Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen - NATIONALSOZIALISMUS: Ideologisch angewandte Familienrechtspolitik

Fürsorgliche Bewahrung: Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Fürsorgliche Bewahrung: Kontinuitäten und Diskontinuitäten

BLANDOW, Jürgen (1989): "Fürsorgliche Bewahrung" - Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Bewahrung "Asozialer, in: COGOY, Renate; KLUGE, Irene; MECKLER, Brigitte (Hrsg.)(1989): Erinnerung einer Profession. Erziehungsberatung, Jugendhilfe und Nationalsozialismus, Münster: Votum Verlag, S. 125-143.

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Jürgen Blandow
"Fürsorgliche Bewahrung" -
Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Bewahrung "Asozialer"

1. Prolog

Am 23.7.1945 überreichte der Senator für das Wohlfahrtswesen der amerikanischen Enklave Bremen, Wilhelm Kaisen, SPD, bis 1965 Präsident des bremischen Senats, dem Herrn Major Galperin mit empfehlenden Grüßen den Bericht zweier Fürsorgerinnen des Außendienstes der weiblichen Gefährdetenfürsorge. In ihm heißt es:1

1 Staatsarchiv Bremen, Akte H 5 b No 19

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- Zu den Erfordernissen: Notwendig sei ein "planmäßiges und schlagkräftiges Arbeiten des Jugendamtes"; die tägliche "Erfassung" der in der Hautklinik, bei der Sittenpolizei und am Bahnhof anhängig gewordenen Jugendlichen; die Wiedereinrichtung des -Pflegeamtes; Druck des Senats auf die Beratungsstelle für Geschlechtskranke, die sich unter Berufung auf die gesetzliche Schweigepflicht dem "berechtigten Interesse des Jugendamtes" nach Erfassung der Mädchen widersetze; es fehle auch das vor 1933 geforderte Bewahrungsgesetz, mit der Folge, daß die "älteren ungebesserten Mädchen" nicht "erfaßt und beaufsichtigt werden können"; notwendig als Sofortmaßnahme sei ein Omnibus für den fluchtsicheren Transport der Mädchen in auswärtige Heime; man solle sich in Bremen schließlich ein Vorbild an Hamburg nehmen, in dem es möglich sei, bei Weigerung der Eltern ihre ungebesserten Mädchen von einem FE-Heim in das Versorgungsheim Farmsen verlegen zu lassen und unbürokratisch einen Sorgerechtsentzug durchzuführen.
Die beiden Fürsorgerinnen der "weiblichen Gefährdetenfürsorge" in Bremen sprachen hier Themen an, welche die Wohlfahrtsbehörden tatsächlich seit langem beschäftigt und in Atem gehalten hatten - zwischen 1920 und 1933 ebenso wie zwischen 1933 und 1945. Ihr Verweis auf Hamburg und sein Versorgungsheim Farmsen ist dabei nicht ohne Pikanterie; gerade diese Anstalt, verbunden mit dem Namen Steigerthal, hatte sich wiederum während der Weimarer Zeit und wahrend des Faschismus einen guten Namen im Kampf gegen das "Dirnentum", gegen "asoziale Geschlechtskranke", die "Arbeitsscheuen" und - wie es dann im Faschismus hieß - die sonstigen "Gemeinschaftsfremden" erworben. Und gerade diese Stadt hatte sich besonders findig darin erwiesen, auch ohne ein "Bewahrungsgesetz" Menschen zu "verwahren". Die Diskussion um die "Bewahrung" "Asozialer" ist Thema dieses Aufsatzes.2 Sie erstreckt sich auf die historischen Epochen Weimar - Faschismus - Nachkriegsperiode. Mit der neuerlichen Diskussion um die zwangsweise "Absonderung" "uneinsichtiger HIV-infizierter" Personen hat das Thema erneut bedrohliche Aktualität gewonnen.
2. Die Debatte um ein Bewahrungsgesetz in der Weimarer Republik
Die Debatte um "Bewahrung" (oder, wie es zunächst hieß, die "Verwahrung") wurde 1921 von Agnes Neuhaus, Mitglied der Zentrums-Partei, mit dem "Katholischen Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder" eng verbunden, eröffnet.3 Sie wünschte sich eine Handhabe gegen jene "gefallenen Mädchen", die zwar während der Fürsorgeerziehung "sittlich gehoben" werden konnten, nach der Entlassung aber

2 Erst nach einer Sichtung von Materialien zum Bewahrungsgesetz und zur Bewahrungspraxis in der Bibliothek des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt bin ich auf zwei Arbeiten Peukerts (1981 und 1986) zur gleichen Thematik gestoßen. Dieser Aufsatz ergänzt Peukerts Analyse durch Beiziehung weiterer Original-Arbeiten und verlängert sie in die Nachkriegsperiode hinein.

3 Allerdings gab es bereits früher diverse Versuche zur Bewahrung. In einer Veröffentlichung des Deutschen Vereins ("Das Bewahrungsgesetz im System der Fürsorge 1926") heißt es hierzu: "Einrichtungen der öffentlichen und privaten Fürsorge haben sich seit Jahrzehnten bemüht, Einrichtungen zu schaffen, um solche haltlosen und der Verwahrlosung ausgesetzten Menschen nicht nur für den Augenblick, sondern für längere Zeit zu versorgen. Einrichtungen wie die Bodelschwingh'schen Anstalten, die Arbeiterkolonien, bedeuten Versuche, auch ohne gesetzliche Regelung eine Bewahrung zu erreichen" (S. 3).

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wieder rückfällig wurden. Der schon kurz nach diesem Appell erfolgende parlamentarische Vorstoß, die Einbringung des "Entwurfs eines Gesetzes betr. Überweisung zur Verwahrung" names der Zentrumspartei,4 benannte allerdings schon einen darüber hinausgehenden Personenkreis, nämlich "Personen ..., soweit dies zur Bewahrung vor körperlicher oder sittlicher Verwahrlosung oder zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit erforderlich ist, ... wenn sie
a) in Fürsorgeerziehung stehen für die Zeit nach Beendigung der Fürsorgeerziehung,
b) wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind." Der Antrag wurde ohne Beratung in einer ersten Lesung des Plenums beraten und einem Ausschuß zur weiteren Beratung übergeben, ab 1922 dann einer Kommission des Deutschen Vereins zur weiteren Prüfung der mit einer "Versorgung asozialer Personen" verbundenen Fragen (vgl. "Das Bewahrungsgesetz im System der Fürsorge 1926", S. 4). Aber trotz dieser Verzögerungen fand der Vorstoß in der Fachöffentlichkeit sofort ein enormes Echo. Innerhalb weniger Jahre entdeckten diverse Sparten des Wohlfahrtswesens die Notwendigkeit, sich eines Teils ihrer Klientel durch Verwahrung zu entledigen:
Einen gemeinsamen Nenner für alle diese Gruppen, und gleichzeitig den Kreis noch einmal erweiternd, fand man in der Definition des Kölner Psychiaters Aschaffenburg zum Begriff der "Asozialität" und in den drei von ihm ernannten Gruppen von "Asozialen" , nämlich - "vom Standpunkt der Gesellschaft aus":
"1. Personen, die die Gesellschaft belasten, indem für sie Kosten oder Kraft aufgewendet werden müssen, die vielleicht anderweitig zweckmäßiger verwendet werden können; also die chronisch, körperlich und geistig Kranken;
2. Personen, die die Gesellschaft schädigen, also jugendliche Unreife, Bettler und Landstreicher, Dirnen, Trinker, viele Epileptiker, Geistesschwache und Geisteskranke und das kleinere und mittlere Verbrechertum;
3. Personen, die der Gesellschaft gefährlich sind, vor allem eine große Zahl von Epileptikern und Geisteskranken, sowie die schweren Gewohnheits- und Berufsverbrecher" (/it. nach Steigerthal 1926, S. 31).

