Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen - Kinderschutzverbesserungen

Thüringen: Wir nehmen jeden Hinweis ernst

Thüringen: Wir nehmen jeden Hinweis ernst

Südthüringer Zeitung
Ressort Bad Salzungen
Erschienen am 21.08.2010 00:00
"Wir nehmen jeden Hinweis ernst"
Von Katrin Lublow
Immer öfter nehmen Jugendämter Kinder und Jugendliche in Obhut. Ein Bundestrend, den der Wartburgkreis nicht mitmacht. Hier setzt man auf frühe Hilfen.

Wartburgkreis - Die Angst geht um unter den Sozialarbeitern, und sie wächst mit jedem Kind, das in Deutschland stirbt. Immer hat
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Die Zahl der in Obhut genommenen Kinder im Wartburgkreis ist 2009 zurückgegangen. Foto: Katrin Lublow
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das Jugendamt etwas gewusst, in Bremen, wo man die Überreste des kleinen Kevin in einem Kühlschrank fand, oder in Hamburg, wo die kleine Jessica in einer Hochhauswohnung verhungerte, und in Schwerin, wo die Großeltern der fünfjährigen Lea-Sophie vor deren Tod das Jugendamt gewarnt hatten, dass etwas nicht stimme.

Jeder neue Fall geht auch der stellvertretenden Amtsleiterin des Wartburgkreis-Jugendamtes, Gabriele Brodrecht, unter die Haut. "Das darf uns einfach nicht passieren." Wird eine Familie dem Jugendamt gemeldet, stehen die Sozialarbeiter sofort auf der Matte. Den Fehler, nicht schnell genug zu reagieren, wolle man hier auf keinen Fall machen. Einfacher werden die Entscheidungen dadurch aber nicht.

Wie das Statistische Bundesamt mitteilte, wurden im vergangenen Jahr 33 700 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, das waren 4,5 Prozent mehr als 2008. Im Vergleich zu 2004 betrug die Steigerung sogar 30 Prozent. "Dass die Zahl der sogenannten Kinderschutzfälle steigt, muss aber nicht unbedingt bedeuten, dass mehr Kinder als früher gefährdet sind", sagt Gabriele Brodrecht. Inzwischen gebe es eine "gesteigerte Meldebereitschaft". Lehrer, Erzieher, Ärzte, aber auch Verwandte, Nachbarn oder andere, die mit Kindern zu tun haben, seien "sensibler geworden", schauen genauer hin, fragen nach. "Bei jedem Hinweis, auch anonym, müssen Kollegen einen Hausbesuch machen", sagt Brodrecht. Dann müssen Entscheidungen getroffen werden. Sofort. Kann das Kind in seiner Umgebung bleiben oder müssen wir es in Obhut nehmen?

Mit der Angst steigt zugleich die Gefahr der Überreaktion. Schnell werde dann das Jugendamt auf eine Eingreifbehörde reduziert. Die Angst der Eltern vor dem Jugendamt sei dann das Schlimmste, was hilfebedürftigen Kindern passieren kann. Genau das versucht man in Thüringen zu vermeiden. Insgesamt wurden hier im vergangenen Jahr 976 Kinder in Obhut genommen - und damit 16 Prozent weniger als 2008. Mit Blick auf den Wartburgkreis bestätigen sich die rückläufigen Zahlen. 2003 zählte das Jugendamt noch 50 Inobhutnahmen, 2009 waren es nur noch 15 Fälle. Darunter auch sogenannte Selbstmelder, also Kinder und Jugendliche, die ihre Situation zu Hause für unerträglich halten und nicht mehr heimkehren wollen.

