Zauberwaldverein e.V. - Erziehung

Mama, ich zersäge dich

Mama, ich zersäge dich



Berliner Zeitung, Magazin
Samstag, 05. März 2005

Mama, ich zersäge dich

Der Erziehungsberater Jan Uwe Rogge über überforderte Eltern, die Super Nanny, selbst ernannte Mütter Teresa und das moderne Leben ohne Rituale


Herr Rogge, deutsche Eltern laufen in Massen in Erziehungsseminare, und eine der erfolgreichsten Sendungen im deutschen Fernsehen heißt "Super Nanny". Ist bei uns der Erziehungsnotstand ausgebrochen?

Es ist kein Notstand, wir haben eine Verunsicherung über das, was richtig ist. Die gab es aber zu allen Zeiten. Mir sind Eltern, die nachdenken und in Bewegung sind, lieber als die, die alles schon genau zu wissen meinen.

Offenbar suchen viele dieser Eltern bei Ihnen Rat - die Gesamtauflage Ihrer Bücher liegt bei 1,6 Millionen, und Ihre Veranstaltungen sind überlaufen.

Ich nehme die Eltern ernst, ohne es ernst zu machen. Eltern können ihre Kinder nur annehmen, wenn sie sich selber angenommen fühlen. Eltern können mit ihren Kindern nur lachen, wenn sie selber lachen. Es gibt den Satz des römischen Philosophen Seneca: Es ist des Menschen würdiger, sich lachend mit dem Leben zu beschäftigen, als es ständig zu beweinen.

Dabei scheint Erziehung ein ungeheuer schwieriges und sorgenbeladenes Geschäft zu sein.

Manchmal beginne ich meine Vorträge, indem ich sage: "Wir haben uns heute zu einem wirklich schwierigen Thema zusammengefunden, und ich bin auch eigentlich ganz traurig und fertig, und ich habe ein bisschen grünen Tee mitgebracht, den ihr dann am Eingang einnehmen könnt ..." Man muss diese Verunsicherung zwar ernst nehmen. Aber dann muss man in die Verunsicherung Balken einbauen. Einer dieser Balken ist, dass die Eltern gemeinsam lachen, so dass sie das Gefühl haben, nicht alleine zu stehen.

Die Eltern haben offenbar Angst, Fehler zu machen.

Es ist mir wichtig, dass Eltern in den Spiegel gucken können und sich mögen, auch wenn sie mal Fehler machen. Es gibt Tage, da möchte man nicht aufstehen. Da kann man dann schon mal sagen: Heute kriege ich den pädagogischen Oscar nicht. Ist auch okay.

Ihr erfolgreichstes Buch: "Kinder brauchen Grenzen" wird oft mit dem Gedanken zusammengefasst: Eltern müssen strenger werden.

Meine Bücher werden gekauft, aber häufig nicht gelesen. In den ersten fünf Kapiteln des Buches schreibe ich nichts über Technik - ich schreibe etwas über Haltung. "Kinder brauchen Grenzen" heißt: Kinder brauchen Räume und Zeit, sich zu entwickeln. Statt sich damit zu beschäftigen, gucken viele Leser als erstes ins Kapitel "Aufräumen". Ich habe auf das Buch Tausende von Briefen bekommen, den schönsten von einem 11-jährigen Jungen. Er schrieb: "Lieber Herr Rogge, das ist ein Scheißbuch. Du hast die Tricks von uns Kindern einfach verraten. Aber ich habe mir neue ausgedacht. Und die verrate ich dir nicht."

Nun versuchen die Eltern aber auch, sich Tricks anzueignen. Viele haben mittlerweile ihren Triple-P-Kurs - Positive Parenting Program - hinter sich, der stark mit ritualisierten Erziehungsmethoden arbeitet.

Es gab immer Erziehungstechniken. Die sind notwendig. Aber: Techniken tun häufig weh. Und sie sind verbunden mit der Gefahr des Scheiterns. Paul Watzlawick hat mal gesagt: In einem Problem ist sowohl die Sache als auch die Beziehung enthalten. Eine Technik reduziert jedes Problem auf die Sache. Sehr häufig steckt aber hinter einer Sache ein Beziehungsproblem. Erziehung hat immer etwas mit Zumutung gegen sich und an das Kind zu tun. Und Zumutungen im guten Sinne sind dann auszuhalten, wenn gegenseitiger Respekt da ist. Ansonsten wird Technik blutleer und lieblos.

Das heißt, man sollte solche Methoden nicht anwenden?