4 Antrag Neuhaus und Genossen, Reichsdrucksache Nr. I766 (1921)

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Wenngleich diese Klassifikation viel Zuspruch fand - sie war so bekannt, daß man meist ohne Quellenangabe von der "bekannten Definition von Aschaffenburg-Köln" sprach -, ging vielen ein Bewahrungsgesetz für den Gesamtkreis der "Asozialen" doch zu weit, so daß ein Kreis um Aschaffenburg mit seinem Vorschlag im Deutschen Verein nicht durchdringen konnte. Steigerthal etwa, seit 1920 mit der Behandlung "Asozialer" durch die Tätigkeit in einer Landesanstalt bestens vertraut (ab 1926 dann Direktor des Versorgungsheims Farmsen in Hamburg),5 setzt sich in diversen Schriften dafür ein, nur jenen Teil der "Asozialen" zu verwahren, für die es im Versorgungssystem noch eine Lücke gab, nämlich die - nach Aschaffenburgs Typologie - "Stumpfen und Haltlosen", jene, "die im praktischen Leben trotz der verschiedensten tiefer liegenden Ursachen dadurch zu einem einheitlichen Personenkreis zusammenschmelzen, daß sie sich wirtschaftlich nicht durchzusetzen vermögen, zumeist bettelnd ihr Wanderdasein fristen und zu einem erheblichen Prozentsatz in die Lage kommen, aus Not Eigentumsdelikte zu begehen und in einen Zustand völliger Verwahrlosung zu versinken" (a.a.O., S. 33),
und die somit weder in Strafanstalten noch in Heil- und Pflegeanstalten "gehören". Im Deutschen Verein setzt sich schließlich diese - als "fürsorgerische, an der Schutzbedürftigkeit der Person" orientierte - Interpretation durch und geht so auch in dessen Entwurf (vom 11.3.1925) zu einem Bewahrungsgesetz und gleichlautend in den gemeinsamen Antrag der Fraktionen der Zentrumspartei und der Deutschnationalen Partei - am 27. Juni 1925 dem Reichstag eingereicht - ein. Der § l dieses Entwurfs heißt nunmehr:
"Eine Person über 18 Jahre, welche verwahrlost ist oder zu verwahrlosen droht, kann durch Beschluß des Vormundschaftsgerichts der Bewahrung überwiesen werden, wenn
a) dieser Zustand auf einer krankhaften oder außergewöhnlichen Willens- oder Verstandesschwäche oder auf einer krankhaften oder außergewöhnlichen Stumpfheit des sittlichen Empfindens beruht und
b) keine andere Möglichkeit besteht, diesen Zustand der Gefährdung oder Verwahrlosung zu beheben" (vollständiger Text mit Begründung in:, "Das Bewahrungsgesetz im System der Fürsorge 1926", Anhang Iff.).
Die diversen Fallbeschreibungen über "Typen", die für eine Bewahrung in Frage kommen, verdeutlichen, an welchen Personenkreis man konkret denkt: meist Männer und Frauen zwischen 20 und 30 Jahren, geboren in subproletarischen und deklassierten Milieus, von Entweichungen durchbrochene Fürsorgekarrieren mit eskalierenden Folgen: kleine Gerichtsstrafen, unstete Beschäftigungsverhältnisse, die Frauen in Haushaltsstellen, die Männer in ungelernten und Tagelöhnertätigkeiten, "ungeordnetes" Sexualleben der Männer, "häufig wechselnder Geschlechtsverkehr" der Frauen. Typisch ist der folgende, einer vom AFET herausgegebenen Schrift des Sanitätsrats Dr. Mönkemöller (1925) entnommene, Fallbericht:
"E.H., geboren 1901.
Keine erbliche Belastung. Schwächliche Erziehung. Gilt schon auf der Schule als ein verlogenes und zum Umhertreiben neigendes Mädchen. Verkehrte schon mit 14 Jahren geschlechtlich mit Männern. Bestahl zuletzt ihre Großmutter. 1918 Fürsorgeerziehung.

5 Zur Person Steigerthals siehe die Laudatio des Deutschen Vereins zu seinem 90. Geburtstag (Nachrichtendienst Nr. 9/1975, S. 260).

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Psychiatrische Diagnose: Psychopathie (Haltlosigkeit).
In der Anstalt eigensinnig und empfindlich, hochmütig, eitel. Arbeitet gut. April 1919 widerruflich zu den Eltern entlassen. Führt sich zunächst in einer Dienststelle gut. Mai 1920 zur Anstalt zurück. Hatte ihrer Herrschaft regelmäßig Lebensmittel in großem Umfange gestohlen, die sie ihrem Verkehr zusteckte. In der Anstalt sehr sinnlich. Liebt nur die Zügellosigkeit, aber nicht geregelte Arbeit. Unzuverlässig. Innere Umkehr nicht zu sehen. März 1921 in Stellung. Führt sich nach einiger Zeit sehr gut. Sehr fleißig und diensteifrig. Von ihrem Dienstherrn, Amtsgerichtsrat R., wird sie als "Perle" bezeichnet, die auch das Ausgehen gar nicht entbehrte. Ein seltener Fall! 14 Tage, nachdem sie sich das Prädikat verdient hat, entweicht sie zu ihrem Verkehr, nachdem sie einen Brief geschrieben hatte, sie habe sich vorgenommen, schlechter zu werden. Dezember 1921 zur Anstalt zurück. Vollkommen verwildert und verwahrlost. Ihre Dienstherrschaft hatte sie ausgiebig bestohlen. Führt sich zunächst wieder gut, ist voll guter Vorsätze.
Februar 1922 wieder in Stellung, desgleichen im April 1922, begeht hier einen sehr schweren Diebstahl und wird gerichtlich bestraft. Entweicht wieder heimlich aus der Stelle. Ein Jahr Gefängnis. Führt sich in der Haft sehr gut. Fleißig, willig, sehr geschickt. Verlangt nach der Entlassung freiwillig, in die alte Fürsorgeerziehungsanstalt aufgenommen zu werden. Ablehnung."
Die nachfolgenden parlamentarischen Debatten (Einzelheiten bei Peukert 1986, S. 268 ff.) sind auf die Auseinandersetzung um den in Frage kommenden Personenkreis, die Frage rechtsstaatlicher Garantien und schließlich auf Kostenfragen konzentriert - an der letzten Frage scheitert die Verabschiedung in der Weltwirtschaftskrise dann schließlich. Die Notwendigket eines Bewahrungsgesetzes war dennoch bei keinem der Wohlfahrtsverbände und keiner Partei, außer bei den Kommunisten (zu ihrer Position s. Peukert 1986, S. 270), umstritten. So hatte auch die SPD-Fraktion auf Vorschlag des Hauptvorstandes der Arbeiterwohlfahrt einen eigenen Gesetzentwurf eingereicht, der Bewahrung nach Entmündigung "infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche oder von Trunksucht" vorsah und die fatale Wendung "und so ein die Gemeinschaft schädigendes Verhalten zeigen" enthielt (vgl. Peukert a.a.O.). Auch Georg Loewenstein, sozialistischer Arzt und Gesundheitsreformer, sprach sich für die Bewahrung als "fürsorgerische Maßnahme für Verwahrloste oder verwahrlosende Geistesschwache" aus. Der von ihm mit anderen Mitgliedern des "Deutschen Verbandes zur Förderung der Sittlichkeit " 1925 erarbeitete Entwurf eines Bewahrungsgesetzes (Text in Loewenstein 1987, S. 96 ff.) weicht zwar, insbesondere wegen vielfältiger rechtsstaatlicher Sicherungen, von anderen Entwürfen ab, aber auch er beruft sich (in Loewenstein 1931, S. 6ff.) auf jene Wendung Aschaffenburgs, die Bewahrung für jene fordert, die "Kostenaufwendungen aller Art verursachen, die anderweitig zweckmäßiger verwendet werden können". Und sein Bedenken gilt weniger der Zwangsunterbringung als mehr der Gefährdung von Arbeitsplätzen in der "freien Wirtschaft" durch die "Arbeitstherapie" in den Anstalten.6

6 Die richtige Anwendung und Interpretation der "Arbeitstherapie" und die "Verwertung der Arbeitskraft als Problem der Fürsorge" spielen in den Auseinandersetzungen um die Praxis des Bewahrungsvollzugs überhaupt die große Rolle und signalisieren damit auch ein gewichtiges Motiv für die Bewahrung.

