Tschöks und von Martin Sonntag verglichen. Es ergeben sich keine Treffer.
Eine deutsch-russische Sache
Die wichtigste Information, die im Sommer 2005 mit einem über 100-seitigen Bericht aus Moskau kommt: Im sowjetischen Militärkrankenhaus Nummer 1 459 wurden zwischen Oktober 1983 und Januar 1984 vier Jungen intensiv-medizinisch behandelt und müssten deshalb die gleichen Narben haben, die bei Martin festgestellt worden waren. Wer die vier Jungen sind und wo sie heute leben, teilen die russischen Behörden nicht mit.
Doch an diese Information knüpfen Tschöks nun ihre ganze Hoffnung. Auch die Ermittler sehen weitere Fahndungsansätze und haben die russischen Behörden inzwischen erneut um Hilfe gebeten. Wir würden den Aufwand nicht treiben, wenn wir keine Chance sähen, den Fall zu klären, sagt Oberstaatsanwalt Christian Avenarius.
So lange möchten Tschöks nicht warten. Nach einem Hilferuf an Bundeskanzlerin Angela Merkel wollen die Eltern nun auch den Dresden-Besuch des russischen Premiers Wladimir Putin nutzen: Herr Präsident, wo ist unser Sohn?, würden sie ihn am liebsten persönlich fragen. Ihr gestohlener Sohn sei schließlich eine deutsch-russische Angelegenheit. Die Eltern glauben, dass Putin das Schicksal des Kindes kennt. Er kam im Sommer 1985 zum KGB nach Dresden, gerade als in der Sowjetarmee nach Felix gesucht wurde. Dresdens MfS-Chef Horst Böhm hatte damals seinen KGB-Amtsbruder persönlich um Hilfe gebeten bei der Suche nach dem Kind.
Oberstaatsanwalt Avenarius warnt jedoch vor allzu heftigen Reaktionen. Denn Ermittlungserfolge seien vom Willen zur Kooperation auf der russischen Seite abhängig. Schon 1985 hatte das MfS den guten Willen der KGB-Waffenbrüder arg strapaziert. Heimlich hatten sie Angehörige der Sowjetarmee ausspioniert und sowjetische Frauen mit Kleinkindern fotografiert. Auch die Schlapphutarbeit blieb damals ohne Erfolg. Ob sie auch unbemerkt blieb ist unklar. Fatal, wenn sich der damalige KGB-Mann Putin auch daran erinnert.
sz-online (Samstag, den 07. Oktober 2006)
Phantombild des Mannes, der das sowjetische Kind später aussetzte.
Bildquelle: https://www.sz-online.de/
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Politik
Applaus für Angela, Proteste gegen "Wowa" Landeshauptstadt empfängt Merkel und Putin zum "Petersburger Dialog"
Dresden (sz) Rund 400 Menschen warten am Dienstagnachmittag bei strahlendem Sonnenschein vor dem Dresdner Residenzschloss auf die Ankunft von Russlands Präsident Wladimir Putin und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die beiden Regierungschefs treffen sich dort im Rahmen des deutsch-russischen Gesprächsforums "Petersburger Dialog". An einem Laternenpfahl gegenüber des Schlosses stehen vier Menschen mit drei verschiedenen Wünschen an Putin. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein.
Da ist zum einen Hans-Jürgen Martin. Der Dresdner Autogrammsammler besitzt über 24 000 Autogramme, aber noch keins von Putin. Er spricht die Bundeskanzlerin an, als diese unter Applaus kurz ein paar Zuschauern an der Absperrung die Hände schüttelt. "Da müssen Sie sich an den Präsidenten selbst wenden", sagt sie lächelnd und geht weiter.
Neben Martin hat sich Veit Kühne postiert. Der 28-jährige Dresdner hält ein Plakat mit der Aufschrift "Mörder - Du bist hier nicht mehr willkommen" hoch. "Ich will damit gegen die Tschetschenien-Politik Putins und den Mord an Anna Politkowskaja demonstrieren", erklärt er. Die regierungskritische Journalistin war am Samstag in Moskau getötet worden. Vor der Ankunft Putins fordern zwei Polizisten Kühne auf, das Plakat herunter zu nehmen. Als er sich weigert, gibt es ein Handgemenge, bei dem das Plakat zerstört wird. Kühne malt daraufhin schnell ein neues.
An dem Laternenpfahl stehen auch Lenore Tschök und ihr Mann Eberhard. In den Händen halten sie ein Transparent mit der Aufschrift "Herr Putin, bitte helfen Sie uns - entführt 1984 in Dresden - Wo ist unser Felix". 1984 war der damals fünf Monate alte Felix Tschök in einem Dresdner Kaufhaus verschwunden. Die Spur führte zu einem Buchhalter bei der sowjetischen Armee. Doch bis heute suchen die Eltern verzweifelt nach ihrem Sohn.
Applaus für Angela, Proteste gegen "Wowa" Landeshauptstadt empfängt Merkel und Putin zum "Petersburger Dialog"Dresden (sz) Rund 400 Menschen warten am Dienstagnachmittag bei strahlendem Sonnenschein vor dem Dresdner Residenzschloss auf die Ankunft von Russlands Präsident Wladimir Putin und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die beiden Regierungschefs treffen sich dort im Rahmen des deutsch-russischen Gesprächsforums "Petersburger Dialog". An einem Laternenpfahl gegenüber des Schlosses stehen vier Menschen mit drei verschiedenen Wünschen an Putin. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein.
Da ist zum einen Hans-Jürgen Martin. Der Dresdner Autogrammsammler besitzt über 24 000 Autogramme, aber noch keins von Putin. Er spricht die Bundeskanzlerin an, als diese unter Applaus kurz ein paar Zuschauern an der Absperrung die Hände schüttelt. "Da müssen Sie sich an den Präsidenten selbst wenden", sagt sie lächelnd und geht weiter.