Wenn die Techniken eingebettet sind in eine humanistische Konzeption des sich Akzeptierens und Annehmens, kann man sie anwenden. Wenn sie nicht eingebettet sind, werden sie seelenlos. Denn was macht eine Mutter, die eine Technik anwendet, und das Kind tut nicht, was sie will? Entweder bestraft sie das Kind dann doch. Oder sie hat das Gefühl zu scheitern. Nehmen wir zum Beispiel die Geschwisterrivalität. Der Große behandelt den Kleinen nicht besonders nett und schlägt ihn sogar mit einem Bauklotz. Und dann setzen sie ihn auf einen stillen Stuhl. Der überlegt auf dem stillen Stuhl doch, wie er seinen kleinen Bruder heimlich strafen kann.

Und dann?

Die wichtigere Frage ist: Was hat ein Kind davon, wenn es stört? Früher hat man gedacht, man muss nur lange genug mit dem Kind reden und irgendwann sagt es dann: ,Tschuldigung, war auch wirklich doof, ich werde wieder brav sein.' Aber so ist es eben nicht. Es gibt viele Kinder, auch schon im Kindergartenalter, die kein Interesse an einem sozial angemessenen Verhalten haben. Weil sie wissen: Nur wenn ich störe, stehe ich im Mittelpunkt.

Was soll man dann tun?

Sich fragen: Warum hat ein Kind Interesse daran zu stören. Und dann den Satz zu beherzigen: Tue nicht mehr von dem, was nicht funktioniert. Sondern tue dann etwas Anderes. Wenn ein Schlosser vor einer verschlossenen Tür steht und einen Schlüssel ausprobiert, der nicht passt, probiert er nicht immer weiter denselben Schlüssel aus. Sondern er lächelt und nimmt einen anderen Schlüssel. Und wenn der nicht passt, den nächsten. So ist pädagogisches Handeln. Es gibt Tage, da geht gar nichts. Und es gibt Phasen wie das Trotzalter und die Pubertät, da kannst du als Eltern nur noch sagen: Es gibt Licht am Ende des Tunnels. Und hoffen, dass das nicht der entgegenkommende Zug ist.

Bleiben wir noch einen Moment bei Erziehungsmethoden - was halten Sie eigentlich von der "Super Nanny"?

Es ist gut, dass Erziehung wieder öffentlich wird und dass Erziehung diskutiert wird - dazu tragen solche Sendungen wie die "Super Nanny" durchaus bei. Ich hätte mir bei diesen Sendungen gewünscht, sie hätten die Seriosität ihrer Vorbilder bei der BBC. Bei uns ist es auf Krawall reduziert worden. Die Familien, die dort vorgeführt werden, brauchen keine Beratung, sie brauchen eine Therapie. Und genauso sind sie offensichtlich ausgesucht worden. Wenn eine verantwortungsbewusste Beraterin so eine Familie gesehen hätte, hätte sie sofort die Kameras abgeschaltet. Hier wird ein niederer Instinkt der Zuschauer bedient. Es ist wie bei den Unfall-Gaffern auf der Autobahn, nach dem Motto: Gott sei Dank ist mir das nicht passiert.

Man fühlt sich automatisch als kompetente Eltern, schon weil man am Tisch isst.

Diese Familien hätte man schützen müssen und nicht wie in einem Zirkuszelt der Öffentlichkeit preisgeben dürfen. Es ist verantwortungslos. Das muss man dieser Sendung vorwerfen. Und: In dieser Sendung fehlt Haltung. Die Techniken sind ja nicht alle schlecht, die da gezeigt werden.

Den Nannys fehlt die Haltung? Warum?

Weil ein guter Berater mit den Ressourcen und Kompetenzen der Familie arbeitet. Er fragt, was bisher funktioniert hat und was nicht, und verstärkt die positiven Ansätze. In der "Super Nanny" werden die Familien und die Kinder aber entmündigt. Ein guter Berater nimmt die Kinder ernst und erarbeitet Absprachen mit ihnen. Das alles fehlt. Hier kommt jemand rein, der wie eine pädagogische Domina durch die Arena tobt. Ich möchte nicht vier Wochen später wieder in diese Familie kommen. Ach, eigentlich fehlt mir an dieser Sendung alles. Vor allem Seriosität.

Erreicht man mit diesen Sendungen nicht vielleicht die Leute, die niemals Ihre Bücher lesen oder in Ihre Vorträge gehen würden? Und die zumindest eine Idee davon bekommen, dass Kinder bestimmte Tagesabläufe brauchen?

