Kindesentführung: ins Ausland verboten - im Inland erlaubt?
Kindesentführung: ins Ausland verboten - im Inland erlaubt?
Quelle: FamRZ 1998 (23), 1488-1491
Kindesentführung: ins Ausland verboten - im Inland erlaubt?
Von WERNER GUTDEUTSCH, Richter am OLG München,
und Rechtsanwalt JÜRGEN RIECK, München
Die deutsche Rechtspraxis prüft nicht, ob ein Elternteil das Mitsorgerecht des anderen durch Mitnahme des gemeinsamen Kindes verletzt hat, und steigt in diesen Fällen sofort in die Kindeswohlprüfung ein, wobei eigenmächtig geschaffene Verhältnisse erst einmal anerkannt werden. Diese Praxis erschwert die Umsetzung des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte der Kindesentführung [HKiEntÜ]. Es wird vorgeschlagen, in analoger Anwendung von Regelungen des HKiEntÜ auch für innerstaatliche Fälle der Verletzung des Mitsorgerechts einen Rückführungsanspruch des anderen Elternteils unter dem Vorbehalt der Kindeswohlgefährdung anzuerkennen.
I. Das HKiEntÜ und die innerstaatliche Rechtsordnung
Haager Übereinkommen (.HKiEntÜ)...
Das deutsche Recht kennt die Kindesentführung nur als Straftatbestand. In Sorgerechtsverfahren kann sie nur als Indiz eines Eignungsmangels - übrigens kaum anders als das Zurücklassen der Kinder bei Trennung - Bedeutung haben und rangiert hier gleichrangig mit der Vereitelung des Umgangsrechts. Wenn ein Sorgeberechtigter unter Beeinträchtigung des Sorgerechts des Partners das Kind mitnimmt, fehlt es am Straftatbestand. Der Frau wird deshalb meist geraten, im Fall eines Auszugs aus der Ehewohnung die Kinder mitzunehmen. Dies auch schon deshalb, weil anderenfalls vermutet würde, sie stelle ihr eigenes Trennungsinteresse über das Wohl der Kinder (im Stich lassen).
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II. Innerstaatlicher Anspruch auf Rückführung des Kindes
1. Konflikt mit der Rechtspraxis im Inland
Durch eine Zuständigkeitskonzentration für Verfahren nach dem HKiEntÜ würde dem Faustrecht im zwischenstaatlichen Verkehr entgegengewirkt, während es im innerstaatlichen Bereich fortgelten würde. Der Rückführungsanspruch ist nämlich dem innerstaatlichen deutschen Recht, und zwar dem bis 1. 7. 1998 geltenden und auch dem neu in Kraft getretenen, nicht bekannt. Wenn ein Ehegatte aus der Ehewohnung auszieht und die gemeinsamen Kinder mitnimmt, kann der andere die Rückführung selten erreichen. Das Gegenteil ist vielmehr durch den Zuständigkeitswechsel nach § 606 1 S.2 ZPO der Fall, wenn der sich trennende Partner mit den Kindern in einen anderen Gerichtsbezirk verzieht, bevor das Verfahren der Scheidung rechtshändig wurde5).
Der Anspruch auf Herausgabe des Kindes nach § 1632 I BGB steht den Sorgeberechtigten nur gemeinschaftlich zu, solange keine gerichtliche Sorgerechtsregelung vorhanden ist. Das Umgangsrecht nach § 1684 BGB kann die Verletzung seines Sorgerechts nicht aufwiegen. Es bleibt nur der Antrag auf Übertragung des Sorgerechts und in diesem Zusammenhang der weitere Antrag auf vorläufige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts. Hier prüft der Richter jedoch bereits, wo das Kind besser aufgehoben ist. Das Gericht steigt somit in die Sachentscheidung ein, denn das Kindeswohl hat oberster Grundsatz bei allen Sorgerechts-, Umgangs- und Aufenthaltsentscheidungen zu sein. Verzögerungen der Entscheidung bewirken eine Verfestigung der neuen Verhältnisse 6) zum Nachteil der Chancen des anderen Elternteils im Sorgerechtsverfahren.
