Jugendamt Lüneburg u. Jugendamt Stuttgart: Fall Jenny- Misshandlung mit Todesfolge
Jugendamt Lüneburg u. Jugendamt Stuttgart: Fall Jenny- Misshandlung mit Todesfolge
Musste Jenny sterben ? Ein Kleinkind in Stuttgart wurde misshandelt, bis es starb. Auch die Fahrlässigkeit eines Sozialarbeiters, so das Landgericht Stuttgart, trug dazu bei. Von Gisela Friedrichsen (DER SPIEGEL 39/1999)
Als Säugling erkrankte sie an Hirnhautentzündung. Seitdem ist sie geistig zurückgeblieben. Auf jede Kleinigkeit des Alltags, etwa dass sie baden soll oder die Haare waschen, muss sie hingewiesen werden. Was jeder Erwachsene von sich aus tut, bei Rita, heute 27, bedarf es mühsamer Einübung. Dabei ist sie lernwillig. Doch immer wieder lässt der Eifer nach, und sie vergisst das Geübte. Die Behinderung sieht man ihr nicht an. Sie kann lesen, schreiben und an einem normalen Gespräch teilnehmen. Aber wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden, Zusammenhänge erfassen, Argumente abwägen, eine neue Situation bewältigen, Schlussfolgerungen ziehen, eine Entscheidung treffen � das kann sie nicht. Rita ist das jüngste von drei Geschwistern, aufgewachsen in der ehemaligen DDR. Sie besuchte dort die Sonderschule und arbeitete als Küchenhilfe. Ende 1992 wird sie schwanger. Von wem? Zwei Männer, die sie später als mögliche Väter nennt, kommen dafür nicht in Frage. Am 20.September 1993 wird das Mädchen Jennifer in Lüneburg geboren, wo Rita inzwischen lebt. Die junge Mutter ist auf die Geburt nicht vorbereitet, obwohl sich schon während der Schwangerschaft das Diakonische Werk um sie kümmerte. Sie weiß nicht, wie man ein Neugeborenes füttert, wie man es anfasst und was man tut, wen es schreit. Gefahren erkennt sie nicht. Die Klinik alarmiert: Intensivbetreuung sei unumgänglich. Das Jugendamt beschafft eine Kinderpflegerin, die jeden Handgriff Ritas überwacht. Zweimal steht die Helferin nicht zur Verfügung, mit der Folge, dass Jenny zweimal Blutergüsse am ganzen Körper erleidet und auch Bisswunden. Der Säugling kommt sofort in eine Pflegefamilie. Dann findet das Jugendamt einen Platz für Mutter und Kind im Stuttgarter Weraheim, einer kirchlichen Einrichtung, wo rund um die Uhr Versorgung, Überwachung und Anleitung gewährleistet sind. Eine längere Trennung von Mutter und Kind möchte man vermeiden. Zwei Jahre verbringt Rita mit Jenny im Heim. Ihre Defizite fallen zwar auch dort auf, doch im Vergleich zu den Mitbewohnerinnen gilt Rita als zuverlässig und konstant. Nach Weihnachten 1995 zieht sie aus dem Heim aus und nimmt das Kind mit. Die Rechtslage erlaubt ihr das: Sie hat das Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht. Rita will mit einem neuen Freund zusammenleben. Wer passt nun auf Jenny auf, wenn sie ausgehen will? Wer sagt ihr, wie sie Jenny versorgen soll? Sie stellt das Kind, so muss man das nennen, bei einem ihr bekannten Babysitter-Paar ab. Selbst als Misshandlungsspuren unübersehbar sind, wenn die Mutter das Kind abholt, wird Jenny diesen Leuten immer wieder überlassen. Es kommt zu entsetzlichen Szenen: Rita, völlig hilflos ohne Hilfe, wirft ihr Kind gegen die Wand und auf den Boden; sie tritt es. Auch ihr neuer Freund schlägt zu. Und das Baby-Sitter Paar - das will �erziehen", mit Gewalt, mit Schütteln. Am 15.März 1996 stirbt Jenny, zweieinhalb Jahre alt, zu Tode geschüttelt, weil es nicht einschlief. Der Mann, der Jenny getötet hat, wird 1997 zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren, seine Gefährtin zu drei Jahren verurteilt. Jennys Mutter erhält zwei Jahre und zwei Monate wegen Misshandlung, ihr neuer Freund wegen Körperverletzung sieben Monate auf Bewährung. Der Staatsanwaltschaft Stuttgart genügt das nicht. Sie ist der Auffassung, Jennys Tod hätte verhindert werden können. Sie klagt einen Sozialarbeiter des Jugendamts Lüneburg wegen fahrlässiger Tötung und einen Sozialpädagogen aus Stuttgart wegen fahrlässiger Körperverletzung an. Der Lüneburger, so die Staatsanwaltschaft, hätte anlässlich Ritas Umzug seine Kollegen in Stuttgart detailliert über die Gefährdung des Kindes informieren und in die Wege leiten müssen, dass Rita wenigstens das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Jenny entzogen wird. Der Stuttgarter Betreuer wiederum hätte nach Ritas Auszug aus dem Weraheim den Fall nicht als �Normalfall" dem Jugendamt übergeben dürfen. �Er hätte nämlich in Rechnung stellen müssen, das die eingetretene Beruhigung in der Misshandlungsproblematik der Mutter dem festen Rahmen des Weraheims und nicht der Läuterung der Mutter, zu der diese bei ihren Geisteskräften nicht dauerhaft im Stande war, zuzuschreiben war und deshalb alsbald nach dem Auszug der Mutter erneut massive Misshandlungen des Kindes drohten", so die Argumentation der Staatsanwaltschaft. Ihr geht es um eine Präzedenzentscheidung für alle Jugendämter und Sozialarbeiter. Doch sie erleidet bei der zuständigen Strafkammer eine Niederlage. Diese lehnt die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, unter anderem, weil es zweifelhaft erscheint, ob der