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Loewenstein (1931, a.a.O.) verweist im übrigen auch auf die von Steigerthal "vorbildlich geführte" Anstalt Farmsen, die wegen eines besonderen Entgegenkommens der Hamburger Vormundschaftsrichter in Entmündigungssachen nach § 6 BGB (Ei-serhardt 1929, S. 90 f.) bereits in den 20er Jahren als Modelleinrichtung für Bewahr-und Besserungsanstalten gilt und 1928 für über 3.000 Insassen, männliche und weibliche "entmündigte und entmündigungsreife Psychopathen, Epileptiker, schwer besserungsfähige trunksüchtige Frauen und Männer" etc. zuständig ist. Ein Bericht aus der Anstalt selbst aus dem Jahr 1928 (ausführlich zit. in Eiserhardt 1929, S. 105 ff.) enthält folgenden interessanten Passus:
"Nur so konnte es auch geschehen, daß neben den Entmündigten eine beträchtliche Anzahl entmündigungsreifer Personen freiwillig im Versorgungsheim verbleiben, denn diese stehen z. T. unter dem Einfluß von Angehörigen und Familienbekannten, die bei Berücksichtigung der jeweiligen Lage ihnen wohlmeinend den Rat gaben, still im Versorgungsheim, in das sie vielleicht schon als Minderjährige kamen, zu verharren und überzeugt zu sein, daß die Lebensmöglichkeiten für geistig und körperlich gebrechliche Menschen im freien Berufsleben recht schwierig sind."
Außer den Insassen, so scheint es, scheinen alle mit den "Asozialen" Konfrontierten mit deren Verwahrung einverstanden gewesen zu sein. Daß es den Insassinnen und Insassen selbst weniger gefallen hat, deutet z. B. der Bericht des evang. Mädchenheims "Gottesschutz" - ebenfalls eine als modellhaft apostrophierte Einrichtung - über seine "sexuell haltlosen und abnormen" jungen Frauen an:
"Die innerliche Beeinflussung geschieht während des ganzen Tages, auch dadurch, daß die Mädchen an die Innehaltung der Tagesordnung gewöhnt werden. Sie sind immer unter Aufsicht, auch beim Spielen oder Singen. Während der Freizeit ist es den zuverlässigen Mädchen gestattet, allein in die Umgebung spazieren zu gehen. Bei den häufigen Reisen zum Wohlfahrtsamt oder zu Vormundschaftsgerichten, ebenso bei anderen Besuchen, muß in der Regel eine Begleitperson mitgesandt werden, da in vielen Fällen Gefahr besteht, daß selbst auf einer kurzen Reise die Pfleglinge wieder rückfällig werden". Die Passage endet mit dem Satz: "so daß die Bewahrung bis in die Einzelheiten zur Tat wird" (zit. nach Eiserhardt 1929, S. 104). Freilich drückt die Passage auch die für die geschilderten Modelleinrichtungen typische subjektiv-fürsorgerisch-besorgte Haltung und eine gewisse professionelle Attitüde aus. Die Klientel der Anstalten muß - so die Grundüberzeugung - primär zu ihrem Schutz, am Rande auch zum Schutz der Gesellschaft, als Konsequenz des fürsorgerischen Schutzes des einzelnen - akribisch begutachtet, nach Typen sortiert, an regelmäßige Arbeit gewöhnt, bei Festen erfreut, Tag und Nacht überwacht, ggf. in eine andere Anstalt verlegt werden. Anders z. B. als die gefährlichen "Verbrecher" oder die wirklichen "Irren", deren Bestrafung, Verwahrung und Pflege den dafür zuständigen Instanzen überlassen bleiben kann und muß, ist die Klientel der Bewahranstalten, "diese Gruppe mehr oder weniger passiver Naturen", das "von der Natur stiefmütterlich behandelte Individuum" sozusagen objektiv der Fürsorge bedürftig, zumal "praktisch verwertbare Erziehungserfolge nur in bescheidenem Maße zu erwarten sind" (Steigerthal 1932, S. 143).
Vgl. hierzu die beiden Broschüren dei Deutschen Vereins "Die Verwertung der Arbeitskraft" ... Vorbericht zum 40. Deutschen Fürsorgetag in Hamburg 1927, sowie "Arbeitsfürsorge", Bericht Über den 40. Deutsche Fürsorgetag 1927.

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3. Die Diskussion nach 1933

Die Diskussion um die Bewahrung Asozialer, bald heißt es dann "Gemeinschaftsfremder", wird durch die "Machtergreifung" nicht unterbrochen, erhält aber neue Akzente. Wortführer im Rahmen der Wohlfahrtspflege bleibt der Deutsche Verein, insbesondere dessen Referentin Hilde Eiserhardt. Kontinuität und Akzentverlagerung werden bereits im Juni 33 im "Nachrichtendienst", dem Organ des Deutschen Vereins, verdeutlicht. Dieser Aufsatz rekapituliert das bisherige Gesetzgebungsverfahren und die Gründe für sein Scheitern und beschreibt erneut den Personenkreis. Akzentverschiebungen deuten sich in drei Punkten an: Den "wahrscheinlich tiefsten Grund" für das Scheitern des Gesetzgebungsverfahrens vor 1933 macht die Autorin in "gewissen Kreisen", namentlich bei der Arbeiterwohlfahrt, aus, die "in einem hier schlecht angebrachten Respekt vor der persönlichen Freiheit das Staatsinteresse und den Schutz der Allgemeinheit zu gering achteten". Eine zweite Akzentverlagerung liegt in der deutlicheren Betonung des "volkswirtschaftlichen Nutzens" der Bewahrung bzw. der kostenmäßigen, sittlichen und eugenischen Belastung des "Volkskörpers" durch unzureichende Maßnahmen:
"Der Schaden, den die Allgemeinheit leidet, ist vielfältig. Zunächst verursachen diese Elemente unausgesetzt Kosten: Als Bettler belasten sie die private Hilfstätigkeit, als Landstreicher brandschatzen sie die Bauern ... Als Prostituierte bedeuten sie eine Gefahr, gesundheitlicher wie auch moralischer Art. Dazu kommt, daß alle diese Kategorien die Krankenhäuser belasten durch ständig wiederkehrende Fußkrankheiten, Haut- und Geschlechtskrankheiten ... Eine weitere Schädigung des Volkskörpers bedeutet die Fortpflanzung dieser körperlich und geistig minderwertigen Menschen" (S. 103).
Im letzten ist die dritte Akzentverschiebung schon benannt. Was vor 1933 noch lediglich distanzierend-neutral im Deutschen Verein zitiert wurde, z. B. die Forderung nach "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" und nach "Unfruchtbarmachung der geistig Minderwertigen" (vgl. "Das Bewahrungsgesetz im System der Fürsorge" 1926, S. 8) wird jetzt - zumindest das zweite - offen begrüßt. Insoweit heißt es dann zwei Jahre später auch schon, vermutlich wieder von Hilde Eiserhardt: "Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wird auf alle aus der Gruppe, von der wir hier sprechen, anzuwenden sein" (NDV Juni 1935, S. 388).7
Aber abgesehen von der fraglosen Anpassung der Wohlfahrtspflege an die neue Terminologie und die Integrierbarkeit der nationalsozialistischen "Erbgesundheitspflege" in Theorie und Praxis der "Asozialenfürsorge"8, bleibt ein anderer (ein schon in der

7Nach § l dieses Gesetzes galt als erbkrank, wer an einer der folgenden "Krankheiten" litt: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, circuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere körperliche Mißbildung. Ferner konnten nach dem Gesetz Personen mit "schwerem Alkoholismus" sterilisiert werden, 5 % der deutschen Bevölkerung wurde als "erblich gebrechlich" angesehen (vgl. Wessel, Helene 1934).