2. Lücke im innerstaatlichen Rechtsschutz
Die Mitnahme des Kindes beim Auszug bedarf nach § 1627 BGB grundsätzlich der Zustimmung des sorgeberechtigten anderen Elternteils. Können sich die Eltern nicht einigen, müssen sie nach § 1628 BGB die Entscheidung des Familiengerichts herbeiführen. Die eigenmächtige Mitnahme des Kindes stellt daher einen, freilich sanktionslosen, Rechtsbruch dar7). Sie verletzt das Sorgerecht des anderen Elternteils, aber auch das Recht des Kindes auf Zusammensein mit diesem Elternteil. Dass eine Verletzung des Sorgerechts vorliegt, ergibt sich aus dem als innerstaatliches Recht anwendbaren Art. 3 HKiEntÜ. Das BVerfG sieht auch das Elternrecht nach Art. 6 I GG berührt 8). Die Verletzung des Rechts des Kindes auf Zusammensein mit dem anderen Elternteil ergibt sich aus Art. 8, 9 des New Yorker UN-Übereinkommens v. 20.11.1989 über die Rechte des Kindes9). Dieses ist allerdings wegen der erklärten Vorbehalte kein innerstaatliches Recht. Geltendes Recht ist jedoch Art. 5 EMRK 10), aus dem sich ein solches Recht ebenfalls ergibt. Der geltenden Praxis fehlt die Möglichkeit, ohne Eingriff in das Sorgerecht die Rechtsverletzung rückgängig zu machen, so wie es im HKiEntÜ vorgesehen ist.
3. Besondere Relevanz der Lücke durch die Kindschaftsrechtsreform ab 1. 7. 1998
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4. Lückenfüllung
Da jedoch das Sorgerecht als solches durch den Herausgabeanspruch des § 1632 I BGB geschützt wird, liegt es nahe, aus dieser Vorschrift unter Aufgabe der bisherigen wohl herrschenden Rechtsprechung 11) im Wege der erweiternden Auslegung im Lichte des HKiEntÜ und der Kindschaftsrechtsreform als minderen Anspruch denjenigen auf Rückführung des Kindes (ohne Eingriff die elterliche Sorge) herzuleiten12).
In Hinblick darauf, dass durch die Eigenmächtigkeit des einen Elternteils das Kindeswohl und auch das Kindesrecht wie das Elternrecht des anderen verletzt wird, kann die mit der Rückführung verbundene Beeinträchtigung des Kindes den Anspruch (analog Art. 13 Ib HKiEntU) nur dann ausschließen, wenn sie eine Gefährdung des Kindwohls i. S. des § 1666 BGB darstellt. Zwar muss umgekehrt auch der Zwangslage Rechnung getragen werden, in der sich der betreuende Elternteil befindet, wenn er sich vom Partner trennen und zugleich die Kinder nicht unversorgt zurücklassen will13).
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5. Analoge Anwendung des HKiEntÜ
Die Kindesentführung i. S. des HKiEntÜ unterscheidet sich wohl von den Inlandsfällen durch eine durchschnittlich stärkere Verletzung des Sorgerechts des anderen Elternteils, weil sie zur Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Staates und wegen der großen Systemunterschiede zu gänzlich veränderten rechtlichen Bedingungen für den Sorgerechtsstreit führen kann. Im Einzelfall kann jedoch ein Tatbestand nach Art. 3, 12 HKiEntÜ einen geringeren Eingriff in das Sorgerecht darstellen als eine Mitnahme der Kinder im Inland. Ein Gatte, der aus der Ehewohnung in Freilassing auszieht und die Kinder nach Salzburg mitnimmt, beeinträchtigt das Elternrecht des Partners weniger, als wenn er mit den Kindern von Freilassing nach Flensburg zieht. Trotzdem muss im ersteren Fall das Kind nach dem HKiEntU zurückgegeben werden, im zweiten nicht. Es liegt daher nahe, im Wege der analogen Anwendung 14) das Abkommen auf die Inlandsfälle heranzuziehen, zumal auch sie oft mit einem ,,forum shopping" verbunden sind15). Die Einzelregelungen des Abkommens sind weitgehend auch für die Entscheidung von
Inlandsfällen geeignet.
