Argentinien: Die Kinder der Verschwundenen
Argentinien
Die Kinder der Verschwundenen
Sendeanstalt und Sendedatum: NDR, Sonntag, 12. Oktober 2008
"Madres de Plaza de Mayo" demonstrieren mit Bildern ihrer verschwundenen Angehörigen (Foto: Picture-Allince).lupe Bildunterschrift: ]
11. Januar 1977: In einem Wohnhaus in La Plata bei Buenos Aires treffen sich sechs Männer und Frauen, um neue Flugblätter gegen die brutale Militärdiktatur zu drucken. Mit diesem PKW wollen die Regimegegner sie in dieser Nacht verteilen. Doch dazu soll es nicht mehr kommen.
13.30 Uhr: 200 Polizisten und Militärs umstellen das Haus und feuern auf alles, was sich drinnen bewegt. Maschinengewehre und Panzerfäuste, das Massaker hört man in der ganzen Stadt, es dauert zweieinhalb Stunden.
Alle sechs Widerständler sterben im Kugelhagel, darunter das junge Paar Diana und Daniel. Nur ihre zwei Monate alte Tochter Clara überlebt, wie durch ein Wunder. Die Mutter lag tot am Boden, mit ihrem Körper hatte sie ihren Säugling geschützt. Die Polizisten schleppten die Mutter weg und nahmen auch die kleine Clara mit.
Die Suche geht weiter
Bis heute ist Clara vom Erdboden verschwunden, genau wie die Leichname ihrer Eltern. Claras Großmutter Chicha glaubt, dass ihre Enkelin lebt, und dass Clara - wie ungefähr 500 andere Kinder von Verschwundenen, von Militärfamilien aufgezogen wurde, unter falschem Namen, und ohne zu wissen, wer sie ist. Seit 31 Jahren kämpft Chicha mittlerweile gegen diesen verbrecherischen: "All diese Jahre haben wir an die Türen der Militär-Gerichte geklopft, um wenigstens die Leichname zurück zu bekommen. Für jede winzige Spur haben wir ein Dokument angelegt. Ratten haben diese Akten gefressen, Wasserschäden haben sie zerstört, und manchmal wurden wichtige Papiere auch gestohlen. Das ist seit Jahrzehnten unsere tägliche Detektivarbeit. Wir weinen nur nachts, Tags über geht die Suche weiter..."
30.000 unschuldige Menschen ließen die argentinischen Militärs verschwinden, und ihre Mütter weinten; zuerst Daheim, dann in der Öffentlichkeit. Die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo" in Buenos Aires setzten todesmutig ihr Leben aufs Spiel, um von den Diktatoren wenigstens die Leichen ihrer Kinder zu bekommen, und von den Polizei- und Militärfamilien ihre 500 geraubten Enkel.
Rückschläge: die Regel - Genugtuung: die Ausnahme
Urteilsverkündung gegen Miguel Etchecolatz, den Verantwortlichen für das Massaker von La Plata. Vor zwei Jahren im Zeugenstand: die Gründerin der Großmütter der Plaza de Mayo: María Isabel Chorobik de Mariani "Chicha" Mariani.
Auch wenn das Urteil gegen den Schlächter auf lebenslänglich lautet es kann Chicha ihren Sohn Daniel und ihre Schwiegertochter Diana nicht zurück bringen. Auch ihre Enkelin Clara hat sie noch nicht gefunden, obwohl sie alles Menschenmögliche dafür tut. Aber immerhin: Schon einige Dutzend Mal hat ihr Spürsinn andere Familien wieder zusammengeführt. Wie bei Adriana und ihrem Neffen Gabriel.
Gabriel hieß bis zum 24. Oktober 2000 Hernan Duarte. Seine räuberischen Adoptiv-Eltern hatten ihm vorgelogen, dass seine leiblichen Eltern bei einem Verkehrsunfall gestorben waren. Irgendwann zweifelte Gabriel daran. Und als er dann wissen wollte, wer er wirklich war, ahnte Gabriel nicht, dass Chicha und seine Tante seit fast einem Vierteljahrhundert nach ihm suchten. Chicha freut gerade dieser Erfolg, denn Gabriels verstorbene Oma war ihre beste Freundin.