Ja, erreichen vielleicht schon. Aber verändern? Es ist harte Arbeit, mit solchen Familien ein Ritual zu erarbeiten. Das kann manchmal mehrere Beratungsstunden lang dauern. Es braucht dann eher Familienhelfer, die die Familien unterstützen.

Fest steht, dass eine bestimmte Klientel nicht in Ihre Vorträge geht.

Es ist wichtig zu begreifen, dass jede Vermittlungsform ihre Grenzen hat. Für manche Eltern ist der Vortrag nicht das Medium. Bei denen ist die Situation so verfahren, dass sie nicht mehr über sich lachen können. Ich habe vor kurzem eine Familienhelferin bei mir gehabt mit einer Gruppe von Müttern, die einfach nicht erziehen können. Die haben sich absolut unwohl gefühlt. Ein Vortrag kann aufreißen und gemeinsam Spaß machen, auch Identifikation schaffen. Wer dann Genaueres wissen will, muss ins Seminar oder in die Beratung. Und was ich noch gelernt habe: Man erreicht nicht alle. Wenn der Bauch nicht satt ist, habe ich für Erziehung keinen Sinn.

Das ist eine interessante Frage: Geht es wirklich um den satten Bauch?

Es geht um das Gefühl: Ich kann mich mit Erziehung dann beschäftigen, wenn ich keine anderen Sorgen habe. Das ist ja historisch nichts Neues. Die ersten Erziehungsberater wie Pestalozzi richteten sich an das Bildungsbürgertum. Es muss eine Basis da sein, die Halt gibt. Ich bin nicht angetreten, allen Eltern etwas zu vermitteln. Ich bin kein Heilsbringer. Diesen Gedanken habe ich längst losgelassen.

Das heißt aber, Sie hatten ihn früher.

Wenn man jung ist, will man die Welt bekehren. Ich komme ja nun auch aus der 68er Generation. Aber irgendwann hatte ich genug von der Missionierung, aber ich war schon nach ein paar Monaten auf einem anderen Weg.

Gibt es trotzdem Momente, wo Sie zufrieden sind, den Leuten etwas gegeben zu haben?

Gestern Abend kamen bestimmt 30 oder 40 Leute zu mir und sagten: Danke. Oder: Neulich bekam ich einen Brief von einer Mutter. Sie wolle sich bedanken und Abschied nehmen, denn: "Sie haben meinen Sohn mit erzogen." So was freut mich.

Ernten Sie nur Zustimmung?

Oh, es gibt es auch Briefe, in denen steht: Sie sind ein richtiges Arschloch. Oder: Sie sind ein selbstherrlich blöder Kerl. Dann weiß ich: Ich habe die selbst ernannten Mütter Teresa dieser Welt empfindlich getroffen. Und wenn mir eine schreibt: "Ihr Vortrag war so schrecklich, aber ich war danach noch in der Kirche, und in der Krippenausstellung bin ich wieder zu mir gekommen" - dann weiß ich, ich bin auf dem richtigen Weg.

Reden wir über die Mütter Teresa. Die sind insbesondere in Deutschland ein großes Problem für alle anderen Mütter.

Ich habe nichts gegen Mutter Teresa. Eine tolle Frau. Ich finde nur, dass ihren selbst ernannten Nachfolgerinnen in Deutschland die Rot-Kreuz-Helfer-Kappe zu groß ist. Die rutscht ihnen vom Kopf und wenn sie sich dann damit über die Kinder beugen, um ihnen was Gutes zu tun, erschlägt die Kappe das Kind. Auch Überbehütung kann Schaden zufügen.

Wie würden Sie so eine Frau beschreiben?

Sie denkt nur an das Kind und denkt nicht an sich selbst - deswegen kommt der Mann auch immer spät nach Hause und macht sich irgendwann vom Hof. Sie macht Kurse, die gut für das Kind sind und lebt sehr bewusst, sieht meist sehr blass aus, kauft im Reformhaus ein, ist manchmal völlig verhärmt und kann nicht lachen. Dann geht es in Richtung pädagogischer Zombie. Und die haben es schwer.

Die Kinder müssen es doch toll haben, so im Mittelpunkt zu stehen.