8 Gegen die Sterilisation der "bewahrungsbedürftigen" Anstaltsinsassen werden allerdings auch Bedenken geäußert. Sie beziehen sich auf die Befürchtung "gesteigerter Hemmungslosigkeit" nach Sterilisation und die mit der Sterilisation verbundenen Kosten (vgl. Wessel 193S). Wohl aus diesem Grunde nah das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" auch vor, auf die Sterilisation 7,11 verzichten, "wenn der Erbkranke dauernd in einer geschlossenen Anstalt verwahrt wird" und die "Anstalt die volle Gewahr dafür bietet, daß die Fortpflanzung unterbleibt" (Verordnung zur Ausführung des Gesetzes ... vom S.12.19:13, Rdbl, Teil I. 7.12.33. Nr. 138).

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Diskussion der 20er Jahre bedeutsamer) Punkt der Auseinandersetzung: die Abgrenzung der für die Bewahrung in Frage kommenden Personen von anderen "asozialen" und "antisozialen" Gruppen virulentes. Die Apologeten der "fürsorglichen Bewahrung" werden nicht müde, für sich eine besondere Klientel zu reklamieren, sie von der Klientel des Strafvollzugs und der Sicherungsverwahrung einerseits, vom Klientel der "Heil- und Pflegeanstalten" andererseits und drittens von der zwar "erbkranken", aber sonst nicht weiter auffälligen Klientel - Adressat der "offenen" und der Familienfürsorge - abzugrenzen. Es sei, so Helene Wessel (1934),9 gerade auch unter "eugenischen Gesichtspunkten" scharf zwischen den verschiedenen Gruppen zu unterscheiden. So könne zwar der Gewohnheitsverbrecher durch ständige Verwahrung an "seiner Fortpflanzungsfähigkeit behindert" werden und dem Sittlichkeitsverbrecher durch Kastration sogar "jede Fortpflanzungsmöglichkeit genommen" werden. Die dieses ermöglichenden Gesetze10 erreichten aber niemals die "geistig defekten, willens- und haltlosen Menschen", die zu ihrem eigenen Schütze und zum Schutz der Allgemeinheit bewahrt werden müßten. Umgekehrt biete die Sterilisation auch keinen Ersatz für die Bewahrung, da die "Anomalien" (der Bewahrungsbedürftigen) nicht unbedingt erblicher Natur sind" (S. 15ff.).
In einem anderen Aufsatz (NDV, April 1937, S. 137 f.) heißt es mit Blick auf die Hamburger Bewahrungsfürsorge:
"Wer längere Zeit in der Bewahrungsfürsorge arbeitet, begegnet mancherorts der Auffassung, daß Bewahrung und Sicherungsverwahrung so ziemlich das Gleiche wären; infolgedessen können sich Fürsorger oft nur schwer entschließen, Grenzfälle auf Monate hinaus zwangsweise in eine Anstalt zu schicken, in der sie einen wesentlichen Teil ihrer Freiheit aufgeben müssen. Es ist daher nötig, immer wieder zu betonen, daß die Bewahrungsfürsorge niemals die Aufgaben der strafrechtlichen Maßregeln der Sicherung und Besserung übernehmen kann noch übernehmen darf (S. 168; Hervorh. im Orig.).
Auch Steigerthal (1938) wendet sich - in einer Broschüre des Deutschen Vereins - gegen Übergriffe von Polizei und Justiz auf das angestammte Feld der fürsorglichen Bewahrung. Er schreibt:
"Man wird niemals damit rechnen können, daß Strafrechtspflege und Polizei der Fürsorge den Kampf gegen asoziale und sozial schwierige Personen ersparen könnten. Die Personalkenntnis liegt bei den Fürsorgeverbänden; auch besitzen sie die Erfahrung, schon die leichteren Kennzeichen unsozialen Verhaltens richtig zu deuten und zu werten; sie verfügen über bewährte Anstaltseinrichtungen, die wirtschaftliche Leistungen und beachtliche fürsorgerische Erfolge erzielen" (Steigerthal 1938, S. 3). Etwas später heißt es schon deutlicher:
"Eine solche übertreibende Einstellung, die den sozialen Schwächling und Passivmenschen ohne viel Federlesen mit dem antisozialen Verbrecher und Volksfeind gleichsetzt, verengt in der Praxis den Personenkreis unnötig und läßt zweifellos jene Menschen

9 Helene Wessel (1898-1969) war 1928-33 MdL in Preußen für das Zentrum, dessen Mitbegründerin 1945, 1949-52 Vorsitzende der Partei, 1952 der Gesamtdeutschen Volkspartei. 1957 trat sie der SPD bei.

10 Angesprochen ist hier vor allem das "Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" vom 24.11.33, RGbl. Teil I, 27.11.33, No 133).

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außer Betracht, die gerade die Fürsorge täglich belasten ... Das überdies jede übertriebene Kraftaufwendung gegenüber dem untauglichen Objekt unnötige Kosten und unnötige Energie vollwertiger Volksgenossen in Anspruch nimmt, ist eine Nebenwirkung, die in Zeiten des Vierjahresplans auch nicht unberücksichtigt bleiben darf" (ebd., S. 8f.; Hervorh. im Orig.).
Diese auch von den Wohlfahrtsbehörden insgesamt getragene Politik ist insoweit oppositionell, als sie sich gegen die zunehmenden Zugriffe von Himmlers Polizei auf die angestammte Klientel der Anstalten und die wieder anderen Interessen der Justizbehörden wendet. Während es den Wohlfahrtsbehörden bzw. Anstalten zunächst noch durchaus Vorteile bringt, das bestimmte Klientel für sich zu reklamieren - die Bereitschaft, neue Gruppen als "asozial" oder "gemeinschaftsfremd" zu definieren, ist größer und Bedenken gegen Rechtsbeugungen sind geringer geworden11 - setzte etwa 1937 die Auseinandersetzung um das Verhältnis von wohlfahrtspflegerischer und polizeilicher Zuständigkeit an. Ein Regierungsrat Dr. Ehaus erklärte in einer Sitzung des Ausschusses für Wohlfahrts- und Fürsorgerecht in Hamburg: "Es wird künftig wohl auch nicht mehr angängig sein, die Fürsorgebehörden darüber entscheiden zu lassen, ob die einmal für asozial Befundenen wieder entlassen werden können ... Für die Säuberung von Asozialen sorgt schon jetzt und wird nach den im Augenblick noch zur Erörterung stehenden Plänen auch künftig die deutsche Polizei sorgen" (zit. nach Peukert 1986, S. 282).
Die Auseinandersetzung endete (Details können bei Peukert nachgelesen werden) mit einem "Sieg" Himmlers. So war es ihm nicht nur gelungen, bereits seit 1940 im Sinne seiner Vorstellungen mit der Einweisung "Asozialer" in Lager der Polizei, in Arbeitserziehungslager und Jugend-Konzentrationslager zu experimentieren (vgl. hierzu Peukert 1981), seine Entwurfsfassung zu einem "Gemeinschaftsfremdengesetz" hätte ihm - wenn es noch zu einem Inkrafttreten des Gesetzes gekommen wäre - die volle Verantwortung für die Lösung des "Asozialenproblems" übergeben (vgl. hierzu Peukert in diesem Band).
Daß Himmlers Gesetzesentwurf für eine "Endlösung" des "Asozialenproblems" nicht im Sinne der Fürsorgevertreter war, zeigen noch einmal zwei Veröffentlichungen des Deutschen Vereins aus den Jahren 1940 und 1945. In der ersten Schrift geht Dr.jur. Anneliese Ohland (Geschäftsführerin des AFET) überraschend verständnisvoll auf die soziale Lage, die Umweltbeziehungen, insbesondere die desolaten Familienverhältnisse, Gewalterfahrungen der Jugendlichen etc. ein, während "Anlageschädigungen" zwar erwähnt und für einen kleineren Prozentsatz der untersuchten Jugendlichen auch behauptet, in der Argumentation aber eher heruntergespielt werden. Nach einer Diskussion der bestehenden rechtlichen und praktischen Möglichkeiten zur offenen und anstaltsmäßigen Versorgung der entlassenen Jugendlichen plädiert die Verfasserin energisch für die Einlösung der "seit langen Jahren erhobenen Forderungen der allgemeinen Fürsorgepraxis nach einem fürsorgerischen Bewahrungsgesetz erneut auch vom Standpunkt der Fürsorgeerziehung aus." Die kurze Schlußbemerkung der Broschüre, nämlich:

11 Als neue Klientel wurden z.B. die "asozialen Tuberculosen" und ganze "asoziale und sozial-schwierige Familien", für die in verschiedenen Städten ganze - mit Mauern und Stacheldraht - umzingelte Wohnlagen eingerichtet wurden, gewonnen. (Beschreibungen bei Ammann 1940, S. 147 ff.)

