Re: Tür zugeknallt?
Murat Kurnaz: Seit zweieinhalb Jahren in Guantanamo eingesperrt
Von Martin Kreickenbaum
20. Mai 2004
Es war im November oder Dezember 2001. Murat Kurnaz wird in Pakistan von pakistanischen Sicherheitskräften aus einem Bus gezerrt. Er kann nicht verstanden haben warum, er spricht weder Arabisch noch Englisch. Er wird amerikanischen Sicherheitskräften übergeben und zum Jahreswechsel 2002 nach Guantanamo Bay, der amerikanischen Enklave auf Kuba, geflogen. Auch dort wird er nicht erfahren, was man ihm vorwirft.
Vermutlich ist er Opfer so genannter Bounty-Hunter geworden, das sind Warlords und Polizeibeamte, die von den Amerikanern im "Krieg gegen den Terror" Kopfgeldprämien kassiert haben, um ihre eigenen Kriegskassen zu füllen. Für angebliche Taliban-Kämpfer sollen 5.000 US-Dollar gezahlt worden sein, für vermeintliche Al Qaeda-Mitglieder sogar 20.000. Ausgeliefert werden vor allem Ausländer, und Murat ist in Pakistan besonders leicht als solcher zu identifizieren. Seine Augen sind blau, Haare und Bart rötlich-blond, die Haut zu hell.
Murat Kurnaz ist erst wenige Wochen zuvor im Oktober 2001 nach Pakistan gekommen, um dort eine Koranschule zu besuchen, vielleicht auch um gegen die Amerikaner zu kämpfen, doch das ist Spekulation. Er war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt und sein Bremer Anwalt Bernhard Docke meinte gegenüber der tageszeitung, dass Murat noch Eierschalen hinter den Ohren gehabt habe und höchstens ein Möchtegern-Taliban gewesen sei. Ohne jegliche militärische Ausbildung und ohne Sprachkenntnisse war er für die Taliban völlig wertlos. Im Kampfgebiet in Afghanistan ist er nie gewesen. In der pakistanischen Koranschule wird er wegen seines roten Bartes und der blauen Augen als Spion betrachtet, ein geeignetes Opfer, um die Prämie von den Amerikanern zu kassieren.
In Kampfhandlungen war er nicht verstrickt, verwertbare Informationen über Al Qaeda oder die Taliban besitzt er ebenso wenig. Trotzdem sitzt er immer noch im Lager von Guantanamo Bay ein, abgeschlossen von der Außenwelt. Sein Anwalt Bernhard Docke darf nicht zu ihm und erhält auch von den US-Behörden keinerlei Informationen. Die letzte Postkarte an seine Eltern datiert vom März 2002, seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr. Es bleibt nur die Hoffnung, dass man es den Eltern mitgeteilt hätte, wenn Murat nicht mehr am Leben wäre.
Wie man zum "feindlichen Kämpfer" wird
Im Nachklang der Terroranschläge des 11. September in New York und Washington hat die Bush-Administration den Begriff des "feindlichen Kämpfers" erfunden, mit dem sie vermeintliche Terroristen und Al Qaeda-Mitglieder jenseits jedes geltenden Rechtes stellen. Den Inhaftierten wird nicht gesagt, was man ihnen vorwirft, Anklageschriften und Gerichtsverhandlungen sind nicht vorgesehen, Anwälten sind die Lager in Guantanamo, Diego Garcia oder Bagram nicht zugänglich. An die Stelle rechtsstaatlicher Verfahren sind Willkürherrschaft und Polizeistaatsmaßnahmen getreten.
Bei einigen der über 600 Inhaftierten in Guantanamo sind nicht einmal die Namen bekannt. Die Existenz der Gefangenen ist faktisch ausgelöscht. Nach den Worten des amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld sollen die Gefangenen so lange im Lager bleiben, wie der "Krieg gegen den Terror" dauert, möglicherweise lebenslänglich, ohne dass sie je ein Gerichtsverfahren erlebt haben. Selbst Minderjährige befinden sich unter den Insassen.
