Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen - Flüchtlingsproblematik

Österreich: 15-jährige Kosovarin Arigona

Österreich: 15-jährige Kosovarin Arigona

Das Mädchen und der Pfarrer

Von Joachim Riedl

Die 15-jährige Kosovarin Arigona, die für den Fall ihrer Abschiebung mit Selbstmord gedroht hatte, erregt Medien und Gemüter. Doch die Politiker wollen sich um das Thema Asylrecht drücken
Arigona tritt auf, wie sich die Medien ein verzweifeltes Mädchen nur wünschen können

Arigona tritt auf, wie sich die Medien ein verzweifeltes Mädchen nur wünschen können

© STRINGER/AFP/Getty Images

Die kleine Gemeinde Ungenach mit 1400 Einwohnern im oberösterreichischen Hausruckviertel ist ein Ort der Weltliteratur. „Es ist gelungen, aus Ungenach eine einzige Natur- und Geistesverheerung und –verwüstung zu machen, eine Hölle der Geschmacklosigkeit, zu einer perversen Brutalität und schließlich zu einer Infamie, zu einer grotesken Künstlichkeit.“ Das schrieb Thomas Bernhard vor knapp 40 Jahren in einer Erzählung, die er nach der bäuerlichen Ortschaft benannte. Der Übertreibungsdichter empörte sich damals über nichts weniger als den Verlust der gewachsenen ländlichen Strukturen, die den idyllischen Flecken mit seinen weit auseinander liegenden Gehöften langsam in ein Allerweltsdorf zu verwandeln begannen. Auf gewisse Weise trifft der polemische Befund noch immer zu. Doch die Verheerung kam diesmal von weit her. Vergangene Woche fiel die internationale Medienmeute über die Ortschaft her, Fernsehteams, Fotografen, Reporter stürmten den Pfarrsaal, es blieb kein Platz mehr frei. Es ging es um die Inszenierung einer Sensationsgeschichte. Mit einem Mal hatte die verschlafene Landgemeinde Anschluss an das moderne Medienzeitalter gefunden.

Verantwortlich dafür waren allerdings nicht die Bewohner von Ungenach, die skeptische Distanz zu dem Trubel wahrten, sondern der Dorfpfarrer. „Bei unserem Pfarrer weiß man nie“, seufzte selbst der Bürgermeister.

Denn Josef Friedel, Dechant und seit 30 Jahren Seelenhirte der Ungenacher, hatte das ganze Land damit überrascht, indem er einem von der Abschiebung bedrohten Mädchen aus dem Kosovo, zu deren Unterstützung erst am Tag zuvor zehntausend Wiener im Regierungsviertel demonstriert hatten, „Kirchenasyl“ angeboten hatte, wie das auch ganz offiziell jetzt die österreichischen Behörden nennen. Und dadurch rückte er das Dorf in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.

So ungewöhnlich diese mittelalterliche Rechtsnorm in einem Rechtstaat des 21. Jahrhunderts klingen mag, so ungewöhnlich ist auch der Fall, um den es geht. Vor zwei Wochen war die 15-jährige Arigona Zogaj untergetaucht, nachdem eines Abends die Fremdenpolizei das Gebäude, in dem die gut integrierte kosovarische Flüchtlingsfamilie in der Ortschaft Frankenburg lebte, umstellt hatte, um alle sieben Zogajs dorthin zurück zu schaffen, woher sie vor fünf Jahren gekommen waren. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Arigona allerdings in der nahen Kreisstadt Ried und besuchte einen Kurs für ihren Mopedführerschein. Ihre Freundinnen alarmierten sie über das Mobiltelefon und in einer spontanen Verzweiflungsreaktion fand sie schnell einen verschwiegenen Unterschlupf. Zunächst in einer schriftlichen, dann auch in einer Videobotschaft ließ sie verlauten, sie würde sich lieber das Leben nehmen, als abgeschoben werden. Ihre Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch und durfte vorläufig in einem österreichischen Krankenhaus bleiben, der Vater und die restlichen vier Geschwister wurden hingegen unerbittlich in den Kosovo ausgeflogen.

Für das untergetauchte Mädchen begann nun eine abenteuerliche Odyssee. Von einem Unterstützernetzwerk wurde sie offensichtlich von Versteck zu Versteck weitergereicht. Sie habe keine 24 Stunden an einem Ort verbracht, erzählte sie jetzt. Gleichzeitig stürzten sich die Boulevardmedien auf den Fall, dessen Ingredienzien – ein sympathisches, eloquentes Mädchen mit großen verschüchterten Augen in der Opferrolle – sie zwangsläufig an die Schlagzeilenfestspiele rund um das Entführungsopfer Natascha Kampusch erinnern mussten. Sie entfremdeten nun die Verzweiflungstat zu einem ergreifenden nationalen Melodrama und selbst zuverlässig xenophobe Kommentatoren drückten auf die Tränendrüse. Eine besonders fragwürdige Rolle dürfte die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt ORF gespielt haben: Mittelsleute werfen den Fernsehjournalisten vor, sie wären erst von dem Sender mit der Drohung, man könne andernfalls nicht mehr so positiv über den Fall berichten, zu der Aufsehen erregende Videobotschaft gedrängt worden. Der Film, in dem sich Arigona wie ein scheues Reh in eine Ecke drückt und schluchzend um Barmherzigkeit fleht, löste überall emotionale Empörung aus, die von einem großflächigen Medienecho überhöht wurde.