Lüneburger verpflichtet war, Rita das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Jenny entziehen zu lassen: �Eine solche Trennungsmaßnahme ist der schwerste staatliche Eingriff in das Elternrecht, der grundsätzlich nur dann zur Anwendung kommen kann, wenn andere weniger einschneidende Hilfs- oder Schutzmaßnahmen versagen oder von vornherein ausscheiden." Und das war ja nicht der Fall. Die Staatsanwaltschaft hat ihrer sofortigen Beschwerde beim OLG Stuttgart Erfolg. In der Entscheidung heißt es: �Der Senat verkennt nicht, dass durch die Zuschreibung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit ... Mitarbeiter von Jugendämter, Sozialdiensten und Trägern der freien Jugendhilfe in erhöhtem Maße der Gefahr der Bestrafung ausgesetzt werden. Dies stellt jedoch keine Schlechterstellung gegenüber anderen, mit vergleichbaren Pflichten belasteten Berufsgruppen - beispielsweise Ärzten oder Polizeibeamten - dar, sondern nur eine Gleichstellung mit diesen. Auch der Sozialdienst steht nicht außerhalb des Strafrechts." Nach der Entscheidung des OLG musste die 1.Große Strafkammer des Landgericht Stuttgart mit dem Vorsitzenden Klaus Teichmann, 62, nun also doch gegen die beiden Sozialarbeiter verhandeln. Ergebnis: eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen á 70 Mark für den Lüneburger Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung; Freispruch für den Stuttgarter. Der Lüneburger, so das Gericht, hätte die Stuttgarter Kollegen über die Brisanz der Situation, die Behinderung Ritas und die Gefahr für Jenny, informieren müssen. Für den Stuttgarter Angeklagten sei bei seinem Kenntnisstand die Katastrophe nicht vorhersehbar gewesen. Wirklich nicht? Das Urteil macht das Dilemma der Sozialarbeiter sichtbar, in das sie im Umgang mit Mütter geraten, die eine Risikobeziehung zu ihrem Kind haben. In Lüneburg hatte der Amtsarzt vor Ritas Umzug nach Stuttgart eine Stellungsnahme abzugeben. Es ging wie immer vor allem um die Kosten. Er stellte zwar eine Grenzdebilität fest, einen Intelligenzquotienten von 55, aber auch �vergleichsweise günstige Förderaussichten". Die Prognose sei dann günstig, sagte er, wenn die Förderung in einer Mutter-Kind-Einrichtung stattfinde. Die hatte man im Weraheim ja nun gefunden. Rita ließ sich helfen, die Prognose war gut. Der Sozialarbeiter in Lüneburg legte die Akte beiseite. Hätte der Stuttgarter Angeklagte mit Ritas Hilflosigkeit außerhalb des Heims nicht ebenso rechnen müssen, wie der Lüneburger auf die ärztliche Prognose vertrauen durfte? Beide Angeklagte sagen vor Gericht, ein Versuch, Rita unter diesen Umständen das Aufenthaltsbestimmungsrecht entziehen zu lassen, wäre in Lüneburg wie in Stuttgart von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Dem stimmt der Vorsitzende in der Urteilsbegründung zu: �So massiv ins Elternrecht einzugreifen - diese Pflicht bestand für Sie beide nicht." Gegen die Trennung von Mutter und Kind, die einschneidendste Maßnahme, dagegen sind alle, auch die Vormundschaftsrichter. Das Ziel ist ehrenwert, es hat einen guten Sinn. Aber guter Sinn um jeden Preis kann teuer werden, er kann das Leben eines Kindes kosten - dann nämlich, wenn man auf eine Lösung setzt, die sich als unerreichbar herausstellt. Dass Ritas Behinderung �nicht ursächlich behandelbar" ist, darauf kommt unmissverständlich ein Gutachter erst nach Jennys Tod. Es gibt natürlich Beispiele dafür, dass Geduld selbst in heillos scheinenden Fällen lohnt. Einer der Angeklagten schilderte seine Erfahrungen mit einer jungen Mutter, die vom Rauschgift nur loskam, weil man ihr das Kind nicht wegnahm. Doch das Wagnis hätte auch enden können wie bei Jenny. Die Jugendämter wollen nicht durch ein Übermaß an Kontrolle und Misstrauen eine möglicherweise positive Entwicklung stören. Sie wollen auch über eine Frau, deren geistige Behinderung das Verhältnis zu ihrem Kind beschwert, nicht einfach verfügen. Man hilft, man respektiert, man denkt positiv, wie es das neue Betreuungsgesetz 1992 auf den Weg gebracht hat. War Jennys Tod nicht zu verhindern, weil sich die mit dem Fall befassten Personen in einem Konflikt befanden, der das Risiko einer Katastrophe nun einmal nicht ausschloss? Das Stuttgarter Gericht nannte die Betreuung behinderter Frauen und ihrer Kinder ein �Vabanquespiel". Gegen den Mut zu einem Zuwarten, zu einem Wagnis steht allerdings die jähe, blindwütige Gewalt, zu der Jugendämter sehr wohl in der Lage sind, wenn es nicht um Misshandlung, sondern um den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs geht. Gewiss gibt es auch da Fälle, in denen eine sofortige Unterbringung des Kindes angezeigt ist. Doch das Schicksal der Wormser Kinder und vieler anderer, die ihren nichts ahnenden Eltern buchstäblich aus dem Arm gerissen - und selbst nach einem Freispruch nicht zurückgegeben - wurden, ist nicht vergessen. Jennys Tod geht auch die Vormundschaftsrichter an. Wenn es als aussichtslos gilt, sie anzurufen wie in Lüneburg, wie in Stuttgart, unterbleiben Maßnahmen, die das Leben Jennys wohl gerettet hätten.