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Anwendbar können auch die Regelungen des Art. 13 Ia HKiEntÜ sein, wonach der Antragsgegner das Vorliegen einer Zustimmung des Antragstellers zu beweisen hat, sowie des Art. 13 Ib HKiEntÜ, der den Herausgabeanspruch bei erheblicher Gefahrdung des Kindeswohls ausschließt. In lnlandsfällen hat hier entsprechend dem durchschnittlich geringeren durch die Entführung verursachten Schaden an die Stelle der qualifizierten Kindeswohlgefährdung (schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind) die einfache Kindeswohlgefährdung nach §§ 1671, 1672 BGB a. F zu treten 17).
Die Berücksichtigung eines entgegenstehenden Kindeswillens kann analog Art. 13 II HKiEntÜ erfolgen.
Wesentlich ist auch die Bestimmung des Art. 19 HKiEntU, wonach die Rückführungsanordnung keine Entscheidung über das Sorgerecht darstellt.
6. Verfahren
Das Verfahren hat sich nicht nach dem HKiEntÜ, sondern unmittelbar nach § 621 Nr. 3 ZPO zu richten, weil sich der Anspruch aus § 1632 I BGB herleitet18). Eine analoge Anwendung des Art. 13 III HKiFntÜ kommt nicht in Betracht, weil sonst die Gefahr besteht, dass über die Sozialerhebung die Sorgerechtsentscheidung vorweggenommen wird. Überdies erfordert in der Regel die interne Interessenlage derartige Auskünfte nicht.
III. Mißbrauchsgefahr
Der Kampf um das Sorgerecht wird oft zu dem Versuch missbraucht, den Partner zur Rückkehr zu bewegen; ebenso kann die Kindesentführung dazu dienen, den anderen Elternteil möglichst auszugrenzen. Der Rückführungsanspruch würde sich dazu in besonderem Maße anbieten. Dieser Missbrauch ist jedoch in gleicher Weise wie in anderen Sorgerechtsstreitigkeiten grundsätzlich erkennbar. In der Regel werden in solchen Fällen Wille und Fähigkeit zur Kindesbetreuung fehlen. Die Missbrauchsgefahr rechtfertigt es jedenfalls nicht, in jedem Fall den Rechtsschutz gegen die eigenmächtige Mitnahme der Kinder bei der Trennung zu versagen und dadurch das Unrecht der Kindesentführung sanktionslos zuzulassen, ja zu fördern19).
IV. Kindeswohlorientiertes Verfahren
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V. Zusammenfassung
1. Das Kindesentführungsabkommen ist über § 1532 I BGB analog auch auf entsprechende Sorgerechtsverletzungen im
Inland anzuwenden, insbesondere in dem Fall, dass ein Elternteil ohne Zustimmung des anderen bei der Trennung die Kinder mitnimmt, obgleich die Betreuung der Kinder auch in der Wohnung möglich ist, und wenn ein Mitsorgeberechtigter sein Kind nach Ablauf des vereinbarten Umgangsrechts nicht zurückgibt.
2. Abweichend von Art. 12 HKiEntÜ muss der Antrag unverzüglich nach Kenntnis der Sorgerechtsverletzung gestellt werden.
3. Die Versagung der Rückführung ist analog Art. 13 Ib HKiEntÜ bei Kindeswohlgefährdung möglich, wobei jedoch nicht die strengen Maßstäbe dieser Vorschrift, sondern diejenigen der §§ 1671, 1672 BGB a. F anzulegen sind.
4. Das Verfahren richtet sich nach §§ 621 ff ZPO.
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5) § 606 I i. V mit 261 III Nr.2 ZPO.
6) Stichwort: ,,Kontinuität." (BT-Drucks. 8/2788, S.61); BayOLG, NJW 1953, 626.