Solche Mütter sind für Kinder eine Herausforderung. Bei diesen Müttern fällt auf, dass sie Erziehung mit Yoga verwechseln. Und sich dann wundern, dass die Kinder keine Übung mitmachen. Es ist für die Kinder geradezu eine Aufgabe, sie zum Platzen zu bringen. Das ist noch der lustigere Teil der Geschichte. Es gibt den bösen Teil: dass die Mütter krank werden, sich psychische Probleme körperlich niederschlagen, wir nennen das somatisieren, dass die Kinder krank werden und sich für die Mutter verantwortlich fühlen und so weiter. Da hilft keine Beratung mehr, sondern nur noch Therapie.

Im deutschen Mutterbild findet sich der Aufopferungsgedanke ja sehr stark wieder - wir tun uns aber schwer, uns von diesem Bild zu verabschieden.

Interessanterweise fällt es älteren Eltern leichter, auch sich selbst zu sehen. Ich sehe gerade bei jüngeren Müttern, dass sie ständig um das Kind glucken. Es hat sicher auch was mit Unsicherheit zu tun. Mir fällt heute auf, dass von dem Moment an, wo ein Kind kommt, Mann und Frau fast nur noch Vater und Mutter sind. Kinder sind die wirklichen Weisheitslehrer, finde ich. Und mir hat neulich ein Fünfjähriger gesagt: "Wenn Papa und Mama sich mehr angucken würden, würden sie mich nicht immer sehen." Das ist ein wunderbarer Satz. Und es ist einer der zentralen Gedanken in meiner Arbeit: Eltern zu vermitteln, Kinder loszulassen. Wer Kinder loslässt, hat die Hände frei für Neues.

Wie unterscheiden sich die Erziehungsprobleme heute von denen vor zehn oder fünfzehn Jahren?

Bestimmte Situationen wie Aufräumen oder Trödeln ziehen sich durch. Konstant bleibt auch, dass die Kinder zu jeder Zeit herausgefunden haben, wie sie ihre Eltern zum Rasen bringen können. Was sich wirklich verändert hat, ist der Machbarkeitswahn in der Pädagogik. Was früher nur in der Wirtschaft oder der Technik galt, dass man für Problem A Lösung B hat, das hat sich auf die Erziehung übertragen. Wir müssen nur genügend Kurse besuchen und Bücher lesen und bei Vollmond zum richtigen Zeitpunkt das Kind zeugen - schon läuft alles wie von selbst.

Tut es offensichtlich nicht.

Das Erziehungswissen hat ungeheuer zugenommen. Wenn ich das mit dem vergleiche, was ich nach meinem Studium in den 70ern wusste: Man hätte mir mein Kind wegnehmen müssen. Nicht standgehalten hat parallel dazu das Wissen über kindliche Entwicklung. Den Eltern zu vermitteln, dass zu bestimmten Entwicklungsphasen Verhaltensweisen dazu gehören, ist sehr wichtig. Wenn Eltern mehr darüber wüssten, würden sie von sich aus manche Problem anders begreifen. Da waren die vorangegangenen Generationen weiter. Mein Oma war Bäuerin. Aber die wusste: Im Trotzalter ist "der Dübel" zwei Jahre da und dann ist er weg. Dann kommen gegenwärtig noch ein paar Punkte hinzu, die ich nicht mehr besonders spaßig finde: dass die Kinder komplett im Blick sind. Dass wir verlernt haben, Kinder zu beschreiben - wir diagnostizieren. Die Eltern kommen zu mir und sagen: Herr Rogge, mein Kind ist, glaube, ich ein bisschen hyperaktiv. Mein Kind ist doch hochaggressiv. Und so weiter und so weiter.

Heißt das, die Kinder werden pathologisiert?

Um die Fortsetzung des Artikels »Mama, ich zersäge dich« zu lesen, klicken Sie bitte hier.

(Fortsetzung des Artikels - Teil 2 von 2)

Neulich kam eine Mutter zu mir, völlig außer sich. Ihr dreijähriger Sohn hatte zu ihr gesagt: Mama, ich zersäge dich. Und sie sagte: Aber dann bin ich nicht mehr da! Sagte der Junge: Macht nichts. Aber dann bin ich auf dem Friedhof, wie Oma. Sagte der Junge: Macht nichts, ich komme im Sommer und gieß' die Blumen. Herr Rogge, fragte die Mutter, habe ich später einen Gewalttäter? Muss ich in die Psychiatrie? Da habe ich gesagt: Nein. Aber lernen Sie Ihren Sohn verstehen. Und habe ihr was über die Choreografie des "Lass-mich-los-und-halt-mich" bei Dreijährigen erzählt.

Jede Auffälligkeit eines Kindes wird mit einem Bild belegt: hyperaktiv, hochbegabt, entwicklungsverzögert ...