Re: Jugendamt Lüneburg u. Jugendamt Stuttgart: Fall Jenns- Misshandlung mit Todesfolge
Zentralblatt für Jugendrecht (ZfJ) 85. Jahrgang Nr. 9/98, S. 328ff
Stichwörter: Kindesmisshandlung, fahrlässige Tötung durch Unterlassen, Garantenpflicht, Programmsatz, Notentscheidung, Eilentscheidung (§ 43 KJHG) versäumter Antrag auf Entzug des Aufenth.BestR; §§ 222, 230 a. F., 13 StGB, § 1 KJHG, § 1666 BGB ZfJ 85. Jahrgang Nr. 9/98, S. 328ff
Rechtsprechung: Die Mitarbeiter von kommunalen Jugendämtern und Sozialdiensten sowie die von ihnen beauftragten Mitarbeiter von Trägern der freien Jugendhilfe haben als Beschützergaranten kraft Pflichtübernahme strafrechtlich dafür einzustehen, dass von ihnen mitbetreute Kinder nicht durch vorhersehbare vorsätzliche Misshandlungen durch die Mutter oder durch einen von ihr beauftragten ungeeigneten Dritten körperlich verletzt werden oder zu Tode kommen.
Beschluss des OLG Stuttgart v. 28.5.1998 - 1 Ws 78/98 (mitg. v. RiOLG Dr. Karl-Heinz Schmidt, Stuttgart)
I.1. J. S. (das spätere Tatopfer) wurde am 30.9.1993 im Städt. Krankenhaus in L. als Tochter der damals 21jährigen R. S. und eines unbekannten Vaters geboren. Da bereits im Krankenhaus festgestellt wurde, dass die Mutter wegen einer an der Grenze zur Debilität anzusiedelnden intellektuellen Minderbegabung mit der Betreuung des Kindes überfordert war, wurde der Angeschuldigte B. als zuständiger Sozialarbeiter des Jugendamts der Stadt L. von der Leiterin des Schwangerenwohnheims, der Zeugin K., entsprechend informiert. R. S., die mit ihrem Kind weiterhin in diesem Heim verblieb, wurde aufgrund einer Jugendhilfekonferenz, an der auch der Angeschuldigte B. teilnahm, zu ihrer Anleitung und Unterstützung eine Kinderpflegerin zur Seite gestellt. Anlässlich des Besuches von R. S. bei ihrer Mutter kam es am 24.12.1993 dennoch zu Misshandlungen des Kindes J. durch R. S., die das etwa drei Monate alte Kind mehrfach so heftig mit der Hand ins Gesicht schlug, dass ein zehntägiger stationärer Krankenhausaufenthalt erforderlich wurde. Bei einer weiteren Jugendhilfekonferenz am 3.2.1994 wurde unter Teilnahme des Angeschuldigten B. beschlossen, R. S. und ihr Kind dauerhaft stationär unterzubringen. Eine vom Jugendamt L. im Februar 1994 veranlasste psychiatrische Untersuchung von R. S. durch das Gesundheitsamt L. ergab über deren intellektuelle Minderbegabung hinaus einen Mangel an Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse des Kindes. Im Februar 1994 wurden bei J. S. mehrfach von der Mutter stammende Bisswunden am Gesäß und Oberschenkel festgestellt, weswegen das Kind vom Jugendamt L. in der Zeit vom 28.2.1994 bis zum 13.3.1994 in einer Pflegefamilie untergebracht wurde.
