Wilhelmsburg: Der Arbeitstag eines Sozialarbeiters
Wilhelmsburg: Der Arbeitstag eines Sozialarbeiters
Die alltägliche Liste des Schreckens
Von Rebecca Kresse 26. Mai 2009, 02:54 Uhr
Häusliche Gewalt, Verwahrlosung, sexueller Missbrauch: Die Sozialarbeiter müssen jeden einzelnen Verdacht prüfen. Oft fühlen sie sich überfordert, denn Woche für Woche kommen fast 50 Fälle hinzu. Die kleine Lara war einer von ihnen.
Wilhelmsburg
Eine Hochhaus-Fassade in Wilhelmsburg: In diesem Teil der Stadt wollen offenbar nicht viele Sozialpädagogen arbeiten. Vier neu geschaffene Stellen im Jugendamt sind unbesetzt mangels Bewerbern.
Foto: Katrin Neuhauser
"Super! Ich bin begeistert." Fast hätte es Thomas Kiendl geschafft, seinen Arbeitstag beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) in Wilhelmsburg mit diesem Gefühl und mit einem Erfolgserlebnis zu beenden. Fast. Denn kurz bevor er seinen Computer ausschaltet, bekommt er noch eine Email. Die vierjährige Leni*, die er vor einigen Monaten in einer Pflegefamilie untergebracht hat, ist sexuell missbraucht worden - vom Lebensgefährten der leiblichen Mutter. In wenigen Zeilen wiederholt die Pflegemutter das, was die Kleine ihr in kindlich naiven Formulierungen erzählt hat. Die Details, die sich in diesen Beschreibungen offenbaren, sind bar jeder Vorstellung und lassen fassungslos zurück. Die Mail hat nur wenige Zeilen. Nur wenige Zeilen, die ein zerstörtes Kinderleben beschreiben.
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Rückblick: Dienstbeginn 9 Uhr, Reinstorffweg 12 in Wilhelmsburg. Wer es nicht weiß, vermutet den ASD dort nicht - zwischen Post und Discounter in einem zweigeschossigen Flachdach-Haus aus grauem Waschbeton. Nur ein kleines blaues Schild am Seiteneingang weist auf das Jugend- und Sozialdezernat des Harburger Bezirksamts hin. Seit fünf Jahren ist hier der Arbeitsplatz von Thomas Kiendl. Vorher war der 54-jährige Diplom-Sozialpädagoge bei der Jugendgerichtshilfe in Wilhelmsburg, anschließend Straßensozialarbeiter in Kirchdorf-Süd. Kiendl hat Erfahrung, kennt die Klientel.
Er hat sich für heute eine "To-Do-Liste" gemacht mit den Dingen, die besonders dringend sind. Das Problem in seinem Job: Fast alles ist dringend. Kiendl betreut zurzeit 95 Fälle, 40 sind eigentlich erlaubt. 95 Klienten, wie es im offiziellen Behörden-Jargon heißt. Jeder Klient ist ein Kind, ein Jugendlicher, eine meist kaputte Familie.
Die meisten dieser Klienten sieht Kiendl nicht mehr selbst, manche ein- bis zweimal im Jahr. Vor zwei Jahren hat sich alles geändert. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Betreuungssystem von der Sozialbehörde neu organisiert. Stichwort: Effizienz.
Seitdem arbeitet Kiendl offiziell als Fall-Manager. Betreute er die Jugendlichen früher noch selbst, ist er jetzt dafür zuständig, die richtigen Hilfen zu veranlassen und freie Träger für die Betreuung vor Ort zu finden. Sie sind es jetzt, die den direkten Kontakt zu den Kindern und Familien halten. Auf ihren Bericht sind die Jugendamtsmitarbeiter angewiesen. Anders funktioniert das System nicht.
Bevor Kiendl an diesem Morgen seine Liste überhaupt in die Hand nimmt, hat das Telefon schon viermal geklingelt. Anfragen, Absprachen, Termine im Minutentakt - Alltag für Kiendl und normal für einen Montagmorgen. Sein Arbeitstag ist kaum planbar. Das sieht man auch an seinem Büro. Der Raum ist nur spärlich eingerichtet. Ein Eckschreibtisch, ein Aktenschrank, ein Regal, ein Konferenztisch mit vier Stühlen. Das war's. Auf jedem Tisch, in jedem Regal, auf jeder Ablagefläche liegen ungezählte Akten.