Verzögert ginge ja noch. Das Wort würde ich gerne häufiger hören. Bei uns ist ja alles gleich eine Störung. Jedes Kind ist anders. Für mich ist Erziehung nicht Vorbereitung auf das Leben, Erziehung ist das Leben selbst. Man bereitet nicht vor, man lebt gemeinsam. Und das Zweite ist: Vergleiche nie ein Kind, es sei denn mit sich selbst. Wer diesen Satz beherrscht, dem kann nichts passieren. Wir legen zu sehr Rollen in das Kind hinein. Wenn irgend eine Familienzeitschrift ein Problem beschrieben hat, steht montags mein Telefon nicht mehr still.

Betrachten Eltern ihre Kinder zu sehr mit Sorge?

Das tun sie, weil sie sich um sich selber sorgen: Ich will mir nichts nachsagen lassen. Ich will nur das Beste. Es gibt, wenn ich Kinder begleite, immer ein Restrisiko. Das heißt, ich kann scheitern. Die wichtigste Geschichte über Erziehung ist für mich die vom Verlorenen Sohn aus dem Neuen Testament: Der Vater nimmt den Sohn auf, obwohl er sich überhaupt nicht so entwickelt hat, wie er sich das gewünscht hat. Das müssen Eltern verinnerlichen. Wir bleiben immer Vater und Mutter, egal was passiert. Ich arbeite viel in der Resozialisierung mit Jugendlichen - und das Wichtigste ist, dass Kinder wissen, sie können immer nach Hause kommen. Das kann eine ungeheure Entlastung sein. Viele Eltern sind nicht ehrlich mit ihrer Angst, was den Kindern passieren kann. Ihre wirkliche Angst ist: Ich kann scheitern. Und um diese Angst auszuhalten, ist es wichtig, jeden Tag zu genießen. Denn: Nur wenn es mir gut geht, geht es den Kindern gut.

Sie haben einen erwachsenen Sohn. Wir würden Sie ihren eigenen Erziehungsstil beschreiben?

Er hat es nicht leicht gehabt, denn meine Frau war Lehrerin und auch mit Familienberatung befasst. Wir haben sehr unterschiedlich erzogen. Aber er wusste, worauf er sich verlassen konnte. Ich war immer Vater, nie Therapeut. Es gibt eine Geschichte, da war er zwölf und wollte bis zehn in die Disko. Und dann war die Frage: Was ist, wenn ich um fünf nach zehn komme? Dann, sagte ich, ist am nächsten Freitag diskofrei. Was würdest du als Ausrede gelten lassen?, fragte er. Wenn du Sterntaler triffst und Sterntaler mitbringst. Er kam um zwei Minuten nach zehn. Und er hatte am nächsten Freitag diskofrei. Natürlich war er sauer. Und aus der Rückschau sagt er: Das war klar. Ich wusste ganz genau, was los war.

Konnten Sie gut aushalten, wenn Ihr Sohn sauer auf Sie war?

Ja, das war okay. Er hat mich vor seinen Freunden sogar verteidigt. Wichtig waren uns auch Rituale. Ich habe immer viel gekocht, und wir haben mittags und abends zusammen gegessen. Das Kochen hat mein Sohn bis heute beibehalten. Und: Er konnte mit jedem Problem zu uns kommen. Die Beziehung stimmte. Man kann sich sogar streiten, wenn die Beziehung stimmt.

Und wenn sie gerade nicht stimmt?

Das Problem ist, dass heute alles über die Eltern läuft. Ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen und konnte immer zu jemand Anderem laufen. Ich hatte die Urgroßeltern, die Großeltern, die Eltern und den Bruder. Und wir lebten alle unter einem Dach. Und meine Eltern waren schon mal ganz froh, wenn wir die Anderen besuchten. Heute haben Eltern sofort das Gefühl der Minderwertigkeit, wenn ihre Kinder zu den Großeltern, den Nachbarn oder den Paten gehen. Die Großzügigkeit und Souveränität zu besitzen loszulassen, das fehlt.

Denn es heißt ja auch, die Kontrolle abzugeben.

Nehmen wir nur das Thema Hausaufgaben. Meine Eltern haben darauf geachtet, dass ich sie mache. Wie ich sie mache, war ihnen völlig egal. Und wenn ich es vergessen habe, habe ich vor der Schule von meinen Freundinnen abgeschrieben. Und ich bin gut durchgekommen.

Wie sehen Sie heute die Rolle der Väter?