I.2. Aufgrund einer Absprache zwischen dem Jugendamt L. und Jugendamt S. wurde R. S. mit ihrem Kind auf ihren Wunsch hin am 13.3.1994 in einer vollstationären Gruppe des - vom diakonischen Werk als Träger der freien Jugendhilfe betriebenen - W.heims in S. untergebracht. Die Heimleiterin des L.er Heims unterrichtete telefonisch die Leiterin des W.heims über die festgestellten Misshandlungen des Kindes; ein Aktenvermerk wurde hierüber nicht gefertigt. Der Angeschuldigte B. informierte weder das Jugendamt der Stadt S. noch einen Mitarbeiter des W.heims über die bisherigen Misshandlungen des Kindes durch die Mutter und über deren intellektuelle und emotionale Defizite. Im W.heim in S. wurden R. S. und J. S. im Rahmen der Heimunterbringung zunächst von der Sozialarbeiterin S.-S. betreut. Im Sommer 1994 biss R. S. ihre Tochter so fest in die Wange, dass dort mehrere Tage lang Abdrücke ihrer Zähne erkennbar waren. Im Lauf des Jahres 1994 ging R. S. eine Partnerschaft mit A. M. ein; mit Erlaubnis ihrer Betreuerin verbrachte sie jedes zweite Wochenende bei diesem. A. M. schlug das Kind einmal so heftig, dass es ein Brillenhämatom erlitt; R. S. trennte sich deswegen vorübergehend von ihm. Im März 1995 übernahm der Angeschuldigte R., der als Sozialarbeiter und Psychologe im W.heim tätig war, die Betreuung von R. und J. S. Er wurde von seiner Vorgängerin S.-S. darüber informiert, dass die Mutter das Kind einmal gebissen habe. Ihm wurde durch den Schriftwechsel mit dem Versorgungsamt H. wegen der Kosten tut den Krankenhausaufenthalt von S. auch bekannt, dass es bereits in L. zu Misshandlungen des Kindes durch die - nunmehr in Regress genommene - Mutter gekommen war. Zu Weihnachten 1995 erteilte Angeschuldigte R. der R. S. die Erlaubnis, mit dem Kind einen Urlaub bei ihrem Freund A. M. in dessen Wohnung in S. zu verbringen. R. S. kehrte nicht von diesem Urlaub zurück, sondern teilte mit, dass sie mit dem Kind endgültig aus dem W.heim ausziehen wolle. Das Angebot, mit dem Kind bis zum 31.1.1996 ins W.heim zurückzukehren, nutzte sie nicht. Bei einem Übergabegespräch zwischen dem Angeschuldigten R. und der zuständigen Sozialarbeiterin des Jugendamts der Stadt S., G. M., am 8.2.1996, bei dem auch R. S. und ihre Tochter anwesend waren, berichtete R., dass die Mutter das Kind schon früher gebissen habe. Er regte an, für das Kind einen Tagheimplatz zu beschaffen; das Einverständnis der Mutter hierzu lag vor. Aufgrund der Schilderung des Angeschuldigten und des äußeren Erscheinungsbildes machten Mutter und Kind auf die Zeugin G. M. einen unauffälligen Eindruck. Diese erkannte daher die Dringlichkeit der Beschaffung eines Tagheimplatzes für J. S. nicht; andernfalls hätte sie einen solchen sofort beschafft. Aufgrund ihrer Persönlichkeitsdefizite, aber auch wegen ihres Wunsches, sich ihrem Freund A. M. zu widmen, überließ R. S. ihre Tochter am 29./30.12.1995, von Mitte Januar bis Anfang Februar 1996, an zwei weiteren Tagen im Februar 1996, vom 1. bis 4.3.1996 und ab dem 8.3.1996 ihrer Freundin C. K. und deren Freund R. P. In der Zeit vom 4. bis zum 8.3.1998 warf R. S. ihre Tochter in vier Fällen jeweils am Vormittag wuchtig gegen die Zimmerwand, so dass das Kind jeweils minutenlang bewusstlos am Boden liegen blieb. Am 13.3.1996 gegen 21.45 Uhr schüttelte R. P., dem C. K. das ihr anvertraute Kind überlassen hatte, dieses drei- bis viermal so wuchtig hin und her, dass infolge der auf das Gehirn wirkenden Beschleunigungskräfte ein Hirnödem entstand, an dessen Folgen J. S. am 15.3.1996 im K.hospital in S. verstarb. Durch Urteil des LG Stuttgart vom 28.2.1997 wurden R.P. wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen zu acht Jahren Freiheitsstrafe, C.K. wegen Beihilfe hierzu zu drei Jahren Jugendstrafe, R.S. wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen zu zwei Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe und A.M. wegen Körperverletzung in drei Fällen zu sieben Monaten Gesamtfreiheitsstrafe (mit Strafaussetzung zur Bewährung) verurteilt.
I.3. In der am 27.8.1997 zum LG Stuttgart erhobenen Anklage der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 31.7.1997 wird gegen den Angeschuldigten B. der Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen erhoben. B. sei verpflichtet gewesen, dem durch den Umzug für den Schutz von J. S. zuständig gewordenen Jugendamt der Stadt S. detailliert über die Gefährdung des Kindes durch seine Mutter Mitteilung zu machen. Darüber hinaus hätte der angeschuldigte B. die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts Mutter für ihr Kind durch das zuständige Vormundschaftsgericht in die Wege leiten müssen, um der sich aufdrängenden Gefahr zu begegnen, dass die Mutter mit dem Kind aus dem Heim auszieht, dieses infolge ihrer mangelnden intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten einem völlig ungeeigneten Dritten überlässt und es dort zu Tode kommt. Dem Angeschuldigten R. wirft die Anklage fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen vor, weil er in Kenntnis früherer Misshandlungen des Kindes durch die Mutter beide am 8.2.1996 der Zeugin G.M. als Normalfall der Betreuung darstellte, anstatt auf die sofortige Aufnahme von J. S. in einem Tagheim zu drängen, welche die Zeugin M. in Form einer Notaufnahme bewirkt hätte. In diesem Falle wären die am Vormittag geschehenen, für den Angeschuldigten R. vorhersehbaren Misshandlungen des Kindes durch die Mutter in der Zeit vom 4. bis zum 8.3.1996 nicht möglich gewesen. Die Unfähigkeit der Mutter, ihre Tochter vor von außen drohenden Gefahren zu schützen, sei für R. mangels Information aus L. allerdings nicht hinreichend erkennbar gewesen, so dass ihm der Tod des Kindes nicht angelastet werden könne.
I.4. Die große Strafkammer des LG Stuttgart hat mit dem angefochtenen Beschluss die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen (B.) bzw. aus tatsächlichen Gründen (R.) abgelehnt. Sie hatte bei beiden Angeschuldigten zumindest nicht ausräumbare Zweifel, ob ein ihnen möglicherweise anzulastendes pflichtwidriges Verhalten den jeweils vorgeworfenen tatbestandlichen Erfolg des Todes (B.) bzw. der Körperverletzung (R.) des Kindes in vorhersehbarer Weise zur Folge hatte.
