Miéville und Lovecraft
Damit die Diskussion hier ja vielleicht weitere Früchte trägt, übertrage ich sie mal aus der (nicht mehr aktiven!) Yahoo-Group:
Seblon:
Ich habe so einige Berichte über China Miéville gelesen, wo
immer
wieder daraufhingewiesen wird, dass er ein sehr großer Bewunderer
H.P.
Lovecrafts ist, was mich tatsächlich sehr wundert.
Ich habe so einiges von Lovecraft gelesen und habe ihn im Gegensatz
zu
Miéville immer als auffallend konservativ und engstirnig in Bezug
zu
dem "Fremdartigen" empfunden.
Es gibt ja das Gerücht, Lovecraft sei nicht nur antisemitischer
Rassist gewesen, was sich für mein Gefühl auch z.T. innerhalb
seiner
Erzählungen nachweisen ließe. Das Fremdartige und Absonderliche
ist
bei Lovecraft immer eine Gefahr für eine gewünschte
strukturierte
Normalität. Chutullu steht ja eigentlich für nichts anderes als
für
das chaotisch Fremdartige, das die geordnete Bürgerlichkeit
gefährdet.
Im Gegensatz dazu habe ich den Eindruck China Miéville, aber auch
Clive Barker haben gerade eine sehr starke Affinität zum
Fremdartigen,
zum Chaotischen, dass macht ja gerade einen großen Reiz an ihrer
Literatur aus. Ihre Perspektive ist eine völlig andere, viel
weniger
bürgerliche, als die eines Lovecraft.
Was mag wohl Miéville an Lovecraft mögen?
Es grüßt
Seblon
Jakob:
Ich tue mich immer shcwer damit, politische und ästhtische Positionen so
unmittelbar zusammenzubringen. Wahrscheinlich dürfte Lovecraft wirklich
politisch am besten als konservativer eingeordnet sein, noch dazu mit
einigen extremen Einschlägen - zeitweise antisemitisch, und sonst ganz
allgemein "vergangenheitsorientiert". Trotzdem mag ich seine Geschichten
sehr, weil sie nicht nur Abscheu und Ekel vor dem "Fremden" thematisieren,
sondern auch die Faszination davon - "Der Schatten über Innsmouth" mit
seiner geradezu lyrischen Beschreibung der Welt der tiefen Wesen am Ende ist
dafür ein sehr schönes Beispiel. Ich sags mal so: Lovecraft ist für mich
interessant und faszinierend, weil er die (Abgrenzungs-)Strategien und
Probleme eines bürgerlichen Selbst mitten in der Moderne behandelt - auch,
wenn er es vielleicht nicht "politisch bewusst" tut. Er teilt viel politisch
interessantes mit ...
Die stilistischen Lovecraft-Einschläge bei Mieville sind in jedem Fall nicht
zu übersehen. Mit dem in The Scrar auftauchenden recht lovecraftschem Idol
und der Auflösung dieses Handlungsstrangs macht Mieville ja praktisch
beides: eine Hommage an Lovecrafts Stil und Themen und eine Kritik an ihrem
politischen Einsatz.
Soviel zu meinen Spekulationen, was Mieville an lovecraft findet.
molosovsky:
Hallo zusammen.
Vorweg: ich finds okey wenn man ›von oben herab‹ die Psyche,
Persönlichkeit, Karriere, Ideologie eines Autors kommentiert. Klar ist
das anmaßend, aber ein durchaus legitimer Weg die eigenen Gedanken zu
Kunst und Unterhaltung zu fassen.
Allgemein zu Lovecraft: Ich war als Teen SEHR beeindruckt von
Lovecraft. Nicht nur von seinen Geschichten, sondern eben auch vom
Mensch. Houllebeque hat es »Gegen die Welt, gegen das Leben« schön
herausgearbeitet: Lovecraft als Weltenhass-Onkel, der einen an der Hand
nimmt und in Welten der Abscheu und des Wahnsinns entführt. – Ich habe
meinen Gutteil Lovcecraft hier herumstehen und gelesen, Primär- und
Sekundär-Texte sowie einige nette ›Merchandise‹-Artikel (Games Workshop
»Call of Cthulhu« und den Petersons Monster-Guide). Die abseitigeren
Schriften (die x Bände mit Briefen und Nachlass zu Philosophie,
Wissenschaft und Geschichte u.ä.) sind n'bischen teuer. Aber in den
verschiedenen Biographien und Monographien zu Lovecraft kommt für mich
schon ziemlich deutlich rüber, daß der Mann ›einen Hieb‹ hatte. Das
meine ich nicht respektlos, denn: »Es gibt kein gesundes Genie«, wie
Egon Friedell schrieb.