Neben Martin hat sich Veit Kühne postiert. Der 28-jährige Dresdner hält ein Plakat mit der Aufschrift "Mörder - Du bist hier nicht mehr willkommen" hoch. "Ich will damit gegen die Tschetschenien-Politik Putins und den Mord an Anna Politkowskaja demonstrieren", erklärt er. Die regierungskritische Journalistin war am Samstag in Moskau getötet worden. Vor der Ankunft Putins fordern zwei Polizisten Kühne auf, das Plakat herunter zu nehmen. Als er sich weigert, gibt es ein Handgemenge, bei dem das Plakat zerstört wird. Kühne malt daraufhin schnell ein neues.
An dem Laternenpfahl stehen auch Lenore Tschök und ihr Mann Eberhard. In den Händen halten sie ein Transparent mit der Aufschrift "Herr Putin, bitte helfen Sie uns - entführt 1984 in Dresden - Wo ist unser Felix". 1984 war der damals fünf Monate alte Felix Tschök in einem Dresdner Kaufhaus verschwunden. Die Spur führte zu einem Buchhalter bei der sowjetischen Armee. Doch bis heute suchen die Eltern verzweifelt nach ihrem Sohn.
Als Putin dann zusammen mit Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) vorfährt, brüllt Kühne "Mörder, Mörder". Die Tschöks rufen "Bitte, Herr Putin, helfen sie uns, bitte". Auch Martin hält die Bilder des Präsidenten hoch. Doch der Staatschef dreht sich nur kurz zu der Gruppe um, winkt und geht dann ins Schloss.
Auch vor dem International Congress Center, dem Tagungsort des "Dialogs", gibt es Proteste gegen Wladimir Putin, kurz "Wowa" genannt. Die Grünen halten ein Plakat mit der Aufschrift "Lieber Wowa, Glückwunsch zur Gleichschaltung der Wahrheit!" hoch. Ansonsten bleibt es in der Stadt, abgesehen von ein paar Verkehrsstörungen wegen der Straßensperren, ruhig.
Wladimir Putins Dresdner Jahre sind geheimnisumwoben
Wladimir Putin hat knapp fünf Jahre seines Lebens in Dresden verbracht. Über diese Zeit von 1985 bis 1990 ist nur wenig bekannt. Putin arbeitete damals für den sowjetischen Geheimdienst KGB eine gewisse Zurückhaltung war ihm quasi von Berufs wegen auferlegt. Deutsche, die mit ihm privaten Kontakt hatten, beschreiben ihn als zurückhaltend und höflich. Am Wochenende sei er gern mit der Familie in die Sächsische Schweiz zum Wandern gefahren. Angeblich hat er damals ein Gehalt von 1800 DDR-Mark und 100 Dollar Zulage pro Monat erhalten für realsozialistische Verhältnisse ein stattliches Salär.
Putin lebte mit Frau und zwei Töchtern in einem Plattenbau im Norden der Stadt. Seine Dienststelle lag nicht weit von der Drei- Zimmer-Wohnung entfernt. Dem Vernehmen nach soll er Agenten für eine Tätigkeit im Westen angeleitet haben. 1990 soll er erfolglos versucht haben, einstige Stasi-Leute für den KGB zu werben. Übereinstimmend berichten Zeugen, dass Putin zur Wende im Herbst 1989 vor der KGB- Zentrale eine wütende Menge von Demonstranten von der Erstürmung des Geländes abhielt. Anfang 1990 ging er mit seiner Familie zurück in seine Heimat.
SZOn (Dienstag, den 10. Oktober 2006)
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CITY NEWS DRESDEN
Auf Nummer sicher
"Ich gehe auf Nummer sicher", spricht Frank Forbrigen den Satz des Tages gelassen aus. Es ist kurz vor eins, in vier Stunden wird es auf den Tontechniker ankommen. Er hat seine Verstärkeranlage gleich mehrmals getestet, denn wenn Angela Merkel und Wladimir Putin zur Einweihung des Dostojewski-Denkmals sprechen, sollen sie ja gehört werden.
Gehört werden wollen auch Eberhard und Lenore Tschök - vor allem von einem Mann, Wladimir Putin. Technische Hilfsmittel, um ihn zu erreichen, haben sie nicht. Nur ein großes weißes Tuch, auf das sie geschrieben haben ""Herr Putin, bitte helfen Sie uns!" und "Wo ist unser Sohn Felix?". Vor 22 Jahren war der damals fünfmonatige Sohn des Ehepaars aus dem Kinderwagen, den sie vor dem Dresdner Centrum-Warenhaus abgestellt hatten, entführt worden. Die Spuren führten zu den sowjetischen Streitkräften, die in Dresden stationiert waren. Soviel wissen sie, viel mehr nicht. Nicht, ob Felix heute in Russland lebt oder in Kasachstan, nicht, wie er heißt, wer sich als seine Eltern ausgibt. "Es muss jemand von hochrangiger Position sein, sonst wäre der Fall schon aufgeklärt", glauben sie. Auf dem Theaterplatz spricht sie eine Frau an, eine Russin und sagt "Er weiß es". Putin ist gemeint. Und Tschöks wollen es wenigstens versuchen, halten vor dem Schloss ihr Transparent hoch und hoffen. Als sie erfuhren, der russische Präsident kommt nach Dresden, haben sie an Angela Merkel geschrieben, keine Antwort. Und kein Wort an Felix' Eltern, als die Bundeskanzlerin vorm Kempinski aus dem Auto aussteigt, auf das Ehepaar zusteuert und dann abdreht zu einem anderen Plakathalter. Veit Kühne hält ein Papier hoch mit der Botschaft "Mörder - Herr Putin sie sind in Dresden nicht mehr willkommen". Ihm geht es um Tschetschenien, und das fragt er auch Angela Merkel: "Werden Sie gegenüber Herrn Putin das Thema ansprechen?". Sie darauf: "Natürlich werde ich das." Es ist das zweite selbst gemalte Plakat, dass Kühne Merkel entgegenhält. Das erste war ihm von Polizisten zerrissen worden. Und als die ihn auch noch abführen wollen, bekommen sie es mit einer wehrhaften Zivilgesellschaft zu tun. "Den lassen sie hier, wir sind doch nicht in Russland", fährt ein älterer Mann die Sicherheitskräfte an. Mehrere Umstehende mischen sich ein, erinnern an Meinungsfreiheit. Der Protestler darf bleiben. Als Putin ankommt, ruft Kühne laut "Mörder, Mörder", derStaatsmann guckt irritiert und geht ohne Publikumsrunde ins Schloss.