II. Die zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft (§§ 204, 210 II StPO) gegen die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens hat Erfolg, weil die Angeschuldigten nach dem Ermittlungsergebnis der ihnen vorgeworfenen Straftaten hinreichend verdächtig (§ 203 StPO) sind.
II.1. Der Angeschuldigte B. hat sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eines Vergehens der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) schuldig gemacht. a) Der Angeschuldigte als für R. S. und ihre Tochter zuständiger Sozialarbeiter des Jugendamtes der Stadt L. hatte in der Zeit von Oktober 1993 bis zum 13.3.1994 eine Garantenpflicht für Leib und Leben des Kindes. Diese Pflicht beruht allerdings nicht, wie das OLG Oldenburg (ZfJ 1997, 56, NStZ 1997, 238 = StV 1997, 133) in solchen Fällen annimmt, unmittelbar auf dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG = SGB VIII). Durch die hier gewählte Form der Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung gemäss § 19 KJHG soll Müttern, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben, Betreuung und Unterkunft gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform angeboten werden, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form zur Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. Das allein begründet jedoch noch keine Garantenpflicht von Mitarbeitern des Jugendamts oder des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) einer Gemeinde, da es sich bei § 19 KJHG um eine bloße Sollvorschrift im Rahmen eines sozialen Leistungsgesetzes handelt. Auch § 1 III Nr. 3 KJHG, wonach die Jugendhilfe zur Verwirklichung des Rechts der Kinder auf Erziehung diese vor Gefahren für ihr Wohl schützen soll, enthält eher einen Programmsatz als eine gesetzliche Garantenpflicht von staatlichen oder kommunalen Sozialdiensten oder von diesen beauftragten Trägern der freien Jugendhilfe. Nach der sog. Funktionenlehre (vgl. Stree in Schönke-S., StGB, 25. Auflage, § 13 Rdnr. 8f. mit weiteren Nachweisen) wird nach dem sozialen Sinngehalt heute nur noch zwischen Garantenstellungen aus der Pflicht zur Beherrschung einer Gefahrenquelle und aus der Pflicht zum Schutz eines Rechtsguts unterschieden. Für die soziale Arbeit im Aufgabenbereich des Jugendamts ist kennzeichnend, dass der für eine - auch unvollständige - Problemfamilie zuständige Sozialarbeiter im Rahmen eines längerfristigen Arbeits- und Betreuungszusammenhangs tatsächlich den Schutz der (mit)betreuten Kinder übernimmt. Ihm erwächst daher aus der eigenen, von ihm übernommenen Aufgabenerfüllung eine Garantenpflicht aus tatsächlicher Schutzübernahme. Diese Rolle als Beschützergarant im Hinblick auf wichtige Rechtsgüter des Kindes wie Leib oder Leben, Freiheit und sexuelle Integrität ist das strafrechtliche Gegenstück des Gesetzesauftrags des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, das Recht eines jeden jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung (§ 1 Abs. 1 KJHG) zu verwirklichen und ihn vor Gefahren für sein Wohl zu schützen (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 KJHG). Dabei ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, § 1 Abs. 2 Satz 2 KJHG, dass trotz des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) die öffentliche Jugendhilfe oder der von ihr beauftragte Träger der freien Jugendhilfe aufgrund des Wächteramts des Staates verpflichtet ist, das körperliche, geistige und seelische Wohl von (mit-)betreuten Kindern auch vor rechtsgutsverletzendem Verhalten der Eltern oder eines Elternteils zu schützen. Aus der tatsächlichen Übernahme dieser Verpflichtung erwächst die Beschützergarantenpflicht des Betreuers im Sinne von § 13 StGB (vgl. Bringewat, StV 1997, 135; NJW 1998, 944, 945). Dieser Beschützerpflicht ist der Angeschuldigte B. auch insoweit nachgekommen, als er (erfolglos) versucht hat, R. S. zur Freigabe des Kindes zur Adoption oder zur Zustimmung zur Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie zu veranlassen, nachdem er durch einen Hinweis des Städt. Krankenhauses in L. schon bald nach der Geburt des Kindes (30.9.1993) erfahren hatte, dass die Mutter mit der Betreuung und Erziehung des Kindes überfordert war, weswegen ihr eine Kinderpflegerin zur Seite gestellt wurde. Weitere, schwerwiegende Alarmzeichen waren die Misshandlung des Kindes durch Schläge der Mutter zu Weihnachten 1993 und die Zufügung von Bissverletzungen im Februar 1994. Unter diesen Umständen war die im Benehmen mit dem Angeschuldigten B. vom Sozialamt der Stadt L. veranlasste Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme des Gesundheitsamtes L. (Sozialpsychiatrischer Dienst) im Februar 1994 dringend geboten. Diese Stellungnahme attestiert R. S. Grenzdebilität, Milieuschädigung und sekundäre Neurotizismen; bei ihr trete