Chicha Mariani, sucht nach Clara und fand Gabriel: "Ich schaue ihn an und sehe meine Freundin, seine Großmutter. Er hat genau das gleiche Herz wie sie, denselben Ausdruck. Das berührt mich unglaublich tief. Nach all den Jahren kann ich sagen: So etwas passiert wirklich nicht sehr oft. Aber bei Gabriel ist es so: Er hat genau die gleichen Gene wie seine Oma."
Localizada - gefunden
Es gibt nur ein einziges Photo von Gabriel als Säugling. Als ein Geheimkommando seine Mutter Maria verschwinden ließ, war Gabriel drei Monate alt.
Neben ihren uralten Findbüchern nutzen die Großmütter mittlerweile genetische Datenbanken im Kampf um die wahre Identität ihrer Enkel: durch eine großmütterliche Locke, oder einen verwandtschaftlichen Blutstropfen, deren DNA dann mit jener der Enkel verglichen wird.
Übereinstimmung bedeutet Wahrheit. Doch wie sehr diese schmerzen kann, das hat auch Gabriel an einem bewölkten Dienstagnachmittag vor acht Jahren am eigenen Leibe erfahren.
Gabriel Cevasco, Sohn der ermordeten Maria Leiva: "Das war für mich das stärkste überhaupt vorstellbare Gefühl in meinem bisherigen Leben. Du wirst mit 24 Jahren plötzlich neu geboren. Jemand sagt dir: Dies ist dein richtiger Vater. Dies ist das Bild deiner richtigen Mutter. Und das ist ab jetzt dein wirklicher Name. Ich hatte plötzlich neben meinem leiblichen Vater auch meine Tante zurück, die mich ihr ganzes Leben gesucht hat."
Es klingt verrückt. Aber irgendwas in mir drin hat mir immer gesagt: Du wirst ihn finden! Vielleicht war diese Suche mein eigener Antrieb... Aber ich glaube eher, es war das Versprechen, das ich meiner toten Schwester Maria gegeben habe, ihren geraubten Sohn zu finden. Es ist eine ganze Generation, die man uns gestohlen hat, wir werden nicht damit aufhören, auch die anderen Enkel zu finden. Die Militärs glauben, dass sie diese Schlacht gegen uns gewonnen haben. Aber Gabriel hier beweist es: In Wirklichkeit haben sie verloren", so Adriana Leiva, Tante von Gabriel.
Desaparecida - verschwunden
Leiva, Maria Delia, 28 Jahre alt - verschwunden. Eine von 30.000, denen am Rio de la Plata ein Denkmal errichtet wurde. Ihre Verwandten verkrafteten es nicht, wenn man die Verschwundenen als Verstorbene bezeichnet, obwohl das leider meistens zutrifft. Viele von ihnen wurden nach ihrer Folter aus Militärflugzeugen in den Rio de la Plata geworfen.
Die Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner haben viel getan, um die Verantwortlichen für den Massenmord vor Gericht zu bringen und der Verschwundenen zu gedenken. Doch die eigentliche über 30 Jahre andauernde Kärrnerarbeit haben die Mütter und Großmütter geleistet.
Die Verwandten geben nicht auf
"Ich habe ein genaues Bild von meiner Enkelin Clara: sie ist sehr intelligent, genau wie ihre Eltern. Sie ist fleißig und sehr sensibel. Und - sie ist körperlich groß, alle in unserer Familie waren groß, alle von uns. Und - außerdem: Sie hat honigfarbene Augen", sagt Chicha Mariani.
"Wann werden sie ihre Suche beenden?", fragen wir die 84-Jährige: "Bis ich nicht mehr laufen kann. Nein, wenn ich nicht mehr laufen kann, dann nehme ich einen Rollstuhl und mache weiter. Ich werde nach Clara suchen, solange ich lebe."
'Die Zeit heilt alle Wunden', sagt man. Doch für einige Menschen gilt das nicht, weil ihre Schmerzen nie verschwinden.
Nachtrag
In der vergangenen Woche wurde in Argentinien Laura Ruiz Dameri als 90.
wiederaufgefundene Enkelin identifiziert.
Gabriel Cevasco alias Hernan Duarte war seinerzeit Nr. 70. Nachdem Gabriel herausgefunden hatte, dass er von seinen Adoptiveltern "geraubt" worden war, saß die "Mutter" kurze Zeit im Gefängnis, der "Vater" befindet sich auf der Flucht, vermutlich in den USA.
Autor: Thomas Aders/ ARD-Studio Rio de Janeiro
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