7) Die Ansicht des OLG Nürnberg,. FamRZ 1998, 314, 315, die Mitnahme des Kindes beim Auszug sei nicht rechtswidrig. sondern Ausfluss des Partnerkonflikts der Parteien, aus der Selbständigkeit des jeweiligen Elternrechts ergebe sich ein einseitiges Aufenthaltsbestimmungsrecht, geht sicher zu weit. Richtigerweise dürfte in dem vom OLG entschiedenen Fall ein Rechtfertigungsgrund vorgelegen haben oder er lag wegen des Aufenthalts im Frauenhaus zumindest nahe. Letztlich hing aber die Entscheidung des OLG auch nicht von der Rechtmäßigkeit der Mitnahme des Kindes ab, ja nicht einmal davon, ob das Kind überhaupt mitgenommen wurde, denn für das isolierte Sorgerechtsverfahren war das AmtsG nach §§ 36, 43 FGG bereits dann zuständig, wenn allein die Antragstellerin im Frauenhaus nach § 7 BGB Wohnsitz begründet hatte (s. u. Fn. 13) Nach § 11 BGB teilt das Kind den Wohnsitz auch des ausgezogenen Elternteils. Fraglich war hier also nur, ob ein Wohnsitz durch Einzug in ein Frauenhaus trotz dessen vorläufigen Charakters begründet werden kann. Das wird man entgegen der Meinung des AmtsG bejahen müssen, weil die Vorläufigkeit der Wohnung nicht den Willen ausschließt, in der gewählten Gemeinde zu bleiben.
8) FamRZ 1996, 1267
9) BGBl 1992 II 121.
10) Römische Europ. Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4. 11. 1950 (BGBI 1952 II 685, 953). Siehe dazu die Plenarentscheidung BVerfG 74, 358; ferner Brötel, in: KoeppeI, Kindschaftsrecht und Völkerrecht, 1996, S.49 ff.
11) Siehe hierzu etwa Palandt/Diederichsen, BGB, § 1632 Rz. 2.
12) Ähnlich Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 4. Aufl.. S. 874; Staudinger/Salgo, BGB, 12. Aufl., § 1632 Rz. 15.
13) Jedoch könnte diese Zwangslage dadurch entschärft werden, daß die Gerichte nicht aus jeden Zurücklassen der Kinder auf Desinteresse oder Eigensucht des weichenden Gatten schließen, zumal die Kinder ja bei dem anderen Elternteil zumeist nicht unversorgt sind (Schwächung des Kontinuitätsgrundsatzes).
14) Vgl. Gernhuber/Coester-Waltjen [Fn. 121 und Staudinger/Salgo [Fn. 12].
15) Die Zuständigkeit für das Scheidungsverfahren kann auf diese Weise durch den Ausziehenden einseitig begründet werden, weil § 606 1I S. 2 ZPO nach h. M. nur auf die tatsachlichen, nicht auf die rechtlichen, §§ 1627, 1628 BGB entsprechenden Verhältnisse abstellt (OLG Bremen, FamRZ 1992, 963). Auf die Zuständigkeit vor Anhängigkeit des Scheidungsverfahrens hat die Mitnahme des Kindes geringeren Einfluss [Fn. 7]. Hier gilt das ,,Windhundprinzip". Begründet der ausziehende Elternteil einen neuen Wohnsitz, woran ihn niemand hindern kann, so erlangt das Kind nach § 11 BGB einen weiteren Wohnsitz und damit einen weiteren Gerichtsstand für ein Sorgerechtsverfahrein nach §§ 43, 36 FGG. Auch derjenige, bei dem das Kind nicht lebt, kann daher an seinem Wohnsitz ein Sorgerechtsverfahren anhängig machen, wobei die frühere Anhängigkeit die Entscheidungszuständigkeit begründet. Allerdings muss er damit rechnen, dass der Richter nach §§ 46 III, 43 FGG die Sache an ein ebenfalls zuständiges Gericht abgibt, in dessen Bezirk das Kind seinen tatsächlichen Aufenthalt hat. Auch vor Rechtsanhängigkeit des Scheidungsverfahrens ist daher derjenige, der das Kind mitnimmt, im Vorteil.
16) Hier wird man bedenken müssen, ob nicht aus dem Gedanken des inländischen Rechtsschutzes, des Fehlens von Sprachbarrieren etc., eine kürzere Frist geboten wäre.
17) Hierfür spricht, dass die zu § 1666 BGB entwickelte Rechtssprechung stets eine konkrete und ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls voraussetzt. Zu bedenken ist die Heranziehung der Grundsätze der §§ 1671, 1672 BGB a. F da die Entführung begrifflich die Trennung der Ehegatten voraussetzt.
l8) Im Verhältnis zu Dritten schon heute h. M
19) Siehe oben die Fn. 5 und 7.