Es hat sich manches geändert, seit der russische Präsident vor fünf Jahren das letzte Mal in Dresden war. Damals waren die Jubelrufe lauter und mehr. Lublju tebja, wir lieben dich, ruft gestern keiner. Merkel scheint die beliebtere von beiden. Sie gibt sich leutselig, lässt sich sogar auf die Diskussion mit einem Autogrammjäger ein, aber nein, für ihn ein Putin-Autogramm besorgen, das will sie dann doch nicht. Bis auf die kurze Merkel-Volk-Begegnung bleibt man bei diesem Besuch auf Distanz. Nummer sicher, sehr sicher. Schon Stunden, bevor die Gäste am Zwinger eintreffen, nehmen vom Dach aus Scharfschützen die Passanten ins Visier, allerdings nur per Fernglas. In der Elbe sind Taucher auszumachen, auf der Elbe fahren Polizeiboote.
Ein junger Spaßvogel hat den Ernst derLage nicht wirklich erkannt und spricht vor demSchloss einen Polizisten an: "Ich habe meinen Koffer auf dem Bahnhof stehen lassen, können Sie mal nachsehen?" Der Angesprochene sagt genervt: "Scherze dieser Art sollten Sie lieber lassen". Und Fragen über Sicherheitskonzepte nicht stellen. Hat Putin aus Sicherheitsgründen nicht seinen russischen "Sil", sondern einen Mercedes vom Flughafen in die Stadt genommen? Will die Journalistin wissen. Die Antwort des russischen Sicherheitschefs ist vage. Zumindest bringt der "Sil" eine exotische Note in den Fuhrpark deutscher Bauart, der da unterwegs ist. "Echte Handarbeit", witzelt ein Polizist und zeigt auf das kantige, riesige Auto mit dem Panzer-Charme.
Charmant auf eine gefälligere Art zeigt sich Putin, als er vor dem Dostojewski-Denkmal von Dresden schwärmt, was sich alles getan habe, seit er das letzte Mal da war. Er liebe diese Stadt, sagt er vor der Presse. Dann zitiert er Dostojewski: "Nur die Schönheit kann die Welt retten". Als er gemeinsam mit Angela Merkel und Georg Milbradt das Denkmal enthüllt, schaut er aber dann allerdings leicht skeptisch. Wohl nicht sein Kunstgeschmack. Am Ende dann noch eine Demonstration, so schlecht wie behauptet ist sein Verhältnis zu Michail Gorbatschow gar nicht. Zumindest schaut die Begrüßung an den Stufen zum Kongresszentrum fast herzlich aus.
Nicht so nett sind die Sprüche, die Demonstranten auf der andere Straßenseite hochhalten: "Herr Präsident, Sie bringen den Tod nach Tschetschenien". Ein Mädchen geht vorbei, sie wohnt in einer kleinen Stadt in Russland und hat am deutsch-russischen Jugendparlament im Landtag teilgenommen. Ja, über den Mord an der Journalistin Politkowskaja haben sie auch gesprochen. Und dann erzählt sie, wie der Bürgermeister ihrer Stadt, der so ganz anders war als seine Vorgänger, ziemlich schnell nach seiner Wahl einen unerklärlichen Unfall hatte, tot. Das Mädchen heißt Olga, ihren Nachnamen möchte sie lieber nicht sagen.
Von Heidrun Hannusch
letzte Aktualisierung von 10.10.2006
Dresdner Neueste Nachrichten (Dienstag, den 10. Oktober 2006)
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FOCUS, Nr. 4, 23. Januar 2006
Und dann war Felix weg
In Dresden rauben Unbekannte 1984 ein fünf Monate altes Baby. Es ist einer
der spektakulärsten Kriminalfälle der DDR, politisch brisant und bis heute
ungeklärt. Nun hoffen die Eltern wieder
Von GÖRAN SCHATTAUER
Da war dieses Puzzle. Wenn es ihr nur gelänge, alle Teile zusammenzufügen. Dann würde sich alles lösen. Dann würde die Polizei ihren Felix finden und ihn zu ihr zurückbringen. So hoffte sie. Vier Tage bevor Felix verschwand, hat ihr eine Freundin das Puzzle geschenkt. Seine 1000 Teile ergeben das Motiv Junge Mutter mit Kind von Lucas Cranach dem Älteren, gemalt 1525. Der Säugling, den die schöne rothaarige Frau auf dem Bild so behutsam in den Händen hält, könnte genauso alt sein wie Felix. Fünf Monate. Es fällt Lenore Tschök schwer, sich zu konzentrieren. Sie schafft es nicht, das Bild zu vervollständigen. Bis heute nicht. Ein Puzzleteil ging verloren und fand sich nicht wieder. Ihr Kind kehrte nie zurück.