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"Die vorstehende Untersuchung wird in einem Augenblick der Fachöffentlichkeit übergeben, in dem die für die Bekämpfung der Jugend Verwahrlosung verantwortlichen Stellen Maßnahmen zur Verwahrung Jugendlicher vorbereiten. Die Arbeit möchte deshalb zur Klärung der noch schwebenden Fragen beitragen" (Ohland 1940, S. 55), dürfte unmittelbar als Opposition gegen das im Februar 1940 von Heydrich und Himmler vorgetragene Plädoyer für die Errichtung von polizeilichen "Jugendschutzlagern" , zumindest gegen ihre Praxis, zu lesen sein.
Die zweite Schrift aus dem Umfeld des Deutschen Vereins zur "Wiedereingliederung Gemeinschaftsfremder durch Anstaltserziehung" (Januar 1945) mit ihren zwei Teilen "Allgemeine Fragen, Anstalten für Männer" von Meta Keßler und "Frauenanstalten" von Lilly Zarncke12 liest sich schließlich wie ein letztes Plädoyer für die "fürsorgliche Bewahrung".
Der Gesamtband, von "zahlreichen offenen und geschlossenen Einrichtungen für Gemeinschaftsfremde" gefördert, wird von seinem Herausgeber in den Zusammenhang mit "den Hauptthemen der heutigen Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege: Umquartierung, Wohnraumbeschaffung und Steigerung des Arbeitseinsatzes" gestellt. Es sei, heißt es, "unter den besonderen Gegebenheiten der Gegenwart" von großer Bedeutung, sich der Asozialen anzunehmen, da "in neuer, da ungewohnter Umwelt und vor allem in beengten Wohnverhältnissen sich die Eigenschaften der Gemeinschaftsfremden noch rücksichtsloser zu offenbaren pflegten ... Damit rückt die Arbeit an den Gemeinschaftsfremden, insbesondere ihre Anstaltsbehandlung, in den Aufgabenkreis der Wohlfahrtspflege und schließt dessen empfindliche Lücke." Drückt schon dies das Anliegen des Herausgebers aus, so noch deutlicher das formulierte Ziel, nämlich "nach Möglichkeit und in möglichst vielen Fällen die Befähigung zur Rückkehr ins freie Leben, zur Wiedereingliederung in die Volksgemeinschaft." Anstalten für Gemeinschaftsfremde sind, heißt es schließlich, "daher Einrichtungen der Erwachsenenerziehung" (Hervorhebungen J.B.).
Die Herausstellung des Fürsorgerischen und Pädagogischen findet eine Fortsetzung im Einleitungskapitel Meta Keßlers, das auch den unmittelbaren Bezug auf Himmlers Gemeinschaftsfremdengesetz-Entwurf herstellt. Da Unklarheiten über die fürsorgerische Praxis und die Gestaltung und Arbeitsmethoden der Anstalten für Gemeinschaftsfremde beständen, sei es zur Durchführung des Gesetzes erforderlich, "aus dem Erfahrungs- und Lebenskreis eines größeren Anstaltsgemeinwesens heraus einen Einblick in die Gestaltung solcher Anstalten zu geben" (S. 8). Was folgt, ist dann eine akribische Beschreibung von Anstaltstypen, lange Diskussionen über Methoden der Arbeit etc. Der Eindruck, daß es darum geht, der polizeilichen Sicht eine "fachliche" entgegenzusetzen, verstärkt sich im zweiten Teil der Broschüre. "Absicht der vorliegenden Untersuchung ist es", schreibt Lilly Zarncke, "dazu beizutragen, daß das Anstaltswesen für gemeinschaftsfremde Frauen planmäßig durchgestaltet wird." Im Mittelpunkt des Untersuchungsberichts, - er beruht auf einer seit 1937 durchgeführten Befragung von 24 Anstalten und der Analyse von 320 Einzelakten - stehen Detailfragen zur Personalorganisation, zur Schulung des Personals, zur Fragen einer methodischen Arbeitserziehung, zur Alltagsgestaltung, zur Gruppenzusammensetzung nach methodischen Gesichtspunkten, zur sozialen Diagnose und Prognose,

12 Lilly Zarncke war die Nachfolgerin Eisenhardts im Referat "Gefährdete" des Deutschen Verein".

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zur pädagogischen Gestaltung von Hausordnungen, schließlich zum Erfolg des Bewahrungsvollzugs für Frauen. Eindeutige Intention beider Arbeiten ist die Wiedereingliederung in die Volksgemeinschaft, nicht etwa "Ausmerzung". Meta Keßler erteilt selbst den "Arbeitslagern, die von polizeilicher Seite aus für die von der Vorbeugehaft erfaßten Personen errichtet worden sind" (S. 19) und die deshalb nicht zu den fürsorgerisch orientierten Anstalten gehören, einen pädagogischen Hieb, indem sie auch für sie Reform und wirkungsvolle Ausgestaltung des Vollzugs fordert.13
4. Erstes Resümee

Im Hinblick auf die Kontinuität zwischen "Weimar" und Faschismus in der Frage der
Bewahrung komme ich nunmehr zu folgenden Ergebnissen:
  1. Die Vertreter der Wohlfahrtspflege sowohl in der Weimarer Republik als auch im Faschismus sahen - über ideologische und politische Grenzen hinweg - in unangepaßten, sich den bürgerlichen Normen widersetzenden, aber weder schwer kriminellen noch geisteskranken Menschen, einen in sich differenzierten, aber doch einheitlichen Personenkreis bewahrungsbedürftiger Menschen, denen gegenüber Zwangsmaßnahmen mit fürsorgerischem Charakter unfraglich geboten waren. In dieser Frage gibt es volle Kontinuität.
  2. Wenngleich sich in der Weimarer Zeit auch "linke" Gruppierungen zur Bewahrung "Asozialer" bekannten und im wesentlichen die herrschende "Asozialitäts"-Definitionen übernahmen, forderten sie für die Bewahrung rechtsstaatliche Sicherungen. Dies hinderte auch die bürgerlichen Verbände, so den Deutschen Verein, zunächst daran, sich offiziell zur Einschränkung von Rechtsgarantien und z.B. zur "Unfruchtbarmachung" zu bekennen. Die "Chance", die der Faschismus dafür lieferte, "unangemessene" Hindernisse für den Zugriff auf "Asoziale" beiseite zu lassen, wurde von den bürgerlichen Verbänden dann als eine schon immer der Sache angemessene Möglichkeit begrüßt. Die neue Praxis der unter Regie der Wohlfahrtsverbände stehenden Bewahrungsanstalten wurde nicht als Diskontinuität, sondern als Chance zur Weiterentwicklung dieses Fürsorgezweiges erlebt.
  3. Die Diskussion um die Bewahrung der "Asozialen" hatte sich an jener schmerzlichen Lücke festgemacht, die man zwischen den Anstalten der Strafrechtspflege bzw. der Psychiatrie und der öffentlichen Fürsorge ausgemacht hatte. Intention war es, die Lücke mit einem fachlich-fürsorgerisch orientierten Angebot zu füllen. Hierfür verlangte man eine rechtliche Handhabe, Geld und die Garantie von Arbeitsmöglichkeiten. Es war dagegen nicht Intention der Vertreter des Bewahrungsvollzuges, Einfluß auf die "über" und "unter" ihnen nehmenden Einrichtungen und Anstalten zu nehmen. Jeder Zweig, der der Bekämpfung des "kranken, verbrecherischen und asozialen Materials" diente, sollte seinen eigenen Prinzipien nach entwickelt und ausgestaltet

13 Um Mißverständnissen vorzubeugen: Die "fachliche" Argumentation dient nicht dem Zweck, repressive Maßnahmen auszuschließen, sondern ihrer professionellen Gestaltung. In einer anderen Arbeit (Fragen aus der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, das Pflegeamt) wird von Zarncke (1940) nicht einmal ausgeschlossen, für bestimmte "geschlechtskranke Typen" "Sondererziehungsanstalten", Arbeitshäuser, Konzentrationslager und Vorbeugehaft "einzuspannen" und die "unverbesserlich haltlosen, triebhaften Personen" durch geeignete Dauerunterbringung dauerhaft an der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu hindern.