emotionale Unreife deutlich in Erscheinung, sie besitze nur rudimentär Problem- und Konfliktlösungsstrategien, was sich insbesondere auf ihre neue Lebenssituation als Mutter auswirke; sie sei bereits durch die Anforderungen einer eigenständigen Lebensführung überfordert, insbesondere aber von den Anforderungen an eine Mutter bei der sachgemäßen Pflege und Erziehung eines Kindes. Diese Überforderung infolge schwerer intellektueller und emotionaler Defizite zeigte sich, was dem Angeschuldigten B. ebenfalls bekannt wurde, auch darin, dass R. S. gelegentlich ihr Kind achtlos ablegte, um sich Männern zuzuwenden, oder dass sie mit dem ungeschützten Kind im Eisregen spazieren ging. Der Angeschuldigte B. hat offensichtlich auch erkannt, dass zur Verhinderung weiterer Misshandlungen des Kindes und weiterer Gefährdungen des Kindeswohls durch die zur Kindererziehung völlig ungeeignete Mutter jedenfalls im Februar 1994 einschneidende Maßnahmen notwendig waren; er hat auf Vorschlag der Kinderpflegerin E. das Kind J. vom 28.2.1994 bis zum 13.3.1994 in eine auswärtige Pflegefamilie gegeben. Diese nach § 43 KJHG bei Gefahr im Verzug zum Schutz des Kindes ohne Zustimmung der personensorgeberechtigten Mutter zulässige Not- und Eilentscheidung ist nur unter den Voraussetzungen des § 1666 BGB, also bei schwerer Gefährdung des Kindeswohls, zulässig; bei mangelnder Zustimmung des Personensorgeberechtigten hat das Jugendamt unverzüglich die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts herbeizuführen. Letzteres hat der Angeschuldigte B. pflichtwidrig unterlassen. Er hat weder die von der Heimleiterin K. angeregte Entziehung des Personensorgerechts noch die in Anbetracht des nach § 1666a BGB geltenden strengen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes naheliegende Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts ernsthaft in Erwägung gezogen. Statt dessen hat er der - bei vorläufiger Würdigung glaubhaften - Zeugin K. erklärt, ohne Einwilligung der Mutter sei an eine Sorgerechtsentziehung nicht zu denken. Diese irrige Rechtsauffassung, die dem Wortlaut und Sinn des § 1666 BGB eklatant widerspricht, hätte er als entsprechend vorgebildeter Sozialarbeiter, bei einem Jugendamt leicht durch einen Blick ins Gesetz, in einen Kommentar des BGB oder durch Erkundigung an rechtskundiger Stelle (Rechtsamt der Stadt L.) vermeiden können. Statt die notwendige Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts beim Vormundschaftsgericht des Amtsgerichts L. in die Wege zu leiten, hat er untätig zugewartet, bis R.S. und ihr Kind am 13.3.1994 ins W.heim nach S. verlegt wurden. Dieses Unterlassen war nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv pflichtwidrig.
b) Das Unterlassen des Angeschuldigten hat - bei vorläufiger Würdigung im Rahmen des Eröffnungsverfahrens auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ursächlich zum Tod des Kindes beigetragen. Hätte der Angeschuldigte spätestens Ende Februar 1994 pflichtgemäß beim Vormundschaftsgericht den Antrag gestellt, R. S. das Aufenthaltsbestimmungsrecht gemäß § 1666 BGB wegen Gefährdung des Kindeswohls durch sie zu entziehen, so wäre diesem Antrag - selbst wenn er zunächst nicht als Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt worden wäre - jedenfalls innerhalb weniger Monate stattgegeben worden, so dass der erst etwa zwei Jahre später durch das fortbestehende Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter mitverursachte Tod des Kindes vermieden worden wäre. Der Senat ist sich dabei bewusst, dass das Verfahren nach § 1666 BGB durch Anhörungspflichten des Vormundschaftsgerichts, durch die häufig bestehende Notwendigkeit, ein Sachverständigengutachten einzuholen, und durch die Möglichkeit der Beschwerdeeinlegung mit gewissen Verzögerungselementen belastet ist (vgl. hierzu Pal/Diederichsen, BGB, 57. Auflage, § 1666 Anm. 7). Dennoch wäre im vorliegenden Fall, der krasse Kindesmisshandlungen einer zur Erziehung unfähigen Mutter zum Gegenstand hatte, eine rechtskräftige Entscheidung in wenigen Monaten zu erreichen gewesen. Der Senat ist - im Gegensatz zur Strafkammer - auch der Auffassung, dass wegen der offenkundig vorliegenden schweren Gefährdung des Kindeswohls durch Straftaten und wegen der fehlenden Fähigkeit der Mutter, sich dem Kind emotional zuzuwenden, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts beschlossen worden wäre. Der in § 1666 a BGB normierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hätte einer solchen Entscheidung nicht entgegengestanden, da der Gefahr für Leib und Leben des Kindes nicht auf andere Weise hätte begegnet werden können. Das Argument der Verteidigung, der Ausgang vormundschaftsgerichtlicher Verfahren sei generell unsicher, trifft für einen so eindeutigen Fall wie den vorliegenden nicht zu.