21 Jahre müsste Felix jetzt alt sein. 21 Jahre ist es her, dass der Raub des kleinen Jungen eine der größten Fahndungen in der Geschichte der DDR auslöste. Sein Schicksal erschütterte damals bei vielen Bürgern den Glauben an die vermeintlich absolute Sicherheit im sozialistischen Deutschland. Das Geheimnis seiner Entführung wurde nie ergründet, denn aus Furcht vor diplomatischen Komplikationen stellten die Ermittler ihre Suche nach Felix ein. Sein Name war für die verzweifelten Eltern viele Jahre lang ein Tabu, sie erwähnten ihn nicht mehr. Erst jetzt erzählen sie ihre Geschichte. Erst jetzt, da ein Staatsanwalt den Fall neu recherchiert, gibt es Hoffnung, das entscheidende Puzzlestück doch noch zu finden.
Der 28. Dezember 1984 ist ein nasskalter Freitag. Aus Wolken, die sich wie eine graue Betondecke über Dresden spannen, fällt Schneeregen. Am Nachmittag betreten Lenore Tschök, 24, und ihr Mann Eberhard, 28, das große Centrum-Warenhaus an der Prager Straße. Die junge Mutter studiert Ökonomie des Verkehrswesens. Der Vater ist bei der Mitropa für die Arbeitssicherheit zuständig. Er schiebt den braunen Cordkinderwagen mit dem Sohn in Richtung Kleinkinderbetreuung. Der Raum ist überfüllt. Fünf Paare warten vor der Tür. Lenore Tschök schlägt vor: Wir stellen den Wagen draußen ab. In einer überdachten Nische stehen bereits sechs Kinderwagen, einige leer, andere mit schlafenden Babys. Die Tschöks parken ganz links außen. Der Vater zieht ein Seilschloss zwischen die Speichen des Vorderrads und das Wagengestell. Dann dreht er den Schlüssel herum. Sicher ist sicher. Felix schläft.
Um 16.10 Uhr starten die Eltern ihren Bummel durch das Kaufhaus. Er führt sie von der Kurzwarenabteilung im Erdgeschoss zur Kinderkleidung in der erster Etage und schließlich zu den Fernsehern im zweiten Stock. Nach ungefähr 30 Minuten, ohne etwas gekauft zu haben, kehren die Eltern zurück zum Kinderwagen. Er steht am gleichen Platz. Es ist still. Felix scheint zu schlummern. Er muss sich bewegt haben, denn die Decke ist verschoben. Seine hellblau umhüllten Ärmchen und sein Köpfchen lugen nicht mehr hervor. Hastig nesteln die Eltern an der Decke, schlagen sie zurück und erstarren. Der Kinderwagen ist leer. Die Mutter schaut sich suchend um. Das rosa gekleidete Mädchen im Nachbarwagen liegt da wie vor einer halben Stunde. Auch alle anderen Kinder sind noch da. Der Vater alarmiert den Wachdienst.
Um 16.45 Uhr erreicht der Notruf die Dresdener Volkspolizei. Sie durchkämmt Parks, Keller und Abrisshäuser. Sie kontrolliert Bahnhöfe, stoppt Autos, verteilt Handzettel. Streifenwagen rollen durch Dresden und bitten die Bürger um Mithilfe: "Achtung, Achtung! Fünf Monate altes Kleinkind entführt ..." Durch die geschlossenen Fenster ihrer Altbauwohnung im fünften Stock hören auch Lenore und Eberhard Tschök die Lautsprecherdurchsagen. "Nur wir wussten, dass es um unser Kind geht", sagt Eberhard Tschök. "Es war grausam."
Die Beamten der Einsatzgruppe "Felix" legen ein Raster der Verdächtigen fest: vorbestrafte Kindesentführer und psychisch Kranke. Frauen, denen das Erziehungsrecht entzogen wurde. Frauen, die Fehl- oder Totgeburten hatten. Paare, deren Adoptionsanträge abgelehnt worden waren. Als ausgeschlossen gilt, dass die Eltern die Entführung inszeniert haben könnten. "Es wurde ein sehr guter Pflegezustand des Säuglings und ein gutes Milieu in der Wohnung festgestellt", steht im Polizeibericht. Es gebe "keine Hinweise auf eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung". Am ersten Wochenende nach der Tat nimmt der Fall eine dramatische Wende. Im Hausflur eines Dresdener Altbaus, Friedrich-Engels Straße 11, entdeckt ein Arbeiter in einem Kinderwagen einen Karton aus Wellpappe. Der Inhalt: ein kleiner Junge. Die Kripoleute sind ratlos. Niemand meldet das Kind als vermisst. Fest steht, um Felix Tschök handelt es sich nicht. Die Ermittler nennen den Findeljungen Martin. Und weil sie ihn am Sonntag fanden, geben sie ihm den Nachnamen Sonntag. Martin Sonntag. Doch wer ist Martin Sonntag?
Der Knabe wiegt 8900 Gramm und misst 74 Zentimeter. Er hat mittelblondes Haar und blaugraue Augen. Seine acht Milchzähne und seine Handwurzelknochen lassen vermuten, dass Martin zwischen neun und 15 Monate alt ist. Sein Körper weist Spuren medizinischer Eingriffe auf, die in der DDR unüblich sind: Narben von Schnitten für Infusionen. Martin muss sich für längere Zeit in stationärer Behandlung befunden haben. Als mögliche Gründe nennt das Protokoll "eine schwere infektiöse Erkrankung, ein Schädel-Hirn Trauma oder eine Vergiftung". Der Junge verfügt über keine der in der DDR vorgeschriebenen Schutzimpfungen. Als die Mediziner ihn auf Deutsch ansprechen, zeigt er keine Reaktion. Munter wird er, wenn er russische Wörter hört. Dann wendet er sich seinem Gegenüber "intensivst" zu, vermerken die Psychologen. Ihre Befunde werden den Kriminalisten unheimlich. Sollte jemand einen gesunden Säugling aus der DDR gegen ein krankes Kind aus der Sowjetunion ausgetauscht haben? Wurde Felix von in Dresden stationierten Rotarmisten gekidnappt und verschleppt? Der Verdacht ist politisches Dynamit. Er impliziert, dass unter den als Helden glorifizierten Sowjetmilitärs auch Verbrecher sind. Die Hinweise darauf mehren sich.