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werden. Die Vertreter des fürsorgerischen Bewahrungsgesetzes hofften dieses Prinzip durch den Faschismus hindurchretten zu können. Die Aufkündigung des Prinzips der auf institutioneller Zugehörigkeit beruhenden Teilung der Herrschaft und die damit verbundenen "sachfremden" Übergriffe des faschistischen Machtapparats auf das eigene Gebiet waren von den Fürsorge-Vertretern nicht gewollt und wurden - im Feld fachpolitischer Auseinandersetzungen - abzuwehren versucht. In der einseitigen Aufkündigung eines zwischen 1920 und 1936 ausgearbeiteten Zuständigkeits-Vertrages durch den faschistischen Polizeiapparat lag aus fürsorgerischer Sicht ein Akt der Diskontinuität.
5. Bewahrung und Arbeitserziehung in der Nachkriegsperiode
In der Nachkriegsperiode entzündete sich die Diskussion um Bewahrung zunächst nicht an dem traditionellen Personenkreis insgesamt, sondern an Teilgruppen, die sich in diesen Jahren als besonders hinderlich für den politischen und ökonomischen Neuanfang erwiesen: geschlechtskranke Mädchen und Frauen, die nicht nur die allgemeine Gesundheit gefährdeten, sondern auch zu ewigen Ärgernissen mit den Militärregierungen, die ihre Soldaten gefährdet sahen, führten; ferner die "Typen vom Schwarzmarkt" und sonstige "arbeitsscheue Elemente", die sich der durch Kontrollrats-Direktive ausgesprochenen Pflicht zur Arbeit entzogen.
Was den Kampf gegen Geschlechtskrankheiten, Prostitution und "H.w.G."- Personen anging, sah man sich vor dem Dilemma, sich einerseits von faschistischen Willkür-Maßnahmen absetzen zu müssen, andererseits aber in nicht faschistischen Gesetzen keine ausreichende Handhabe zu finden. So boten zwar die Strafbestimmungen des StGB (Strafgesetzbuch) eine Handhabe gegen die "gewerbliche Unzucht", nicht aber gegen die "sexuelle Verwahrlosung". Ähnlich verhielt es sich mit dem 1927 verabschiedeten, im Faschismus durch mehrere Verordnungen ergänzten "Reichsgesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten",14 das zwar geltendes Recht war - die Militärregierungen hatten lediglich einige Zusatzverordnungen aus faschistischer Zeit eliminiert -, das aber nur den Zugriff auf Personen erlaubte, die der Geschlechtskrankheiten und deren weiterer Ausbreitung dringend verdächtigt waren. Es eröffnete keine Möglichkeiten, auch "gefährdete" Personen prophylaktisch in Gewahrsam zu nehmen, sie zwangsweise einer Untersuchung zuzuführen und sie nach der medizinischen Ausheilung in Gewahrsam zu halten. Angesichts der besonderen Problemlagen erschien den Fürsorge-Praktikern und Fürsorge-Funktionären auch das Entmündigungsgesetz im BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) wegen seiner relativ hoch gesteckten Voraussetzungen und der oft langwierigen Verfahrenswege als wenig hilfreich. Schließlich wies auch das RJWG (Reichsjugendwohlfahrtsgesetz) eine empfindliche Lücke auf, da es lediglich die "Erfassung" der bis 18jährigen erlaubte (vgl. den "Prolog" dieses Aufsatzes).
Unter dem Signum "s.", dem gleichen, das Frau Eisenhardt zwischen 1933 und 1936 für ihre Artikel im NDV benutzte, gibt es bereits in der Nr. 1/1946 Vorschläge zur Lösung der Probleme. "Um diesen für die Volksgesundheit sehr bedrohlichen Mißständen zu begegnen, müssen folgende Forderungen erhoben werden", heißt es:

14 Den Text dieser Verordnungen findet man in Zarncke (1940)

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  1. "Erlaß einer Verordnung zur Unterbringung verwahrloster Frauen und Mädchen;
  2. Bereitstellung von Räumen zur Unterbringung von Geschlechtskranken und Krankheitsverdächtigen;
  3. Errichtung von Arbeitserziehungsheimen für über 18jährige vagabundierende Frauen und Mädchen."
"s." kann bereits von einem ersten Vorstoß berichten, einem bayerischen Entwurf, nach dessen Vorschlägen Frauen und Mädchen über 18 Jahre, "die durch ihren Lebenswandel zur Verbreitung von Geschlechtskrankheiten beitragen und damit eine Gefahr für die Volksgesundheit bedeuten oder die sonst verwahrlost sind (Hervorh. J.B.), in einer vom Land als geeignet erachteten Anstalt untergebracht werden. Sie sind dort einer geregelten Arbeit, einem geordneten Leben und einer allgemeinen erziehlichen Beeinflussung zuzuführen." Mit einer solchen Regelung, schreibt "s.", wäre "in einfachster Fassung für einen abgegrenzten Personenkreis das vor 1933 (J.B.) so dringlich geforderte Bewahrungsgesetz geschaffen." Der Aufsatz endet mit dem emphatischen Satz: "Wir brauchen Arbeitserziehung, und wir brauchen ein Recht zum Festhalten, da es sich bei diesen vagabundierenden Frauen und Mädchen um Menschen handelt, die jegliche Bindung an Familie und Heimat, an Sitte und Ordnung verloren haben und freiwillig keine geregelte Arbeit mehr annehmen werden" (NDV 1/1946, S. 12).
Wenngleich auch die Bemühungen um die Novellierung des Geschlechtskrankengesetzes und ein umfassenderes Bewahrungsgesetz weitergehen, konzentriert sich die Diskussion in der amerikanischen und der englischen Besatzungszone zunächst auf das Stichwort "Arbeitserziehung". Im Juli 1946 begann in Hamburg die offiziöse Diskussion um ein Arbeitserziehungsgesetz durch Vorlage einer "Verordnung über die Einrichtung von Arbeitserziehungsheimen" in der "Arbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter". Sie hebt auf die Notwendigkeit der "Nacherziehung" für die "in ihrer geistig-seelischen Entwicklung stehengebliebenen Jugendlichen" ab, stellt aber ebenfalls fest, daß auch junge Erwachsene bis zu 30 Jahren in die Verordnung einzubeziehen seien. Denn diese seien wegen des besonderen Schicksals einer Kriegsgeneration Jugendlichen gleichzustellen, so daß also auch sie "pädagogischer Maßnahmen" bedürften, "auch wenn dies einen Eingriff in die persönliche Freiheit bedeutet" (vgl. NDV 3/46 und 4/46). Im November 46 kommt es in Bremen unter Beteiligung des Deutschen Vereins zu einer Konkretisierung des Vorhabens. Man einigt sich auf einen Entwurf, der Personen beiderlei Geschlechts unter 30 Jahren erfassen soll, die "a) ihre Lebensführung offensichtlich aus strafbaren Handlungen bestreiten oder
b) obwohl arbeitsfähig und bei Arbeitsamt registrierpflichtig, sich einer geregelten Arbeit entziehen oder
c) infolge ihres Lebenswandels zur Verbreitung der Geschlechtskrankheiten beitragen können und damit eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit bedeuten." Einigkeit herrscht während dieser Tagung darin, daß es sich hierbei um eine der besonderen Situation der Nachkriegszeit angepaßte Notverordnung handeln soll und das "Arbeitserziehungsgesetz" so bald als möglich durch ein Gesetz, "wie es die Fachkreise der Fürsorge von 1920-1933 gefordert hatten", abzulösen sei. Ähnliche Diskussionen finden etwa gleichzeitig im Wohlfahrtsausschuß des Länderrats der amerikanischen Zone in Stuttgart statt. In enger Kooperation zwischen den Zonen kommt es hier zu einer "Notverordnung über Arbeitserziehung", die gegenüber den Entwürfen in