Die Fortschreibung des Maßnahmenkataloges zur Stärkung des Kinderschutzes beinhaltet insbesondere die Förderung von Beratungsdiensten, Fortbildungen, Entwicklung von sozialen Frühwarnsystemen, Ausbildung und Einsatz von Familienhebammen sowie den Ausbau von frühen Hilfen für Eltern und ihre Kinder. Zudem kommt der lückenlosen Durchführung der Früherkennungsuntersuchungen U3 bis U9 eine zentrale Rolle zu. "Dadurch sind wir von Anfang an viel näher an den Familien dran, können rechtzeitig Hilfen anbieten, noch bevor alles eskaliert", so Brodrecht. Daher hat im November 2009 das Vorsorgezentrum des Landes Thüringen in Bad Langensalza seine Arbeit aufgenommen. Es prüft, welche Kinder die Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen haben. Im Vorfeld bekommen die Eltern ein Schreiben zugesandt, mit der Bitte, die fällige U-Untersuchung durchführen zu lassen. Erhält das Vorsorgezentrum keine Bestätigung von dem jeweiligen Kinderarzt, erfolgt ein weiteres Erinnerungsschreiben.

Gibt es danach noch immer keine Reaktion, wird die Meldung über die versäumte U-Untersuchung an das Jugendamt weitergegeben. "Dann müssen wir handeln", so Brodrecht. Die regelmäßigen Arztbesuche sollen dabei helfen, Krankheiten oder auch Fälle von Misshandlung oder Vernachlässigung frühzeitig zu erkennen. Das Prinzip der möglichst frühen Hilfen - "es bewährt sich in der Praxis", so Brodrecht. Während andere Jugendämter immer noch die Keule rausholen, versuche das hiesige Personal keine vorschnellen Entscheidungen zu treffen. "Doch vor einer Fehleinschätzung sind auch wir nicht geschützt." Denn neben der körperlichen rückt auch immer mehr die emotionale und psychische Vernachlässigung in den Blickpunkt, so Brodrecht. Eine Rolle könnte die Armut spielen, die sich durch Hartz IV bei Familien verschärft hat. "Armut allein ist aber kein Anlass für Erziehungshilfen", sagt Brodrecht, Probleme kommen auch in "gut betuchten Familien" vor, aber Armut sei ein Belastungsfaktor, der Familien stärker unter Stress setze: "Da kann es zum Zusammenbruch einfachster pädagogischer Kompetenzen kommen, wie etwa das Kind pünktlich zur Schule zu schicken oder zum Hausaufgabenmachen anzuhalten."

Noch größere Risikofaktoren seien Trennung und Scheidung. "Prekäre Situationen, in denen eine Familie auseinanderbricht oder nie bestanden hat", seien neben ökonomischen Faktoren für Kinder besonders belastend. Mit dem verbesserten Kinderschutz sei ein guter Kompromiss entstanden. Allerdings sei das Jugendamt mehr denn je auf eine Kultur des Hinschauens angewiesen. "Wir nehmen jeden Hinweis ernst." Brodrecht erzählt von dem letzten Fall. Ein anonymer Anrufer habe beobachtet, wie zwei Kleinkinder ohne elterliche Aufsicht seit Stunden im Freien spielten. Ein Sozialarbeiter habe sich sofort auf den Weg gemacht. Wie sich herausstellte, seien die Eltern zu diesem Zeitpunkt stark alkoholisiert und nicht in der Lage gewesen, auf die Kinder aufzupassen. Ein klarer Fall von Kindeswohlgefährdung. Familiäre Ressourcen, etwa eine Oma oder Tante, konnten nicht ausfindig gemacht werden. Die Sozialarbeiter mussten die zwei Kinder, gegen den Willen der Eltern, bis zu einer Entscheidung in einer Bereitschaftspflegestelle unterbringen. Innerhalb weniger Tage wurde die familiäre Situation ausgelotet.

Ob Beratungsangebot, Familienhilfe oder Suchtberatung - die Auflagen sind streng, haben aber das Ziel, die Familie wieder auf Kurs zu bringen, damit die Kinder wieder zurück können. Doch nicht immer stecke hinter einer Anzeige auch eine Gefahr für das Kindeswohl, weiß Gabriele Brodrecht. Persönliche Befindlichkeiten, etwa dass eine Oma mit den Erziehungsmethoden ihrer Schwiegertochter nicht einverstanden ist, müssen ausdifferenziert werden. Insgesamt sei das zwar sehr aufwendig, aber lohnenswert, denn Inobhutnahmen sind in jedem Fall gravierende Eingriffe in das Leben der Familien. Für alle Beteiligten und besonders für die Kinder bedeuten sie eine traumatische Erfahrung, selbst wenn sie ihrem Schutz dienen.
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