Re: Vor-Modern und Modern
> nostalgischere Geschichten austreiben. Bas-Lag-bezogen: Ich bewundere
> Miéville für seinen Wagemut, wenn er den Lesern nach 800 Seiten
> Monsterhatz am Ende von »PSS« eine denkbar bittere Pille serviert.
Na, ich denke, dass Ende ist ja letztlich egal, wenn es nur stimmig ist.
> Du kannst aber auch ganz schon gestelzt zurückgeben :-)
> Wenn ich mich richtig erinnere, dann schätzt Du »Gormenghast« von
> Peake wie ich auch. Ich illustriere mir Dein Betonen des Fremden mit
> den grotesk-satierischen Figuren von Peake, dem Gegensatz zwischen den
> Schloßbewohnern und Holzschnitzer-Dörflern. Aber was verstehst Du
> unter Grundprobleme des Menschen am Modell herausarbeiten in der
> Fantasy. In der SF fällt mir da sofort P. K. Dick mit seiner großen
> Frage »Was ist menschlich?« ein, und wie auf mancherlei Art diese
> Frage verhandelt wird (Erinnerungen, Replikanten, Mutanten,
> Zwitterwesen).
Ja, Peake schafft es gewiss, eine eigene Welt zu schaffen. Und im Gegensatz dazu
sehe ich sehr deutlich die Möglichkeiten und den Mangel gerade auch in historischen
Romanen: Da läuft oft genug eine Hauptfigur durch eine mittelalterlichen Welt, die mal
eben so ein Empfinden an den Tag legt, dass auf sämtlichen Entwicklungsschritten
aufsetzt, die unsere Kultur überhaupt erst von der Renaissance an durchlaufen hat. Da
frage ich mich immer: Wo kommt das her? Ein Mensch definiert sich ja durch seine
Entwicklung vor einem Hintergrund - und ein Roman sollte gerade diese Möglichkeit
auch nutzen. Er sollte nicht nur eine Hauptfigur in einer exotischen Umgebung zeigen,
sondern er sollte darstellen, wie diese Umgebung die Figur formt - und was uns doch
noch vertraut daran ist oder anspricht, obwohl wir ganz anders geformt sind. Das
verstehe ich auch unter dem "allgemein Menschlichen" - etwas, was sich sicher
schlecht greifen und definieren lässt, was sich in guten Büchern aber fühlen lässt.
Ich denke da beispielsweise auch an Xenophons "Anabasis" oder andere Werke der
antiken Literatur: Wie oft liest man da ganze Passagen, wo man tatsächlich das Gefühl
hat: "He, hier wurde ja ein moderner Mensch in die Vergangenheit versetzt. Der ist ja
ganz wie wir!"; und dann kommt plötzlich wie mit dem Hammer eine Stelle, eine
Einschätzung, ein Verhalten der Figur (äh, wenn man bei Xenophons Buch von Figuren
sprechen kann ???), das einem auf einen Schlag den ganzen kulturellen Abgrund
bewusst macht.
Ich denke, gerade solche Brüche sind es, durch die man aus der Literatur etwas
erfährt. Und Fantasy - wie auch SF und Phantastik allgemein (ohne den Phantastik-
Definitions-Streit hier wieder aufleben lassen zu wollen) - haben nun mal hervorragende
Möglichkeiten, den Menschen in Form der Protagonisten aus unserem Vertrauten
Umfeld herauszulösen und vor einem anderen Hintergrund agieren zu lassen. Sie
erlauben Experimente zu der Frage: Was ist "der Mensch", was ist "die Umwelt"?
Mievielle arbeitet sehr stark mit diesem Thema, vor allem auch über seine
nichtmenschlichen Kreaturen, und er schafft es auch, keine Position zu beziehen. Da ist
kein "der Ork ist immer böse", aber auch kein "der Ork ist ja auch nur ein Mensch", was
sonst ja oft schon das Höchstmaß an PC in konventioneller Fantasy darstellt.
> Nun, der große Verlust für die lebende katholische Kirche war ja
> (meiner Ansicht nach) der Verlust der Deutungshoheit des heiligen
> Buches (Latein!). Auch damals also schon Inforwar satt :-)
Tja, aber das eigentlich faszinierende an der Reformation fand ich ja, wie Luther
letztlich immer wieder mit der Bibel argumentiert hat, während seine Gegner ihm
verständlich machen wollten, dass die Bibel ja auch nur ein Buch ist und Gott sich
eigentlich in der "Gemeinschaft der Gläubigen" offenbart. Auch wenn man sich darüber
streiten kann, in welchem Glied dieser Gemeinschaft sich Gott letztendlich offenbart, so
hatte ich das Gefühl, dass die Grundlagen der Argumentation und die praktischen
Resultate in diesem Streit völlig gegenläufig waren. Und das ist eigentlich schon ein
gutes Beispiel dafür, dass die Welt und vor allem die Menschen völlig widersprüchlich
sind. Und sie sind es mit Methode, schamlos und meist ohne es zu merken.
Und deswegen wird Literatur zu Kitsch, wenn sie ein geschlossenes Bild ohne
Widersprüche präsentieren will. Und deswegen haben auch absolutistische Weltbilder
immer den Kitsch begünstigt. Aber deswegen ist jedes gelungene Buch auch eine
Mischung der verschiedensten Perspektiven und Strömungen, und man tut ihm
Unrecht, wenn man versucht, es nur nach wenigen grundlegenden Gesichtspunkten zu
beurteilen.
> D'accord! Komplett entziehen ist ein nobles Ziel, solange man sich
> klar ist, daß man es nicht wirklich, 100 Pro, absolut erreichen kann.
Nein, aber man kann spielen. Man kann experimentieren. Das ist es halt, was ich an der
Phantastik auch so faszinierend finde. Es eröffnet Diskurse. Natürlich kann man sich
nie wirklich von dem lösen, was man selbst irgendwie erfahren hat; man kann nur
variieren. Deshalb habe ich auch nichts gegen mittelalterliche Fantasy - dann aber auch
bitte richtig: Was nutzt es, mit mittelalterlichen Versatzstücken zu experimentieren,
wenn man sich nicht traut, es richtig durchzuziehen?
Würde man sich 100% von der eigenen Erfahrungswelt lösen, wäre das Buch auch
unlesbar. Es geht mir eher darum, einzelne Elemente gezielt zu entnehmen und zu
verändern und zu sehen, was daraus wird.
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