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der britischen Zone eine stärkere rechtsstaatliche Absicherung vorsieht, die straffälligen Jugendlichen wegen der Konkurrenz zum Strafgesetz herausnimmt und insgesamt stärker den fürsorgerisch-pädagogischen Charakter der vorgesehenen Arbeitserziehungsheime und den Übergangscharakter betont. Die Jugendlichen, heißt es, sollen wieder zu "ordentlichen und arbeitsfreudigen Menschen werden", und Zwang sei nur so lange erforderlich, wie es ihnen an "eigener Einsicht und Kraft zu einem sozialen Verhalten" fehle. Gegen den Gesetzesentwurf, von dem man hofft, er werde von den Ländern der britischen und der amerikanischen Besatzungszone angenommen, wendet sich einzig das Land Hessen. Neben dem neuralgischen Punkt Zwangserziehung, auch für Erwachsene bis zu 30 Jahren, ist der Kritikpunkt vor allem das Fehlen geeigneten Personals und geeigneter Anstalten. Es besteht ein gewisses Mißtrauen gegen jene, die das Gesetz durchführen sollen. "Es wäre ein großer Unterschied, ob ein Mann wie Pestalozzi oder ein SS-Mann die Durchführung übertragen erhält", heißt es hierzu in einem Protokoll des Wohlfahrtsausschusses, eine Formulierung, die auf das durchaus lebendige Wissen über die Nähe des Entwurfs zur faschistischen Politik verweist. Nach dem Hessischen Einspruch kommen die weiteren Beratungen um das Gesetz nicht mehr recht voran. Eine primär auf "Arbeitsscheue" gerichtete Initiative erübrigt sich nach Währungsreform und Marshallplan zunehmend, da es sich wieder lohnt zu arbeiten.
Die Sorge um jenen Personenkreis, den man seit 1920 im Auge hatte, war damit noch nicht behoben. So meldete sich, laut "Nachrichtendienst" (1948, S. 160f.), Privatdozent Dr. med. Hermann Stutte zur offensichtlichen Freude des Deutschen Vereins (und des AFET, wie aus Stuttes Berufung in den Beirat und später Vorstand der Vereinigung zu erschließen ist) warnend zu Wort. "Zeitbedingte Strömungen", heißt es in dem Bericht, dürften nicht dazu führen, daß "gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse unterbewertet werden", und zu ihnen gehöre nun einmal, daß "das prognostische Urteil auch den erbbiologischen Gesichtspunkten Beachtung schenken muß" (S. 160). Denn Stutte hatte in seiner Untersuchung "Über die Nachkommen ehemaliger Fürsorgezöglinge" - 1944 als Habilitationsschrift vorgelegt - festgestellt, "daß die Gruppe ehemaliger Fürsorgezöglinge in ihrer Gesamtheit eine in erbbiologischer Hinsicht negative Bevölkerungsauslese verkörpert" und daß dies auch für deren Nachkommen und Kinder gelte. Der Jugendpsychiater knüpft daran die Forderung, "den Prozentsatz der Fürsorgezöglinge, die weder durch ihre eigene soziale Leistung noch durch die Qualität der Nachkommen die fürsorgerische Betreuung rechtfertigen, mit Hilfe geeigneter Siebungsmaßnahmen zu verkleinern" (S. 160). Die dann noch mitgeteilten Details, die Warnung vor einem "pädagogischen Allmachtstaumel" und Ausführungen zum ungünstigen prognostischen Wert von "geistiger Minderbegabung, legiert mit Gemütsmangel, Antriebsreichtum oder ausgeprägter Haltschwäche", wiederholen nur alte Argumente, auch seine abschließende Empfehlung, "daß die Ergebnisse der kriminalbiologischen Forschung eine Spezifizierung von FE und Jugendstrafvollzug im Sinne einer den individuellen, intellektuellen und charakterlichen, sozial- und erbprognostischen Gegebenheiten angepaßten 'gestuften' Anwendung von Maßnahmen der Erziehung und solchen der Bewahrung ratsam erscheinen lassen" (a.a.O., S. 16l).15

15Der Originalaufsatz Stuttes erschien unter dem Titel "Über die Nachkommen ehemaliger Fürsorgezöglinge" in: Archiv für Psychiatrie, 1948, S. 395-415. Eine Konkretisierung seiner Vorschläge hin-


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In bewußter Anknüpfung an den Entwurf des Deutschen Vereins von 1925, an jenen, der dann im Faschismus bei Vertretern des Deutschen Vereins als zu rechtsstaatlich in Verruf geriet, bringt wiederum die Zentrumspartei 1951 den Entwurf eines Bewahrungsgesetzes in den Bundestag ein (BtDrs. 2366).16 Nach ihm kann die Bewahrung für über 18jährige mit "krankhafter oder außergewöhnlicher Willens- oder Verstandesschwäche oder Stumpfheit des sittlichen Empfindens, wenn die Verwahrlosung droht oder eingetreten ist und andere Möglichkeiten entweder bereits versucht sind oder nicht zur Verfügung stehen", beschlossen werden. Die Hoffnung eines Schreibers (Soziale Arbeit 1951/52, S. 120), daß "trotz des begreiflichen Widerstandes gegen die Eingriffe in das Recht der Persönlichkeit ein Bewahrungsgesetz, das nach Möglichkeit auch die freiwillige Bewahrung einschließt, diesmal eine Mehrheit im Parlament finden möge, um den Bewahrungsbedürftigen unendlich soziales Leid und der Volkswirtschaft unproduktive Kosten zu ersparen", erfüllt sich allerdings wieder einmal nicht. Gegenargumente werden auch in dieser "Runde" der Diskussion vor allem von der Arbeiterwohlfahrt vorgebracht. So weist, freilich auch sie mit gewissen historischen Verfälschungen, Emma Schulze vom Bundesvorstand der Arbeiterwohlfahrt darauf hin, daß die von "in fortschrittlicher Sozialarbeit führenden Persönlichkeiten wie Professor Polligkeit und Hilde Eiserhardt" maßgeblich beeinflußte Diskussion zwischen 1930 und 1945 nicht mehr offiziell behandelt wurde, weil die Millionen von unter dem Existenzminimum lebenden Menschen in der Weimarer Zeit im "Großmaßstab bewiesen" hätten, daß "Verwahrlosung als Folge materieller Not ... als Bewahrungsgrund ausscheidet" (Schulze 1950/51, S. 159ff.). Das nationalsozialistische Regime habe zudem viele Möglichkeiten eröffnet, ihre Abwegigkeiten innerhalb der geltenden Ordnung auszuleben (ebd., S. 160). Ihr Hauptargument gegen ein Bewahrungsgesetz ist jedoch, daß es neue, aus Amerika bekannte Methoden gebe, auch ohne Zwang mit den entsprechenden Personen umzugehen. "Ehe wir ein Bewahrungsgesetz fordern, sollten wir den Begriff 'Geisteskrankheit' dem Stand der modernen Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie anpassen, unsere Heil- und Pflegeanstalten in Kliniken für psychisch Kranke umwandeln, das Einweisungsverfahren entsprechend abändern und vereinheitlichen und das Entmündigungsverfahren vermenschlichen" (ebd., S. 163). Während diese Argumentation noch darauf abzielt, daß - wegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse - die Grenzen der Unerziehbarkeit enger geworden seien und also deutlicher nach Alternativen zur Bewahrung gesucht werden könne, schiebt die Autorin in einem weiteren Aufsatz ein weit gewichtigeres Argument nach. Es heißt dort:
"Solange der Begriff der Verwahrlosung in der Vorstellung der Allgemeinheit in der Nähe von Unrecht und Schuld steht, wird immer die Versuchung bleiben, Verwahrlosung zu unterdrücken, dem Anblick der Öffentlichkeit zu entziehen, Symptome zu kurieren, anstatt ihre Ursachen zu erforschen und abzustellen" (Schulze 1952). Ob das Gesetz wegen solcher Argumente zu Fall kam, muß freilich bezweifelt werden. Gewichtiger jedenfalls waren die alten Probleme hinsichtlich der Abgrenzung
sichtlich der Gestaltung der Fürsorgeerziehung findet sich in einem gemeinsamen Aufsatz Villingers und Stuttes im "Nervenarzt", Juni 1948 (Näheres in Blandow 1986, S. 85ff.).