In Kiendls Fach im Geschäftszimmer liegt die Meldung eines freien Trägers. "Ich habe einen schwer gestörten Jungen in Polen untergebracht", sagt er. Nun gibt es einen "Vorfall". Gemeinsam mit zwei anderen hat der Junge ein Mädchen aus der Einrichtung überfallen und krankenhausreif geschlagen. "Sein Vater hat ihn als Kleinkind vergewaltigt und anderen Männern aus dem Bekanntenkreis zugeführt", versucht Kiendl zu erklären. Die Folge: Dem Jungen fehlt jedes Urvertrauen. Er kann seine Emotionen nicht kontrollieren, wenn man ihn festhält, flippt er aus. Der Junge hat schon in vielen Einrichtungen in Hamburg gelebt. In keiner war er tragbar, weil er zu spontanen Gewaltausbrüchen neigt. "Wir haben uns entschlossen, ihn in Polen unterzubringen." Auch wenn es kaum noch Auslandsunterbringungen gibt, weil dies "politisch nicht mehr gerne gesehen" ist. In dem Fall sei es die einzige Möglichkeit gewesen.
Trotzdem macht Kiendl sich Gedanken. "Wenn da richtig was passiert, etwas das durch die Medien geht, machen die mich dafür verantwortlich, und darauf habe ich keine Lust." Der 54-Jährige spuckt diese Worte regelrecht aus. Sie zeigen das Dilemma seines Berufs und den Frust, der in ihm und in vielen seiner Kollegen steckt. Pädagogisch steht er voll hinter der Maßnahme. "Aber wir kommen mittlerweile in eine Situation, in der wir auch fragen müssen, wie wir uns selbst schützen", sagt Kiendl.
Kein Wunder, dass er so denkt. Das Büro seines Kollegen auf der anderen Seite des Flurs steht zurzeit leer. Es ist der Pädagoge, der den Fall des toten Babys Lara betreut hat. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung. Ein Untersuchungsbericht der Behörde sieht die Verantwortung für den Tod des Babys beim ASD-Mitarbeiter und der Betreuerin des freien Trägers. "Wenn etwas passiert, muss man damit rechnen, dass keiner hinter einem steht. Das haben wir beim Fall Lara gesehen", sagt Kiendl und spricht damit aus, was jeder seiner Kollegen in Wilhelmsburg denkt. Spätestens seit Lara haben die Mitarbeiter bei allem, was sie tun, den Staatsanwalt im Hinterkopf. Praktisch bedeutet das, jedes Telefonat zu einem Fall, jeder Handschlag, jede Absprache mit Kollegen wird in der Akte vermerkt. Noch mehr Schreibarbeit für die Sozialarbeiter, noch weniger Zeit für die Klienten.
Eine weitere E-Mail geht ein. Kurz umreißt Kiendl den Fall: "Eine 17-Jährige, zahlreiche Selbstmordversuche, zusätzlich verletzt sie sich selbst - Borderlinerin. Zurzeit liegt sie im AK Harburg in der Psychiatrie. Die Ärzte wollen sie entlassen. Zur Mutter zurück kann sie nicht, die ist überfordert." Kiendls Auftrag: eine Einrichtung mit therapeutischer Betreuung zu suchen, wo das Mädchen wohnen kann. Keine leichte Aufgabe, denn es gibt nur wenige freie Plätze. Dann die Nachricht: "Wir haben wahrscheinlich einen Platz gefunden. Ich bin begeistert. Das stand auf meiner Liste ganz oben", sagt Kiendl. Er ist unter Zeitdruck, weil die Ärzte auf die Entlassung des Mädchens dringen. "Ich kann leider nicht groß nach Qualität gucken, sondern muss schnell eine Lösung finden." Grund: die hohe Anzahl der Fälle.
Den großen Anstieg der Fallzahlen nennen die Kollegen in Wilhelmsburg den "Jessica-Effekt". Seit die 7-Jährige aus Jenfeld 2005 - von ihren Eltern in einem Kinderzimmer eingesperrt - verhungert ist, haben die Meldungen zugenommen. Jede einzelne Meldung muss überprüft, eine Notiz gemacht, über jeden Fall eine Akte angelegt werden. Beim ASD sammelt sich alles, denn jeder darf sich an den ASD wenden.
"Wir müssen jeden Fall bewerten", sagt Sozialpädagogin Maike Kampf. Sie arbeitet im sogenannten Eingangsmanagement. Auf ihrem Tisch landen alle neuen Fälle. Pro Woche sind das rund 30 bis 50. 30-50-mal muss sie vom Papier aus entscheiden, was zu tun ist. Ob sie sofort aktiv werden muss, wenn das Kindeswohl gefährdet ist oder die Akte zunächst in die Warteschleife geht. Und die wird immer länger. Allein in den vergangenen Monaten hat sich eine Rückstandsliste mit fast 80 Fällen aufgebaut. Auf der Liste reiht sich ein Name an den nächsten - Kinder, Jugendliche, von drei Monaten bis 18 Jahren. Es ist eine Liste des Schreckens: Zwangsverheiratung, häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Verwahrlosung, Überforderung, psychische Erkrankungen, Amok-Androhung, sexueller Missbrauch, Drogen, kindeswohlgefährdendes Übergewicht. Dringend bräuchten die Kollegen personelle Unterstützung. Aber der ASD-Wilhelmsburg hat ein Problem: Vier neu geschaffene Stellen sind unbesetzt. Bewerbungen gibt es nicht. Neue Kräfte scheuen die Arbeit in diesem Teil der Stadt.