Den ersten Tipp liefert Uta Strauß. Wenige Minuten vor Felix' Entführung fährt die Erzieherin ihren Enkel vor dem Kaufhaus spazieren. Ihr fällt eine etwa 40 Jahre alte Frau auf, die einen altmodischen Mantel und eine seltsam aussehende, beigefarbene Strickmütze trägt. Die Frau beugt sich über einen Kinderwagen, in dem ein Baby schreit. Sie beruhigt es nicht, schaukelt nicht den Wagen. Komisch, denkt Uta Strauß und läuft weiter. Als sie kurz darauf wieder vorbeikommt, ist die Frau verschwunden, und im Kinderwagen ist es still. Nach ihren Angaben ensteht ein Phantombild der Mützenfrau.
Ein Kripobeamter sagt spontan: "Sieht ja aus wie Matka." Jeder weiß, er meint eine Russin. Ein weiteres Indiz ist das Wickeltuch des Findelkinds. Die Polizei findet heraus, dass sowjetische Familien und Kinderabteilungen sowjetischer Militärhospitäler solche Tücher verwenden. Zur Dresdener Garnison führt der Adresszettel auf dem Karton, in dem Martin Sonntag lag. Das Paket Nummer 8166, in dem der VEB Schuhfabrik "Roter Stern" in Burg Damenstiefel verschickte, ging über Taucha nach Dresden in die Magazinstraße 17. Hier sitzt die Armee-Handelsorganisation. Sie ist zuständig für die Versorgung der Sowjets mit deutschen Waren.
Mehrere Anwohner der Friedrich-Engels Straße berichten, etwa eine Stunde bevor Martin Sonntag entdeckt wurde, habe ein Kübelwagen der sowjetischen Streitkräfte vor dem Hauseingang geparkt. Ein Mann schildert, der olivgrüne Jeep habe "mit dem Heck zur Haustür" gestanden. Andere Zeugen geben zu Protokoll, sie hätten einen Mann beobachtet, der einen Schlitten zog, auf dem ein Pappkarton stand. Sie beschreiben ihn als 35 bis 40 Jahre alt, schlank, 1,70 bis 1,80 Meter groß, bekleidet mit grauem Stoffmantel, Fingerhandschuhen, Filzhut mit Krempe. Tatsächlich erkennen Betrachter den Mann auf dem Phantombild wieder: Risatdin Sultanow.
Er ist Hauptbuchhalter in der Dresdener Armee-Handelsorganisation. Im Fall des Findelkinds stehen die Fahnder vor dem Durchbruch, vielleicht sogar im Fall der Entführung. Denn zwischen beiden existiert eine Verbindung: Den Schnuller aus dem Findelkindkarton hatten zwei Babys im Mund. Eines mit Blutgruppe B (wie Martin Sonntag), eines mit Blutgruppe A (wie Felix Tschök). Für die Polizei ergibt sich folgendes Bild: Angehörige des sowjetischen Militärs entführen am 28. Dezember 1984 Felix Tschök und verschleppen ihn am 6. Januar 1985 aus der DDR. Sie nehmen den Eilzug 994 von Dresden-Neustadt nach Brest. Die Waggons der sowjetischen Staatsbahn dürfen von deutschem Personal nicht kontrolliert werden. Kurz nach Abfahrt des Zuges um 12.31 Uhr setzt ein Mitarbeiter des Militärs - vermutlich Buchhalter Sultanow - das Russenkind aus. Zuvor hatten Späher aus einem Jeep heraus die Lage gepeilt. Doch die sowjetische Militärstaatsanwaltschaft erklärt kategorisch, dass eine Täterschaft sowjetischer Staatsbürger "nicht festgestellt wurde". Dies bezweifeln die DDR-Strafverfolger zwar bis zuletzt. Doch "mangels Erfolgsaussichten" legen sie den Fall Ende 1985 ad acta. Nach dem Einstellungsbeschluss versuchen Lenore und Eberhard Tschök, Abschied von ihrem Kind zu nehmen. Aber wie soll das gelingen, solange es keine Gewissheit gibt und auch kein Grab, sondern nur verrückte Hoffnungen? "Bis heute finden wir keinen Seelenfrieden", sagt die Mutter. In den ersten Wochen nach der Katastrophe bleibt sie zu Hause. Einkäufe erledigt ihr Mann. Beim Friseur wird getuschelt, die Tschök sei in eine Nervenklinik gebracht worden. Die Eltern erhalten keinerlei psychologische Betreuung. Sie entwickeln ihre eigene Bewältigungsstrategie: Sie verordnen sich Vergessen. Weder Freunden noch Verwandten vertrauen sie sich an. Sie verbannen alle Fotos, auf denen Felix zu sehen ist, in eine kleine, gelbe Schachtel und die Schachtel in den Schrank. Auch andere Erinnerungsstücke verräumen sie. Die Skizze des schlafenden Felix, die sie für die Polizei gezeichnet hatten. Die Etiketten von Felix' Lieblingsgericht, Milchreis mit Früchten.
Das Tagebuch, das Lenore Tschök vor der Entführung geführt hat, gibt sie auf. Sie flieht in Beschäftigung und schreibt ihre Diplomarbeit. Die Tschöks machen ihren Schmerz mit sich aus. "Wir haben uns gegenseitig nie Vorwürfe gemacht", sagt Eberhard Tschök."Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn nur einer von uns den Wagen vorm Kaufhaus abgestellt hätte." Seine Frau sagt: "Schuld sind nur die, die es getan haben." Bis heute können beide das Geräusch zuschlagender Autotüren nicht ertragen.