Ich beobachte insgesamt eine Veränderung, vor allem bei jüngeren Vätern. Sehr positiv. Viele leiden darunter, nur Wochenendväter zu sein. Natürlich gibt es auch den Typ General, der an der beruflichen Front steht und zu Hause Bodentruppen einsetzt, die die Befehle auszuführen haben. Ich versuche zu vermitteln, dass ein Vater auch Raum und Zeit hat, Aufgaben wahrzunehmen - dass er das aber auch anders machen darf als die Mütter. Väter sollen sich im guten Sinnen einbringen und zwar nicht erst, wenn ihre Kinder ausziehen. Und die Mütter müssen den Vätern Raum und Zeit geben - das heißt, sie müssen sie auch mal machen lassen. Und sie müssen eine gewisse Unterschiedlichkeit in der Erziehung zulassen. Das ist häufig für die Mütter ein Problem, weil sie meinen, damit Macht abzugeben.

Gibt es unterschiedliche Erziehungsprobleme in Ost und West?

Ich denke, es gibt keine großen Unterschiede, was die Fragestellungen angeht. Was sicherlich in den neuen Bundesländern anders ist, ist das Gefühl der Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation. Das Zweite ist die Fokussierung auf das eine Kind, das es einmal besser und anders haben soll. Und es gibt eine Unduldsamkeit zwischen den Generationen. Die heute 35-Jährigen wollen und können es anders machen als ihre Eltern, und da bricht manchmal ein Konflikt auf. Deren Eltern sind strikter als sie selbst, sie lernen einen offeneren Erziehungsstil.

Im Westen ist es eher umgekehrt - wir arbeiten uns an unseren antiautoritären Eltern ab.

Wobei A. S. Neill, der Begründer der antiautoritären Erziehung, ja durchaus klare Regeln und Rituale benannt hat. Ihm war nur wichtig, Kinder in die Entscheidungsfindung mit einzubinden. Und das war auch nicht so neu. Auch Pestalozzi oder Maria Montessori haben die Kinder ernst genommen.

Vielleicht muss man sagen, dass in dieser Zeit nicht in diesem Sinne antiautoritär erzogen wurde - es wurde gar nicht erzogen.

Richtig, teilweise ist das als Feigheit, als absolutes Laissez-Faire ausgelebt worden.

Unter dem Motto: Das Kind wird schon wissen, was es braucht.

Ist ein wunderbarer Leitsatz, von dem ich heute als Berater gut lebe.

Hängt die gegenwärtige Unsicherheit eigentlich auch damit zusammen, dass unser Leben so stark entritualisiert ist?

Das halte ich für einen der ganz wesentlichen Aspekte: Wir wollen alles anders machen als früher. Und das funktioniert nicht. Natürlich haben manche in meiner Generation Rituale auch als einengend empfunden. Und da ist vieles einfach weggefallen. Aber Rituale geben Halt. Als bei uns der Lehrer den Klassenraum betrat, standen wir auf und sagten guten Morgen. Ich will das nicht wieder einführen. Nur: An die Stelle ist bei uns nichts getreten. So dass man sich in der Klasse manchmal fragt: Ist das noch die Pause oder ist das schon der Unterricht? Das heißt, wenn man ein Ritual nimmt, muss man an die Stelle etwas anderes setzen. Sonst empfinden Kinder und Jugendliche es als Haltlosigkeit. Dabei können die Rituale von Familie zu Familie verschieden sein.

Die Schulen beklagen die mangelnde Erziehungsleistung der Eltern und wissen nicht, wie sie mit den Kindern zurecht kommen sollen, die bei ihnen landen.

Und umgekehrt genauso. Ich finde es wichtig, aus dieser Klagementalität herauszukommen und Erziehung als eine gemeinsame Aufgabe zu sehen. Gar nicht unbedingt, um an einem Strang zu ziehen. Die Vermischung ist ein Problem. Statt dessen soll jede Erziehungsinstitution ihre spezifische Aufgabe wahrnehmen. Und dabei sollte man nicht gegeneinander arbeiten, sondern die Leistung der anderen Seite anerkennen.

Herr Rogge, Sie waren früher Marineoffizier. Haben Sie in punkto Erziehung eigentlich aus dieser Zeit etwas gelernt?

Man kann nicht gegen See und Wellen anarbeiten. Wenn man in einen Sturm kommt, muss man ihn "abwettern" - also ihn annehmen und das Beste daraus machen.


Das Gespräch führte Silke Lambeck.

https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/magazin/427949-1.html
https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/magazin/427949-2.html