Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen - Suchtkranke Eltern

Ich war die Mutter meiner Mutter

Ich war die Mutter meiner Mutter

EXTRA: Wege aus der Sucht

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Kinder von Drogenabhängigen

"Ich war die Mutter meiner Mutter"



© Colourbox
Bis zu 60.000 Kinder wachsen bei drogenabhängigen Eltern auf

Von Nana Gerritzen

40.000 bis 60.000 Kinder wachsen bei Eltern auf, die auf Droge sind. Eines davon war Hermine Reichau: Als kleines Mädchen ging sie betteln, damit ihre Mutter Geld für die nächste Heroin-Spritze hat. Doch Reichau, inzwischen 32, hat aus ihrer Vergangenheit Konsequenzen gezogen.

Hermine Reichau ärgert sich, wenn ihre neunjährige Tochter die Nase rümpft, weil sie einen Bettler auf der Straße sieht. Als kleines Mädchen bettelte Reichau selber. Am Berliner Ku'Damm schnorrte sie Passanten an, damit ihre Mutter sich Heroin kaufen konnte. Irgendwann kam die Mutter nicht in die Kommune, in der beide lebten, zurück. Stattdessen kam nach ein paar Tagen der Großvater und holte die damals Siebenjährige ab. Sie fahre in die Ferien, erzählte er ihr. Dass sie ihre Mutter nie wieder sehen würde, weil diese an einer Überdosis gestorben war, erfuhr Hermine Reichau erst viel später.
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Fast jedes sechste Kind in Deutschland lebt in einer suchtbelasteten Familie. Laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Sabine Bätzing (SPD), gibt es in Deutschland 40.000 bis 60.000 Kinder, die bei drogenabhängigen Eltern aufwachsen. Hinzu kommen rund 2,6 Millionen Kinder, deren Mütter oder Väter alkoholkrank sind. "Hilfestrukturen für diese Kinder sind in Deutschland allenfalls in ersten Ansätzen vorhanden", kritisiert Henning Mielke von Nacoa, einem Verein, der sich für die Belange von Kindern Suchtkranker stark macht.

Während es für Suchtkranke zahlreiche Angebote und Selbsthilfegruppen gebe, stünden Angehörige und besonders Kinder von Abhängigen meistens alleine da. "Die Verantwortlichkeit für diese Kinder wird hin und her geschoben, sowohl zwischen Bund und Ländern als auch zwischen den einzelnen Ministerien", so Mielke. Dabei bräuchten gerade diese Kinder verstärkt Unterstützung - und die kostet nun mal Geld. Studien zufolge wachsen nur rund 30 Prozent der Kinder in suchtbelasteten Familien relativ unbeschadet auf. Die verbleibenden zwei Drittel suchen sich später einen abhängigen Lebenspartner oder fallen selber in eine Sucht, so dass sich das Leid ihrer Jugend für die eigenen Kinder wiederholt.

Patenschaft von Kind zu Kind
Auch Hermine Reichau beschäftigt ihre Vergangenheit bis heute. "Ich war eigentlich die Mutter meiner Mutter", sagt die inzwischen 32-Jährige. In einem Alter, in dem Kinder von Eltern umsorgt werden sollten, sei sie manchmal tagelang auf sich gestellt gewesen. Um mit anderen großgewordenen Kindern aus Suchtfamilien Erfahrungen auszutauschen, hat Reichau im vergangenen Jahr das Online-Portal www.ekinda.de ins Leben gerufen. Hier können sich Betroffene und deren Angehörige austauschen und gegenseitig unterstützen.

Darüber hinaus möchte Reichau in naher Zukunft ein Patenprojekt aufbauen. Die Idee ist es, Erwachsene, die in Suchtfamilien aufgewachsen sind, und Kinder, die heute bei abhängigen Eltern groß werden, miteinander zu vernetzen. "Die betroffenen Kinder hätten dann Gesprächspartner, die wirklich wissen, wie ihnen zumute ist", so Reichau. Und auch erwachsene Betroffene könnten von dem Dialog profitieren. Das Trauma, als Kind in einem Alkoholiker- oder Drogenhaushalt aufzuwachsen, höre nicht automatisch auf, nur weil man erwachsen wird, erklärt sie. Trotzdem sei sie froh, bei ihrer Mutter gelebt zu haben. "Kinder pauschal aus suchtbelasteten Familien herauszunehmen, kann auch keine Lösung sein."


© Hermine Reichau/privat
"Ich war die Mutter meiner Mutter": Hermine Reichau, Betroffene und Gründerin von ekinda.de

"Größte Horrorvorstellung"
Dieser Ansicht ist auch Carola Fry von Wigwam, einer ambulanten Familienhilfe für Familien mit Suchtproblemen in Berlin. "Es ist aber wichtig, möglichst früh mit den betroffenen Eltern zu arbeiten, bestenfalls schon vor der Geburt eines Kindes", sagt Fry. Besonders schwere Fälle kriegen mitunter täglichen Besuch von den Familienhelfern. "Das kann insbesondere bei sehr kleinen Kindern lebenswichtig sein", weiß Fry.

Erst im vergangenen Dezember war in Berlin-Charlottenburg das sechs Wochen alte Baby einer Drogenabhängigen verstorben. Die 26-Jährige hatte sich schon während der Schwangerschaft ans Jugendamt gewendet und um Unterstützung gebeten. Nach der Geburt kam einmal in der Woche eine Jugendamts-Mitarbeiterin in die Wohnung. Außerdem nahmen Mutter und Kind regelmäßig Termine im Amt wahr. Doch trotz dieser intensiven Betreuung fielen das kleine Mädchen und seine Mutter durch die engen Maschen der Jugendhilfe. Zwischen zwei Jugendamtsbesuchen Ende November und Anfang Dezember lagen knapp zehn Tage. In diesem Zeitraum muss sich die junge Frau eine Überdosis Rauschgift verabreicht haben und starb. Das hilflose Baby blieb alleine zurück. Als das Jugendamt einen Tag nach dem ausgemachten Termin die Tür aufbrach, war auch das Kind tot, verdurstet. "Was da passiert ist, ist unsere größte Horrorvorstellung", sagt Fry über den Vorfall.

Abgesehen von ihrem Engagement für das Ekinda-Onlineportal spielen Drogen in Hermine Reichaus Leben keine Rolle mehr. Die Geschichte ihrer Kindheit wird sich für ihre eigenen Kinder, einen Sohn und eine Tochter, nicht wiederholen. Damit gehört sie zu den Wenigen, die ihre schlimmen Kindheitserfahrungen, in einer suchtbelasteten Familie aufzuwachsen, nicht zur eigenen Zukunft machen. Reichau lebt heute in Frankfurt am Main und promoviert gerade im Fach Physik. Und auch wenn sie selbst nie erfahren hat, wie eine harmonische Familie funktioniert, wachsen ihre Kinder sehr behütet auf. So sehr, dass sie nicht nachvollziehen können, was ihre Mutter mit einem herunter gekommenen Bettler gemeinsam haben soll.



Artikel vom 01. März 2008
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