Damals hofften sie jedes Mal, wenn eine Autotür ins Schloss fiel, die Volkspolizisten würden Felix zurückbringen. Das Kinderbett mit den hölzernen Gitterstäben lässt das Ehepaar in seinem Schlafzimmer stehen. Es bleibt leer, bis im Juni 1986 Fabian zur Welt kommt. In der Geburtsklinik muss Lenore Tschök auf die Fragen anderer Mütter antworten. Ist das Ihr erstes Kind? Nein, antwortet sie. Haben Sie ein Foto Ihres Älteren dabei? Nein. Ist er gesund? Ja, ja. "Ich habe mich immer durchgeschwindelt", sagt die Mutter. Sie will keine Aufmerksamkeit und kein Mitleid.
Zwei Kinder haben die Tschöks heute. Fabian ist 19, seine Schwester Nadja 17. Lange wissen auch sie nichts von Felix. Am Heiligabend 1998 sitzt die Familie unterm Christbaum. "Wir müssen euch was sagen", beginnt die Mutter mit schwerer Stimme. "Ihr habt noch einen Bruder." Fabian hatte sich immer einen großen Bruder gewünscht. Erst viele Jahre nach der Wende finden die Tschöks die Kraft, sich der Vergangenheit zu stellen. 2001 geben sie eine Vermisstenanzeige auf. Sie erreichen, dass Kripo und Staatsanwaltschaft die Akten wieder öffnen. Die Eltern fliegen nach Moskau, um ihren Fall im russischen Fernsehen zu schildern. Die Frau des damaligen Bundeskanzlers, Doris Schröder-Köpf, bitten sie in einem Brief, sie möge sich bei einem guten Freund nach Felix erkundigen, Russlands Präsident Wladimir Putin. "Herr Putin war Mitte der 80er- Jahre als Mitarbeiter des Geheimdienstes KGB in Dresden stationiert. Er muss von dem Vorfall Kenntnis haben", schreiben die Tschöks. An die Kanzlergattin, die 2004 die dreijährige Viktoria aus St. Petersburg adoptiert hat, appellieren sie: "Sie sind doch auch Mutter und können sich garantiert vorstellen, wie es ist, mit einer derartigen Ungewissheit leben zu müssen." Doris Schröder-Köpf lehnt ab.
In Dresden verbeißt sich Kriminalhauptkommissar Thomas Günther, 45, in den Fall. "Es gibt", glaubt der zweifache Vater, "noch genügend Ansätze." Er formuliert einen Katalog offener Fragen und tippt ein Rechtshilfeersuchen an die Moskauer Generalstaatsanwaltschaft. Eine Kernfrage lautet: Wo lebt der Buchhalter Risatdin Sultanow? Damals durften ihn deutsche Beamte nicht vernehmen. Am 9. Mai 1985 verließ er Hals über Kopf die DDR. 19 Jahre später spüren die Ermittler Sultanow auf. Er lebt in Ufa, Hauptstadt der russischen Teilrepublik Baschkirien. In seiner fast dreistündigen Vernehmung beteuert er am 6. Januar 2004 seine Unschuld. Niemals sei er "mit irgendwelchen Kartons durch Dresden gelaufen".
Schon bald wird man wissen, ob Sultanow die Wahrheit gesagt hat. Spezialisten des Landeskriminalamts Sachsen wollen in den nächsten Wochen erstmals sämtliche Beweisstücke im Fall Felix auf DNA Rückstände überprüfen. "Finden sich Genspuren von Sultanow an Sachen des Findelkinds, wäre er an der Aussetzung des Jungen beteiligt gewesen", sagt Staatsanwalt Jan Hille, 40. Dann müsste geklärt werden, "ob Sultanow die Kinder für sich selbst ausgetauscht hat oder für einen Auftraggeber". Resultate werden frühestens Ende Februar vorliegen. Bis dahin bleiben alle im Ungewissen: die Kidnapper, die zumindest in Russland nicht mehr belangt werden könnten, weil dort die Tat - anders als in Deutschland - verjährt ist. Der längst wieder gesunde Findeljunge Martin Sonntag, der 1985 von einem Ehepaar aus dem Raum Freiberg in Pflege genommen und später adoptiert wird. Der mittlerweile 21 Jahre alte Felix Tschök, der ahnungslos in einer falschen Identität lebt. An manchen Abenden zieht sich Lenore Tschök auf die Couch zurück und hört melancholische Balladen. "I'm coming back to you" - Ich komme zurück zu dir. In Gedanken sieht sie Felix auf sich zulaufen. Dann brechen Tränen aus ihr heraus. Wenn ihr in der Stadt Männer um die 20 begegnen, von großer, schlanker Statur, denkt sie: So könnte Felix heute aussehen. Wie er wohl heißen mag? Aljoscha vielleicht oder Igor oder Wladimir? Und wenn er eines Tages leibhaftig vor ihr steht? "Dann sprechen wir nicht", sagt Lenore Tschök. "Wir drücken uns. Ganz fest, ganz lange. Dann wird alles gut."
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FAZ vom 27.06.2006
Von Reiner Burger
27. Januar 2006
Lenore Tschök gehört zu jenen Menschen, die einen Raum mit Fröhlichkeit füllen können. Wenn sie gestenreich erzählt, blitzen ihre Augen in freudiger Erwartung der nächsten Pointe. Eine Arbeitskollegin sagte deshalb kürzlich zu ihr: "Lenore, du bist so ein Typ, dem passiert nichts Schlimmes."
Alles in allem haben es Lenore Tschök und ihr Mann Eberhard gut getroffen. Den beruflichen Umbruch nach der Wende haben beide gemeistert. Die Kinder, 17 und 19 Jahre alt, sind gesund.