16Die gesetzlichen Vorarbeiten gehen auf einen Initiativantrag der CDU/CSU vom Dezember 1949 zurück. Weitere Vorarbeiten Ingen vom AFET, dem Deutschen Caritasverband, dem Bund Evangelischer Frauen und dem Berufsverband katholischer Fürsorgerinnen vor (vgl. Klein 1952).

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des Personenkreises und Probleme rechtsstaatlicher Garantien gegen Mißbrauch. Eine bedeutsame Rolle dürfte auch gespielt haben, daß man zwischenzeitlich auch wieder anderweitig "Zugriff" nehmen konnte. So erließ Bayern 1952 ein "Gesetz über die Verwahrung geisteskranker, geistesschwacher, rauschgift- oder alkoholsüchtiger Personen", das auf "gemeingefährliche und selbstgefährliche" Personen abhob, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdeten (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Ausgabe A Nr. 14, 7.5.1952; ein ähnliches Sondergesetz auch in Niedersachsen). Das Strafgesetzbuch eröffnete weiterhin die Möglichkeit der Einweisung in ein Arbeitshaus, gerichtet im wesentlichen gegen Kleinkriminelle "H.w.G.-Personen" und "Landstreicher" (vgl. Röhr 1972). Das am 23. Juli 1953 neu erlassene "Geschlechtskrankengesetz" gab wiederum die Möglichkeit zur Zwangsunterbringung eines weit gefaßten Personenkreises, der sich den Vorschriften nicht freiwillig fügte. Aufgegeben war der Kampf um die Bewahrung damit noch immer nicht. Stutte, - bis zu seinem Tode im Jahre 1982 als Vordenker für eine moderne Jugendfürsorge gefeierter Ehrenvorsitzender des AFET (Nachruf im Mitgliederrundbrief des AFET Juni 1982) - versucht im Jahr 1959 noch einmal, die Diskussion um die Bewahrung Jugendlicher über eine Diskussion von "Unerziehbarkeit" neu zu beleben. Sein Plädoyer für Sonderanstalten für die "praktisch Unerziehbaren (Bewahrungsbedürftige)" lautet:
"Auch für diese Jugendlichen ist eine von den erziehungsfürsorgerischen Grundgedanken des JWG geleitete sonderpädagogische Betreuung erforderlich. Sie gehören nicht - auch wenn Morbiditätsfaktoren ihre Persönlichkeit mitgeprägt haben - mit Geisteskranken und pflegebedürftigen Schwachsinnigen zusammen untergebracht. Sie sollen wegen ihrer 'asozialen Infektiosität' aber tunlichst möglichst früh von erziehungsprognostisch günstig zu beurteilenden Schwererziehbaren getrennt werden. Für sie sollten Sonderabteilungen oder - besser - spezielle Heime geschaffen werden mit Möglichkeiten zur Arbeitstherapie, aber auch zur heilpädagogisch orientierten Individualbehandlung und selbstverständlich auch zu bewahrender Absonderung" (Stutte 1959, S. 69).
Gelernt war immerhin worden, "asoziale Infektiosität" in Anführungsstriche zu setzen. Erst nach 1969, der Strafrechtsnovelle, wurde der bis dahin am häufigsten angewandte Typus des faktischen Bewahrungsheims, das Arbeitshaus, per Gesetz abgeschafft.

6. Zweites Resümee zur Frage der Kontinuität

1) Das auffälligste Ergebnis zum Übergang Faschismus-Nachkriegsperiode ist die Leugnung von Kontinuitäten zwischen den Debatten und Praktiken vor und nach 1933. Nicht als 'Verdrängung', sondern mit bewußten Lügen und strategischer Geschichts-Kittelei wird der Faschismus als das "ganz andere" charakterisiert. 2) Die Debatten um die Praxis der Bewahrung im Faschismus werden von repräsentativen Verbänden und Personen der Wohlfahrtspflege als fehlgeschlagene Versuche der gesetzlichen Verankerung eines Bewahrungsgesetzes und einer Sicherung des Arbeitsfeldes betrachtet. Die sogleich einsetzenden neuen Diskussionen müssen als Versuch gewertet werden, die schon zweimal vertane Chance unter Ausnutzung der spezifischen Nachkriegsbedingungen erneut zu ergreifen. Von besonderer Pikanterie dabei ist, daß die - noch wenige Jahre vorher von allen Zweigen der Fürsorge selbst mitgetra-


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genen, durchgesetzten, jedenfalls tolerierten faschistischen Praktiken und Ideologien -, jetzt als Ursache für eine neue Welle der "Verwahrlosung", die zum Eingreifen zwingt, interpretiert werden.
3) Die inhaltlichen Auseinandersetzungen um Arbeitserziehung, Bewahrung und Geschlechtskrankengesetz erfolgen in den gleichen Konstellationen wie schon in der Weimarer Republik und mit Argumenten, die auch noch im Faschismus benutzt wurden. Die/der Verwahrloste/Asoziale bleibt ein "Element", daß es zu isolieren gilt, dessen Arbeitskraft zu verwerten Wohlfahrtsverbände und Staat zum Schutz der Betroffenen, der "Volksgemeinschaft" und aus Gründen der Staatsräson verpflichtet sind. Nicht dies ist - in den ersten Nachkriegsjahren - umstritten, sondern wiederum die Frage der rechtlichen Ausgestaltung und der Abgrenzung zu anderen Sanktionsbereichen.
4) Die gemeinsame Front gegen die Verwahrlosten/Asozialen wird erst Mitte der 50er Jahre aufgebrochen. Hintergrund hierfür sind: die Hoffnung auf neue, Repression überflüssig machende Methoden; die allmähliche institutionelle Ausdifferenzierung den Wohlfahrtswesens, die auch nicht repressiven Maßnahmen außerhalb der Anstalten Ressourcen und Prestige sichert; die mit ökonomischer und politischer Restauration verbundene Entkrampfung der Probleme in quantitativer Hinsicht; schließlich partei-, wohlfahrts- und gesellschaftspolitische Polarisierungen. Der zu Beginn des Jahrhunderts vorherrschende pädagogische Optimismus wird in dieser Situation von Teilen der Wohlfahrtspflege neu belebt.
5) Der neue "pädagogische Optimismus" wurde von jenen, die mit ihm auch ihr Arbeitsgebiet bedroht sahen, insbesondere den Repräsentanten der Anstaltserziehung durch die Neubelebung des Gedankens der "Grenzen der Erziehung" beantwortet. Daß hierzu noch einmal auch biologistische und sozialdarwinistische Ideen aus der Schublade gezogen werden, deutet in dieser Situation bereits auf ein verzweifeltet Rückzugsgefecht hin. Aber erst das Programm der politischen und ökonomischen Modernisierung der Bundesrepublik seit Mitte der 60er Jahre entzog solchen Argumenten (vorläufig) den Boden.

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