Zwei Stunden später, in Thomas Kiendls Büro: Erneut gerät sein Arbeitsplan ins Stocken.
Manuela* kommt mit ihren zwei kleinen Kindern in sein Büro. Kiendl betreut die junge Mutter seit Jahren, kennt die Familie noch aus seiner Zeit als Straßensozialarbeiter. Die komplette Familie wird im Hilfesystem betreut. Manuela hat Streit mit Oma, Tante, Onkel. Es geht um Verleumdung, üble Nachrede. Nichts Ungewöhnliches für Wilhelmsburg und das sogenannte bildungsschwache Klientel. Kiendl muss die Situation bewerten, muss klären, ob die Mutter und ihre junge Familie mit den gewährten Hilfen zurechtkommen. Eine zweite, fallfremde Jugendamtsmitarbeiterin ist für den objektiven Blick mit dabei, außerdem Manuelas Betreuerin. Sie ist regelmäßig vor Ort in der Familie, betreut, hilft, wo sie kann und wo es nötig ist, behält alles im Auge. Auf ihren Bericht muss sich das Jugendamt verlassen.
Schon beim Mittagessen ahnt Thomas Kiendl, dass der geplante Hausbesuch auf der Strecke bleiben wird - wieder einmal. Die Zeit reicht einfach nicht. Er wird recht behalten. Es folgen Hilfegespräche, Verfügungen, Akteneinträge. Mitten drin erreicht ihn ein Fax: Christian*, 14 Jahre, ist aus einer Jugendeinrichtung in Kiel abgehauen. Er versucht, den Jungen zu erreichen. Die Handynummer gibt es nicht mehr. Kiendl lässt nicht locker, versucht die Mutter zu erreichen. "Vielleicht weiß sie etwas oder der Junge ist auf dem Weg zu ihr", sagt Kiendl. Er erreicht den Träger, der die Mutter in Hamburg betreut. Die Mitarbeiter machen sich direkt auf den Weg. "In 15 Minuten sind sie bei ihr", sagt Kiendl. Trotzdem macht er sich Gedanken. Es passiert oft, dass er Fälle mit nach Hause nimmt, er mitten in der Nacht aufschreckt und überlegt, ob er nicht irgendetwas Wichtiges vergessen hat. Oft bleibt dieses ungute Gefühl, dass etwas passieren kann. Kiendl und seine Kollegen wissen, dass sie nicht alles verhindern können, dass immer irgendetwas passieren kann. Trotzdem versuchen sie es, jeden Tag. Auch bei Leila*. Das 18-jährige Mädchen steckt mitten in einem sogenannten interkulturellen Konflikt. Sie will leben wie eine Deutsche. Ihr Vater will das nicht, und das macht er deutlich. Die Folge des jahrelangen Konflikts: Leila hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich - von einer versuchten Vergiftung, indem sie Zigaretten aß, bis hin zum Erhängen. "Eigentlich ein nettes Mädchen", sagt Kiendl, "aber in ihrer Familie ist sie fast irre geworden." Er muss eine Liste zusammenstellen mit möglichen Einrichtungen für Leila. Auch ein Fall, der ihn nicht loslässt. Auch ein Fall, der "dazwischen" kommt an diesem Montag. Zum Dienstschluss hat Kiendl nur einen Bruchteil von dem geschafft, was er eigentlich wollte. Seine Liste wird ihn wohl die ganze Woche begleiten. Für jeden Fall, den er wegstreichen kann, wird mindestens eine neue dringende Sache hinzukommen. Am Ende doch noch die freudige Botschaft: Die 17-jährige Nadine* wird sich in wenigen Tagen in einer betreuten Wohngemeinschaft vorstellen. Ihre Zukunft scheint für die nächste Zeit gesichert. Die Antwort auf die Mail fällt kurz aus: Super!, schreibt Kiendl und freut sich sichtlich über den Erfolg - nicht für sich, sondern für Nadine.
Und dann - dann erfährt er von Leni ...
* (Namen geändert)
https://www.abendblatt.de/hamburg/article1028151/Die-alltaegliche-Liste-des-Schreckens.html