Der Große studiert schon. Der Große? Es sind diese scheinbar unspektakulären Worte, die Lenore Tschök immer wieder mitten im Satz an das schlimmste Ereignis ihres Lebens erinnern. Denn Fabian ist nicht der Große. Lenore und Eberhard Tschöks ältestes Kind heißt Felix. Seit einundzwanzig Jahren haben sie von Felix nichts gehört und nichts gesehen.
Felix wurde allein gelassen
Der 28. Dezember 1984 ist ein naßkalter Tag. Lenore, damals 24, und ihr vier Jahre älterer Mann haben sich zu einem nachweihnachtlichen Bummel durch Dresden aufgemacht. Im Centrum- Warenhaus, dem heutigen Karstadt-Kaufhaus, wollen sie ihren Felix in der Kleinkindbetreuung abgeben, um in Ruhe einzukaufen. Doch dort sind schon viel zu viele Kinder. Also stellen sie den braunen Cordwagen samt schlafendem Felix in eine überdachte Nische vor dem Kaufhaus, wo sechs weitere Kinderwagen, manche ebenfalls samt Kind, geparkt sind.
In der DDR war es nichts Außergewöhnliches, sein schlafendes Kind vor einem Geschäft kurz alleine zu lassen. Jahr für Jahr teilte die sozialistische Staatsführung den Bürgern mit, daß es kaum sonstwo auf der Welt so sicher sei wie in der DDR. Die Tschöks jedenfalls denken an jenem 28. Dezember, daß es jemand höchstens auf den Kinderwagen absehen könnte. Eberhard Tschök zieht noch schnell ein Fahrradschloß durch dessen Vorderräder.
Doch als das Ehepaar kaum eine halbe Stunde später, gegen 16.40 Uhr, aus dem Kaufhaus kommt, ist der Kinderwagen leer. Eberhard Tschök verständigt den Wachdienst, wenig später ist die Volkspolizei alarmiert. Es beginnt eine der größten Fahndungen, die es in der DDR je gegeben hat. Die Sonderkommission "Felix" habe hervorragende Arbeit geleistet, sagt Christian Avenarius, Sprecher der Dresdner Staatsanwaltschaft.
"Diese Leere war das Schlimmste"
Eckhard Schuldt, damals Leiter der Sonderkommission "Felix", bekam die besten Kriminalisten für den Fall. Fieberhaft versuchen die Polizisten, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen: vorbestrafte Kindesentführer, Personen, denen das Erziehungsrecht entzogen worden ist. Daß Lenore oder Eberhard Tschök selbst etwas mit der Entführung zu tun haben könnten, schließen die Ermittler schnell aus. "Diese Leere war das Schlimmste", erinnert sich Lenore Tschök. Das leere Bettchen neben dem Ehebett, die Kindernahrung im Kühlschrank, die Babykleidung in der Wohnung. "Alles hat uns nur an Felix erinnert", sagt Eberhard Tschök. In den ersten Tagen flüchtete sich seine Frau in tiefen Schlaf. "Hätte sich Eberhard nicht um mich gekümmert, ich wäre untergegangen." Psychologische Betreuung erhalten die Tschöks nie. Draußen läuft unterdessen die Suche weiter. Polizisten verteilen Handzettel. Ausführlich berichten die Zeitungen der DDR über den Fall: "Bürger, wir brauchen Ihre Mithilfe", titelt die "Sächsische Zeitung" am 31. Dezember 1984. Auch im "Neuen Deutschland", dem Zentralorgan der SED, wird ein ähnlicher Aufruf abgedruckt.
Operationswunden
Neun Tage nach dem Verschwinden von Felix nimmt der Fall eine unvorhersehbare Wendung: In einem Altbau an der Friedrich Engels-Straße (heute Königsstraße) findet ein Mann im Flur einen Wellpappkarton, in dem ein kleiner Junge liegt, dessen Arme etwa in Höhe der Ellenbogen an den Körper gebunden sind. Wie ein Lauffeuer geht es durch Dresden: Felix ist gefunden. Doch es ist nicht Felix. Dafür können die Ermittler bald nachweisen, daß es sich mit großer Wahrscheinlichkeit bei "Martin Sonntag", wie sie das Kind nennen, weil es an einem Sonntag gefunden wurde, um einen Russen handelt. Denn an Armen und Beinen finden sich Operationswunden, die nicht von einer Behandlung in einem DDR-Krankenhaus stammen können, und bei Hörversuchen reagiert der Junge zwar nicht auf deutsche, dafür aber sehr angeregt auf russische Laute. Zudem fördern die Untersuchungen ein anderes Ergebnis zutage: Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Felix und Martin. Am Schnuller, den das Findelkind bei sich hat, stellen Fachleute Speichelreste fest, in denen die Blutgruppen beider Kinder nachgewiesen werden können. Nun gehen die Ermittlungen zügig voran. Ein Zeuge macht so ausführliche Schilderungen zu der Person, die den Karton mit Martin abgelegt haben soll, daß ein Phantombild von geradezu fotografischer Qualität angefertigt werden kann. In diesem Bild erkennt ein weiterer Zeuge seinen Chef, den Zivilangestellten der sowjetischen Armee Risadtin Sultanow. Der Karton stammt vom"VEB Schuhfabrik Roter Stern" in Burgund war im Dezember 1984 an eine sowjetische Spezial-Handelsorganisation in Dresden geliefert worden. Der Fall, so scheint es, steht kurz vor der Aufklärung. Eine vielversprechende Ermittlungsthese: Sowjetische Staatsbürger haben am 28. Dezember 1984 Felix Tschök entführt oder haben ihn entführen lassen. Ihr eigenes Kind "Martin", das sie offensichtlich für krank halten, lassen sie am 6. Januar 1985, kurz nachdem sie Dresden mit dem Eilzug Richtung Sowjetunion verlassen haben, von Sultanow in der Dresdner Neustadt aussetzen.