Allgemein zu Miéville: Zuerstmal traue ich ihm zu – als Monsterfan der
er ist – völlig gaga zu sein über Lovecrafts ›schröcklichen Weltenbau‹,
und dennoch einen kühleren Blick auf dessen Ästhetik bewahren zu
können. Miéville unterscheidet sich von Lovecraft auf ähnlich
grundlegende Weise, wie er sich auch gegen Tolkien abgrenzt. Lovecraft
und Tolkiens Phantastik ist stark von nostalgischen Kräften bestimmt,
›nach Außen‹ völlig entsexualisiert, weitestgehend frauenlos. Beide
flüchten auf ihre Art vor der Moderne ins ›innere Exil‹, und erzeugen
dabei ehr manieristische Komplexität, die unter der Oberfläche ziemlich
stark vereinfacht.
Ich kann aus Miévilles Büchern keine gleichartig grundsätzliche
Abneigung der Moderne gegenüber herauslesen. Als Beispiel im Umgang mit
Extremen fällt mir da ein: Lovecraft kennt keine hoffnungsspendenden
Idyllen (Liebe) und Tolkien scheut kalte Grausamkeiten (Splatter).
Miéville kann beides mühelos gegeneinander kontrastieren.
Soweit meine Abzirkelung, und über Sprache und Formales könnte man
Lovecraft ( & Tolkien) und Miéville weiter abklopfen, Gemeinsamkeiten
und Unterschiede herausarbeiten. Kurz: Miéville ist von den dreien der
Vielseitigste. Für mich immer noch ein markantes Beispiel, wie weit
Miéville manchmal geht, ist die ›Porno‹-Szene in »The Scar« mit Shekel.
Weder Howard Philip noch John Ronald hätten sich erlaubt, sowas auch
nur zu denken.
Grüße
Alex / molosovsky
Seblon:
Natürlich kann sich Miéville aus rein ästhetischen (wenn man dieses
Wort im Zusammenhang mit Horror-Literatur benutzen möchte ;-) )Gründen
für Lovecraft begeistern, aber irritierend ist es für mich schon.
Ich hatte immer den Eindruck, dass man Lovecrafts konservative
Fremdenfeindlichkeit innerhalb der Erzählungen mit Händen greifen
kann. Anders als Poe hat er eine auffallende (fast angewiderte!)
Distanz zur dunklen Seite seiner Geschichten. Er wirkt wie ein
katholischer Priester, der nicht aufhören kann zu onanieren und immer
wieder davon erzählen muss. Miéville dagegen suhlt sich mit einem
Lächeln auf den Lippen (glücklicherweise!)im Fremden, Abstrusen.
Kann man (gerade als auch sehr politischer Mensch!) jemanden, der so
stark von seinem ängstlichen Konservativismus geprägt ist, wie
Lovecraft nur rein ästhetisch bewerten?
Es grüßt
Seblon
Jakob:
Das Bild mit dem katholischen Priester und dem onanieren klingt gar nicht so
unpassend für Lovecraft ...
Trotzdem finde ich, dass man ihn interessant finden kann, ohne dabei das
ästhtische völlig vom politischen trennen zu müssen. Im Gegenteil -
natürlich hat die Degenerationsangst und die Fremdenfeindlichkeit bei
Lovecraft eine inhärent politische Dimension, und die Art, wie lovecraft
diese motive sie einsetzt, macht ihn politisch nicht unbedingt sympathisch.
Trotzdem ist sichtbar, wo Mieville sich für lovecraft interessiert und auch
ein bisschen warum: Er bringt eben ähnliche Motive ein, aber wendet und/oder
dekonstruiert sie in vielen Fällen (als konkretes Beispiel fällt mir leider
noch immer nur das Idol aus The Scar ein). Anders gesagt: Lovecrafts
Erzählungen bringen typische ängste der Moderne zum Ausdruck. Mieville
dagegen greift die Epochen der Industrialisierung und der Moderne auf und
setzt dafür die wirkungsvollen, manchmal eben auch lovecraftschen Bilder
ein, gibt ihnen aber meistens irgendeinen Drehimpuls oder eine Verzerrung
bei, die sie aus de Reich des mythologischen ins Reich des politischen (und
politisch reflektierbaren) retten.
So stelle ich mir das zumindest abstrakt und von meinem Lesegefühl her vor.
Belegen kann ich das noch nicht am Text ...
Seblon:
Das ist eine echt prima Erklärung. Vielleicht ist es ja tatsächlich
so, dass Miéville Lovecrafts "Sprache des Schreckens" aus rein
ästhetisch stilistischen Gründen mag und z.T. nutzt, um sie inhaltlich
zu konterkarieren...
Seblon
To be continued...