c) Der für das Kind tödliche Erfolg dieses pflichtwidrigen Unterlassens war für den Angeschuldigten B. nicht nur vermeidbar, sondern auch vorhersehbar. Der Beschuldigte war ausgebildeter Sozialarbeiter und bereits jahrelang im sozialpädagogischen Bereich tätig gewesen. Angesichts der Misshandlungen des Kindes durch die Mutter, insbesondere aber aufgrund ihres ihm bekannten Verhaltensmusters, ohne jedes Gefühl für die Bedürfnisse des Kindes (unbedachtes Ablegen, Spazieren gehen im Eisregen) ihren eigenen Interessen nachzugehen, lag es nicht außerhalb des Bereichs des nach allgemeiner Lebens- und Berufserfahrung des Angeschuldigten Vorhersehbaren, dass R. S. ihr Kind auch dritten, zur Betreuung und Erziehung völlig ungeeigneten Personen überlassen werde und dass dieses dabei körperlich geschädigt oder durch Misshandlungen zu Tode kommen würde. Für das Vorhandensein der geschilderten Verhaltensmuster bei R. S. spricht auch das im Strafverfahren gegen sie erstattete Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. W., der, neben einer hirnorganisch bedingten Grenzdebilität, auch fehlende Empathie festgestellt hat. Der Angeschuldigte B. muss sich daher den durch die vom Verurteilten P., dem das Kind überlassen worden war, begangene Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB a. F.) verursachten Tod des Kindes strafrechtlich zurechnen lassen. Die zwischen dem pflichtwidrigen Unterlassen und dem Eintritt des tödlichen Erfolgs verstrichene Zeit von etwa zwei Jahren vermag daran nichts zu ändern, weil sich gerade die spezifische, von den Persönlichkeitsdefiziten der Mutter für das Kind ausgehende Gefahr verwirklicht hat. Auf die weitere Frage, ob der Angeschuldigte bei Übernahme von R. und J. S. durch das W.heim in S. die Akten des Jugendamts L. dem Jugendamt der Stadt S. hätte übersenden oder diesem wenigstens einen detaillierten Bericht über das von der Mutter für das Kind ausgehende Gefahrenpotential hätte zukommen lassen müssen, kommt es hier nicht mehr an (vgl. hierzu Bringewat, NJW 1998, 944, 947).
II.2. Der Angeschuldigte R., der im März 1995 als Sozialarbeiter und Psychologe im W.heim die Betreuung von R. und J. S. übernommen hatte, ist der ihm vorgeworfenen fahrlässigen Körperverletzung des Kindes durch Unterlassen (§§ 223, 230 StGB a. F., 13 StGB) hinreichend verdächtig.
a) Zwar kannte der Angeschuldigte R. die gutachterliche Stellungnahme des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Gesundheitsamtes der Stadt L. vom 25.2.1994 nicht; auch war er über den Inhalt des anlässlich der Übernahme zwischen der Leiterin des Schwangerenwohnheims L. und der Leiterin des W.heims in S. geführten Telefongesprächs nicht voll informiert, da ein Aktenvermerk hierüber nicht gefertigt worden war. Der Angeschuldigte R. wurde jedoch von seiner Vorgängerin, der Sozialarbeiterin S.-S., dahin informiert, dass R. S. ihr Kind einmal gebissen habe und deshalb im W.heim aufgenommen worden sei. Er wusste - entgegen seinem Verteidigungsvorbringen - auch, dass R. S. am 24.12.1993 ihr Kind geschlagen hatte, dass es zehn Tage stationär ins Krankenhaus aufgenommen werden musste. Das ergibt sich aus der beschlagnahmten Akte des W.heims, in der sich eine Ersatzanspruchberechnung der AOK L. über 4641,94 DM gegen R.S. wegen der Krankenhausbehandlung des Kindes vom 26.12.1993 bis zum 4.1.1994 und eine Anfrage des Versorgungsamts H. zu diesem Vorfall befinden. Der Angeschuldigte hat mit Schreiben vom 2.6.1995 auf die Anfrage des Versorgungsamts mitgeteilt, dass Spätschäden bei J. aufgrund des Vorfalls vom 24.12.1993 nicht feststellbar seien. Damit war er - bei vorläufiger Würdigung des Ermittlungsergebnisses - auch über die zugrundeliegende Misshandlung des Kindes durch die Mutter informiert. Wie genau der Angeschuldigte R. über die fortbestehende Unfähigkeit von R. S., ihr Kind zu betreuen und zu erziehen, Bescheid wusste, ergibt sich aus seinem handschriftlichen Vermerk vom 9.5.1995 in seinem beschlagnahmten (dienstlichen) Terminplaner. Dort ist aufgeführt, dass die Mutter die Bedürfnisse des Kindes nicht wahrnehmen könne; es sei Betreuung nötig, um Belastungssituationen zu vermeiden. Ziel der Betreuung sei es, die Mutter in Arbeit zu bringen und das Kind in einem Tagheim unterzubringen. Letzteres entsprach übrigens auch der in denselben Akten befindlichen Stellungnahme der Sozialarbeiterin S.-S. vom 21.7.1994. Der weitere Vermerk des Angeschuldigten in seinem Terminplaner �Kind nackt sehen� ist � bei vorläufiger Würdigung - deswegen erfolgt, weil der Angeschuldigte R. Hinweise für weitere Misshandlungen des Kindes hatte und diesen nachgehen wollte. Der Angeschuldigte erlebte überdies im August 1995 selbst mit, wie die Mutter die Hand des Kindes so heftig auf den Tisch schlug, dass sich diese rot verfärbte. Der Angeschuldigte R. war auch damit einverstanden, dass R.S. zu Weihnachten 1995 für etwa eine Woche mit dem Kind zu A. M. in dessen Wohnung zog, er erfuhr noch im Januar 1996, dass sie nicht ins W.heim zurückkehren wollte. Nach Aktenlage ist durch die Aussage der Zeugin G. M. auch beweisbar, dass der Angeschuldigte dieser beim Übergabegespräch am 8.2.1996 den Fall S. als Normalfall darstellte, wobei er nur beiläufig erwähnte, dass die Mutter das Kind einmal gebissen habe. Hätte er der Zeugin G. M. vom Jugendamt der Stadt S. bei dem Übergabegespräch pflichtgemäß sein gesamtes Wissen über die Gefährdung der körperlichen Integrität des Kindes durch die Mutter offenbart, so hätte diese, wie sie - bei vorläufiger Würdigung glaubhaft - bekundet hat, sofort dafür gesorgt, dass das Kind einen Tagheimplatz erhalten hätte. Die tatsächliche Möglichkeit zur Beschaffung eines solchen Tagheimplatzes hätte sie gehabt; die rechtliche Möglichkeit war gegeben, weil R. S. bereits ihr Einverständnis hierzu erklärt hatte.