"Mit sozialistischem Gruß"
Die Militärstaatsanwaltschaft Dresden und die Kommandantur der Sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf bei Berlin werden in die Sache einbezogen. Auch die Staatssicherheit der DDR beteiligt sich mit Erkundungen und organisiert sogar eine konspirative Gegenüberstellung zwischen einem Zeugen und Sultanow. "Zur weiteren Überprüfung der Identität wurde der SU-Bürger unter zeitweilige Beobachtung durch die Abteilung VIII gestellt, in deren Verlauf Fotoaufnahmen gefertigt wurden", heißt es in der Stasi-Akte. Das Ministerium für Staatssicherheit bittet Geheimdienstkollegen in der Volksrepublik Polen und der CSSR "mit sozialistischem Gruß" um Kooperation.
Die Zusammenarbeit mit den sowjetischen Beamten aber endet abrupt. Eine Verwicklung sowjetischer Staatsbürger in den Fall habe nicht festgestellt werden können, heißt es lapidar. Im Mai 1985 verläßt Sultanow nach nur acht Monaten "auf eigenen Wunsch" Dresden. Eigentlich hätte er drei Jahre bleiben sollen. Am 27. Dezember 1985 wird das Ermittlungsverfahren in der Sache Felix vorläufig eingestellt.
Lenore und Eberhard Tschök versuchen zu vergessen. Die Geburt ihres zweiten Sohnes Fabian hilft ihnen zunächst dabei. Doch schon bald werden Tschöks wieder von dem schrecklichen Erlebnis eingeholt: Sie erhalten eine Aufforderung, mit Felix zur Pflichtimpfung zu erscheinen. "Klar, der Junge ist ja nicht tot, und man machte sich schon fast ein wenig strafbar, wenn man sich nicht an die Termine hielt", erinnert sich Lenore Tschök. Nach der Wende kam die Aufforderung, mit Felix zur Einschulungsuntersuchung zu erscheinen. Nach und nach reift in den neunziger Jahren bei dem Ehepaar der Entschluß, die Angelegenheit noch einmal aufzurollen.
"Die Antworten sind lapidar"
Doch zunächst gilt es, in der Familie einen wichtigen Schritt zu tun: An Heiligabend 1998 erzählen sie Nadja und Fabian, der sich immer einen größeren Bruder gewünscht hatte, daß es eigentlich drei Kinder gibt in der Familie Tschök. "Das war höchste Zeit, weil in der Verwandtschaft natürlich alle Bescheid wußten", sagt Frau Tschök. Aber mit den Freunden, so schärfen die Eltern ihren Kindern ein, sprecht ihr nicht darüber. 2001 schließlich geben sie abermals eine Vermißtenanzeige auf.
Zwei Jahre später tritt das Ehepaar in der Vermißten-Sendung "Warte auf mich" des russischen Fernsehens auf. Die Tochter Sultanows sieht die Sendung und macht ihrem Vater Vorhaltungen. Wenig später kommt die junge Frau ums Leben. Doch unterdessen ist die Angelegenheit auch auf dem Rechtsweg wieder ins Laufen gekommen. 2003 geht ein Rechtshilfeersuchen der Dresdner Ermittler an die Moskauer Staatsanwaltschaft, die Sultanow in Ufa, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Baschkirien, aufspüren und ihn dort am 6. Januar 2004 mehrere Stunden lang vernehmen.
"Wir sind dankbar und beeindruckt von der Zusammenarbeit mit den russischen Kollegen", sagt Staatsanwalt Avenarius. AuchLenore Tschök war "hochbeglückt" über die Antwort aus Rußland."Aber als ich die Akten las, war ich wieder am Boden zerschmettert. Denn an jeder interessanten Stelle sind die Antworten lapidar." Auch streite der Zeuge Sultanow in der Vernehmung ab, mit der Sache etwas zu tun zu haben. Frau Tschök aber ist sich sicher: "Der Mann sagt nicht die Wahrheit. Er war Handlanger."
"Wie groß Felix wohl ist?"
Um mehr Licht in die Angelegenheit zu bringen, haben die russischen Behörden von Sultanow und seinen Kindern Speichelproben nehmen lassen. Zur Zeit überprüfen Spezialisten des Landeskriminalamts Sachsen die DNA-Spuren auf den eingelagerten Beweisstücken im Fall Felix auf Übereinstimmungen mit dem genetischen Fingerabdruck Sultanows. Allzu große Erwartungen verbinden die Tschöks mit dem Abgleich, dessen Ergebnisse im Februar vorliegen sollen, jedoch nicht. Sie glauben, daß es noch viele unerforschte Spuren gibt. Der Kreis der Kinder im Alter von Martin, die in einem sowjetischen Militärkrankenhaus in der DDR behandelt worden seien, sei doch sehr überschaubar, meint Eberhard Tschök. Auch sollen in einem Rechtshilfeersuchen die weißrussischen Behörden gebeten werden, die Grenzübertrittsbücher für die Tage um den Jahreswechsel 1984/1985 zu durchforsten. Manchmal malt sich Lenore Tschök aus, wie es wäre, Felix nach all den Jahren wiederzusehen. Was wohl in ihm vorgehen würde?
Den Leuten, die ihn zu sich genommen haben, werde sie bestimmt keine Vorhaltungen machen.
Obwohl man sich das mal vorstellen müsse, diese doppelte Schuld: das eigene Kind aussetzen und ein fremdes nehmen. "Wie groß Felix wohl ist? Bestimmt größer als Fabian. Wir sehnen uns nach einer Spur von ihm."
F.A.Z., 27.01.2006, Nr. 23 / Seite 7
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