Der Flüchtlingsschnulze waren die Politiker selbstverständlich auf Dauer nicht gewachsen. Der konservative Innenminister, von Beruf ein Gendarm aus Tirol, tölpelte als gnadenloser Hardliner von Durchhalteinterview zu Durchhalteinterview. Vom Bundespräsidenten abwärts verhedderten sich alle in den Ungereimtheiten des äußerst restriktiven österreichischen Fremdenrechtes, das vor allem von der Idee getragen ist, möglichst jede Einwanderung zu unterbinden. Darüber wird zwar seit Jahrzehnten diskutiert – aber jede neue Debatte führte zu neuerlichen Verschärfungen. Jetzt schien zumindest in einem Teil der Bevölkerung die Stimmung zu kippen. Die regierende Große Koalition steckte in dem Dilemma, sich zwischen Härte und Milde entscheiden zu müssen, stets eingedenk der populistischen Agitatoren der beiden Rechtsparteien, die keine Gelegenheit ungenützt verstreichen lassen, die Ressentiments der Wähler aufzupeitschen. Vor allen die Sozialdemokraten bewegten sich langsam auf eine Zerreißprobe zu, aber auch bei ihrem Koalitionspartner von der Volkspartei regte sich unüberhörbar das christliche Gewissen. Hätte die rührselige Medieninszenierung noch länger angehalten, wäre es wohl unvermeidlich geworden, dass sich die Politiker wieder an jene heikle Materie heranwagen müssen, vor der sie sich lieber mit einem unausgegorenen Paragrafenwerk drücken. Jetzt werden sie sich wahrscheinlich mit einem simplen Gnadenakt aus der Verlegenheit stehlen können und weiterhin ihr janusköpfiges Willkürspiel mit viel bürokratischer Härte und gelegentlicher Mildtätigkeit, wenn jemand zufällig einflussreiche Fürsprecher findet, treiben können.

Vor allem die Christdemokraten müssen das unvermutete Eingreifen des Pfarrers von Ungemach wie ein Geschenk Gottes empfunden haben. Auf den bedächtigen Geistlichen waren die Helfer des untergetauchten Mädchens bei einer Protestkundgebung in Frankenburg aufmerksam geworden, wo Dechant Friedl eine beherzte Rede hielt. Seit langem bietet der Gottesmann nämlich Flüchtlingen, die im Stacheldrahtverhau der Fremdengesetze hängen geblieben sind, Unterschlupf. Gegenwärtig beherbergt er auch eine mongolische Familie. Arigonas Helfer hatten mit ihrer Bitte um Unterstützung jedenfalls auf den richtigen Mann gesetzt. Ein kosovarischer Mittelsmann lotste den Pfarrer in einer nächtlichen Irrfahrt zu einem düsteren Parkplatz in Wien, wo das flüchtige Mädchen wie aus dem Nichts in das Auto des Geistlichen huschte. Kirchenasyl muss heute eben mobil sein.

In der Folge zeigte Pfarrer Friedl außergewöhnliches Format, das Krisenprofis in vergleichbaren Situationen meist vermissen lassen. Das Vertrauen des muslimischen Mädchens, berichtet der katholische Pfarrherr, habe er gewonnen, indem er sie aufforderte: „Sag’ Josef zu mir.“

Nun lässt er das Mädchen von einer Vertrauten an einem unbekannten Ort betreuen, begleitet es zu einem Widersehen mit der Mutter und behütet es vor dem Sensationshunger der Reporter. Dabei erzählt er immer nur genau so viel, dass er die Intimsphäre seines Schützlings wie ein Beichtgeheimnis bewahren kann. Über das Treffen Arigonas mit ihrer Mutter wusste er etwa zu erzählen: „Es war so ergreifend, dass ich gar nichts darüber sagen kann.“

Vor allem gilt die Neugier nun dem Netz von Helfern, die Arigona auf ihrer Flucht unter ihre Fittiche genommen hatten. Nach österreichischem Recht drohen ihnen Haftstrafen bis zu sechs Monaten.

Theoretisch hat sich auch Pfarrer Friedl strafbar gemacht. Auf die Frage, ob ihn die Aussicht auf einen Gefängnisaufenthalt schrecke, entgegnete der 64-jährige Priester milde: „Das wäre doch in meinem Alter noch eine recht interessante Erfahrung.“
© ZEIT online 13.10.2007 - 20:52 Uhr
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