b) Der Angeschuldigte R. hatte als der zuständige Sozialarbeiter des W.heims eine Garantenpflicht aus Übernahme für Leib und Leben des (mit)betreuten Kindes. Diese Garantenpflicht reichte bis zum Übergabegespräch am 8.2.1996 und hatte auch die zutreffende und umfassende Information der Zeugin G. M. vom Jugendamt der Stadt S. zum Gegenstand, zumal da durch den Auszug von Mutter und Kind aus dem W.heim und den dadurch bedingten Wegfall der Betreuung beider eine wesentlich erhöhte Gefährdungslage für das leibliche Wohl des Kindes entstanden war. Der Beschützergarant hat auch dafür einzustehen, dass bei Übertragung seiner Schutzfunktion auf einen Dritten dieser so umfassend informiert wird, dass er aufgrund eigener Sachkunde imstande ist, das gefährdete Rechtsgut zu schützen. Belange des Datenschutzes (vgl. §§ 64, 65 KJHG) standen hier angesichts der Gefährdung des Kindeswohls einer Information nicht entgegen. Die fahrlässig unvollständige Information der Zeugin G. M. durch den Angeschuldigten hat verhindert, dass diese ihre Beschützergarantenpflicht wahrgenommen hat.
c) Bei vorläufiger Würdigung besteht auch eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die dem Angeschuldigten R. im Wege fahrlässigen Unterlassens zugerechneten Misshandlungen des Kindes durch die Mutter in der Zeit vom 4. bis zum 8.3.1996 unterblieben wären, wenn das Kind zuvor in einem Kindertagheim untergebracht worden wäre. Die Misshandlungen ereigneten sich allesamt vormittags in Abwesenheit des Zeugen M. in dessen Wohnung. Der konkrete Geschehensablauf mit dem daraus folgenden Verletzungserfolg wäre demnach bei pflichtgemäßem Handeln des Angeschuldigten R. unterblieben. Darauf, dass R. S. ihre Tochter möglicherweise zu Zeiten, zu denen diese nicht im Tagheim gewesen wäre, misshandelt hätte, kommt es nicht an. Zur Beurteilung steht nur der konkrete, vom Garanten pflichtwidrig und fahrlässig nicht abgewendete Verletzungserfolg, nicht ein fiktiver alternativen Geschehensablauf. Angesichts des dem Angeschuldigten bekannten Gefährdungspotentials, das von der Mutter für das Kind ausging, war die Körperverletzung für diesen auch vorhersehbar und vermeidbar; sie ist ihm daher strafrechtlich zuzurechnen.
II.3. Die Zurechnung der infolge pflichtwidrigen Unterlassens der Angeschuldigten eingetretenen Erfolge (Körperverletzung bzw. Tod des Kindes) scheitert auch nicht an der Lehre vom Regressverbot. Nach dieser vorwiegend in der Literatur (vgl. Lenckner in Schönke-S., StGB, 25. Auflage, Vorbem. 55 13f. Rdnr. 101 e mit weiteren Nachw.) vertretenen Auffassung ist eine Erfolgszurechnung über eine fahrlässige Täterschaft des Hintermanns dann nicht möglich, wenn der vom Hintermann ermöglichte Erfolg durch die Vorsatztat einer voll verantwortlichen fremden Person eingetreten ist. Nach dem Urteil des LG Stuttgart vom 28.2.1997 ist R. S. hinsichtlich der ihrer Tochter zugefügten Verletzungen jedoch nur eingeschränkt und hinsichtlich der durch sie mitverursachten, vom Verurteilten P. begangenen Körperverletzung mit Todesfolge nicht ausschließbar schuldunfähig gewesen. Auf solche Fälle, in denen dem Beschützergaranten wegen der eingeschränkten oder ausgeschlossenen Schuldfähigkeit einer in der Kausalkette vor ihm handelnden Person eine besondere Verantwortung zukommt, ist die Lehre vom Regressverbot nicht anwendbar.
III. Der Senat verkennt nicht, dass durch die Zuschreibung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit für durch fahrlässiges Unterlassen herbeigeführte Verletzungs- oder Todesfolgen, die durch Vorsatztaten anderer herbeigeführt werden, Mitarbeiter von Jugendämtern, Sozialdiensten und Trägern der freien Jugendhilfe in erhöhtem Maße der Gefahr einer Bestrafung ausgesetzt werden. Dies stellt jedoch keine Schlechterstellung gegenüber anderen, mit vergleichbaren Pflichten belasteten Berufsgruppen - beispielsweise Ärzten oder Polizeibeamten - dar, sondern nur eine Gleichstellung mit diesen. Auch der Sozialdienst steht nicht außerhalb des Strafrechts. Der aus der Natur der Betreuungstätigkeit erwachsenden erhöhten Gefahr strafrechtlicher Belangung dieses Personenkreises können die Strafverfolgungsbehörden dadurch begegnen, dass sie den Umfang der Sorgfaltspflichten von Beschützergaranten einengend auslegen, so dass nur die Fälle schweren Versagens strafrechtlich erfasst werden.