NS-Erziehungsheime und NS-Verfolgung von Jugendamtsmitarbeiter
Geglaubt, gelitten und grausam gestorben;
Eine Studie dokumentiert das Leiden der Zeugen Jehovas aus NRW unter den Nazis
AUTOR: Christiane Willsch
RUBRIK: NRW; S.NRW13 Heft 50/2006
LÄNGE: 794 Wörter
Ein Siebenjähriger liegt mit schwerer Grippe auf der Couch. Doch das hindert die beiden Männer vor der Türe nicht daran, den kleinen Paul-Gerhard Kusserow abzuholen. Mit Gerichtsbeschluss in der Hand zerren der SA-Sturmführer und der begleitende Polizeibeamte den Jungen vom Krankenlager. Das Ziel des Transports: Ein Heim für "Kriminelle und Schwererziehbare" in Dorsten. Dort sollen aus dem Jungen und seinen Geschwistern, die von der Schulbank verschleppt wurden, richtige Nationalsozialisten werden.
Familie Kusserow aus Münster gehört der Glaubensgemeinschaft der Bibelforscher an, heute bekannter unter dem Namen Zeugen Jehovas. Ihr Schicksal beschreibt die jetzt veröffentlichte Schrift "12 Jahre - 12 Schicksale". Deren Ergebnisse stellte diese Woche der Verband der Gedenkstätten zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung in Form einer Studie vor.
Lange Zeit blieb das Leid der Zeugen Jehovas unter dem Nazi-Regime unbeachtet. In der Bundesrepublik gehörten sie zu den "vergessenen Opfern", wohl auch, weil man die missionierende Minderheit eher beargwöhnte, wie dies die Historikerin Kirsten John-Stucke formuliert. Daran hat sich mittlerweile jedoch viel geändert.
Eifrige Forschungsarbeit innerhalb der Glaubensgemeinschaft lieferte Historikern den Stoff für Dissertationen und Forschungsprojekte. Eine Forschungslücke war bislang noch die Lage auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens. Daher widmet sich die neue Studie in zwölf Biografien den Opfern und Verfolgten aus NRW, von denen es insgesamt rund 2000 gab.
Nach 1933 steigerte sich kontinuierlich die Intensität der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Da ist beispielsweise Heinrich Wickenkamp, der als leitender Beamter im Jugendamt für die Oberhausener Kinderheime die Verantwortung trug. Ohne Angabe von Gründen wird er plötzlich versetzt, die Besoldung wird empfindlich gekürzt, schließlich wird er entlassen - als "Staatsfeind". Er leistete keinen Hitlergruß.
Oder da gibt es den Fall Elly Feys aus Köln. Erst wird sie in die Einzelhaft, dann in die "Schutzhaft" im KZ Ravensbrück gezwungen. Zuvor hatte sie gemeinsam mit den anderen Frauen mit dem lila Winkel (der Markierung der Bibelforscher in den Lagern) die Arbeit verweigert. Sie sollten Munitionstäschchen für Soldaten nähen, was sie aus Gewissensgründen ablehnten.
Die 13-köpfige Familie Kusserow erlitt sogar die ganze Palette nationalsozialistischer Grausamkeit. Acht Familienmitglieder litten jahrelang in Gefängnissen oder Konzentrationslagern, die drei Jüngsten wurden in Erziehungsheime verschleppt. Wilhelm Kusserow wurde 25-jährig in Münster erschossen. Wolfgang Kusserow ließ sein Leben unter der Guillotine - mit 20 Jahren. Ein weiterer Bruder starb 1946 an den Folgen der KZ-Haft. Nach der Hinrichtung Wilhelm Kusserows schrieb der Pflichtverteidiger an den Vater: "Er empfing den Tod aufrecht und war sofort tot. Seine Haltung hat das ganze Gericht und uns alle zutiefst beeindruckt. Er starb entsprechend seiner Überzeugung."
Zuvor hatte der 25-Jährige noch einen beeindruckenden Abschiedsbrief an die Familie verfassen dürfen. Darin schrieb er: "Hier im Gericht hat man sich die größte Mühe gegeben, mein Leben zu erretten, auch im letzten Moment noch. ( ) Doch hätte ich mich umgestellt, so wäre alles verloren gewesen und umsonst und ich stände jetzt außer Gunst Gottes und die inneren Qualen wären jetzt größer bei mir gewesen wie sie heute sind, wo ich weiß, dass ich genau nach dem Gesetze Gottes gehandelt habe."
Alle zwölf geschilderten Fälle machen deutlich, wie viel blinder Gehorsam auf Seiten der Wärter und Beamten vorherrschte. Damit kamen einige auf Dauer indes nicht zurecht. So erhielt der anfangs erwähnte Paul-Gerhard Kusserow Jahrzehnte später einen Brief von dem Beamten, der den Siebenjährigen damals in das Erziehungsheim gebracht hatte - in der Dokumentationsstelle Villa ten Hompel ist die Schreibmaschinen-Seite zu sehen. Sie liest sich wie eine indirekte Bitte um Absolution.
Schon damals habe er das Vorgehen verurteilt, gerade wegen des Kindes Krankheit. Er sei extra langsam gefahren, schreibt der Beamte. Er habe sich auch nicht beklagt, als der Junge auf seinen Ärmel erbrach, und bei der Schwester des Erziehungsheims habe er sogar ein gutes Wort für den Jungen eingelegt. Der pensionierte Verfasser fordert Kusserow 1980 gar auf, ihn doch zu besuchen: "Ein herzliches Willkommen ist Ihnen gewiss."
"12 Jahre - 12 Schicksale" ist kostenfrei bei der Landeszentrale für politische Bildung zu beziehen: www.politische-bildung-nrw.de
Links: Bibelforscher Heinrich Wickenkamp mit Familie, unten: Die schwer verfolgte Großfamilie Kusserow, von deren 13 Mitgliedern acht in der Nazizeit gefoltert, im Konzentrationslager interniert oder umgebracht wurden
Landeszentrale Pol. Bildung