Murat Kurnaz entspricht in keiner Weise dem Prototyp des "Schlimmsten der Schlimmen", den die amerikanische Regierung von ihren Inhaftierten gerne zeichnet. Er dürfte dabei kein Einzelfall sein.
Murats Vater kam vor über 30 Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Bremen und arbeitet noch heute bei der dortigen DaimlerChrysler-Niederlassung. Die Mutter Rabiye kam als Dreizehnjährige 1971. Murat ist der älteste von insgesamt vier Geschwistern. Nach seinem Hauptschulabschluss begann er 2000 eine Ausbildung zum Schiffsbautechniker in Bremen, seine Freizeit war bestimmt von HipHop, Hunden und einem Kraftsportstudio, wo er auch aushilfsweise gearbeitet hat. Sein Freundeskreis war sehr gemischt.
Er sprach wesentlich besser deutsch als türkisch und nur einer Nachlässigkeit wegen hatte er noch keine deutsche Staatsangehörigkeit, die er auf jeden Fall beantragen wollte, um dem Militärdienst in der Türkei zu entgehen. Die erforderlichen Papiere hatte er bereits beisammen.
Im Sommer 2001 heiratete Murat in der Türkei seine Verlobte Nagihan. Zu dieser Zeit hatte er begonnen, sich näher mit dem Islam zu befassen und regelmäßig die Abu-Bakr-Moschee besucht. Vom Islam versprach er sich die Orientierung, die er in der Gesellschaft sonst nicht finden konnte. Er wollte den Armen helfen und sprach davon, später als einfacher Bauer leben zu wollen.
Dann kam mit dem 11. September ein Wendepunkt in Murats Leben. Die Terroranschläge sieht er als "Wille Allahs". Zusammen mit seinem Freund Selcuk Bilgin beschließt er, nach Pakistan zu gehen, um sich intensiven Koranstudien zu widmen. Am 3. Oktober verlässt er heimlich das Elternhaus. Noch am Flughafen Frankfurt/Main wird Selcuk Bilgin durch die Passkontrolle aufgehalten. Er hatte eine Geldstrafe noch nicht bezahlt und war zur Fahndung ausgeschrieben. Murat flog allein. Im November erhält die Mutter einen letzten Telefonanruf aus Pakistan. Murat sagt, dass er eine Koranschule besucht und noch einen weiteren Monat bleiben will. Das nächste Lebenszeichen kommt aus Afghanistan, aus einem Gefangenenlager der amerikanischen Streitkräfte. Murat ist als "enemy combatant" inhaftiert worden.
Vermutlich hat die Familie nur durch Zufall erfahren, dass ihr Sohn nach Guantanamo gebracht wurde, da die US-Behörden zunächst angenommen haben, dass Murat Deutscher sei.
Mittlerweile sind auch die Sicherheitsbehörden in Deutschland aktiv geworden. Nach der Verhaftung von Selcuk Bilgin wird in Abwesenheit gegen Murat Kurnaz ermittelt, wegen des Verdachts der "Bildung einer kriminellen Vereinigung". Die Bremer Moscheen werden durchleuchtet, der Verfassungsschutz eingeschaltet. Die Ermittlungen verlaufen im Sande und werden schließlich eingestellt. Selbst die Generalbundesanwaltschaft geht heute davon aus, dass Murat keinerlei Kontakte zu islamistischen oder extremistischen Gruppierungen hatte. Zum "feindlichen Kämpfer" qualifizierte ihn nur, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Doch in Guantanamo interessiert das nicht. Murat wird mit den anderen Inhaftierten als Symbol des "Erfolgs" im Krieg gegen den Terror weiter festgehalten, da so der Abbau demokratischer Rechte gerechtfertigt werden kann.
Die deutsche Regierung schweigt
Murats Mutter Rabiye Kurnaz wendet sich, kurz nachdem sie von der Internierung ihres Sohnes erfahren hat, in ihrer Verzweiflung an die Bundesregierung, sich für ihren Sohn einzusetzen. Doch die deutsche Regierung schiebt die Verantwortung ab. Man bedaure das Schicksal ihres Sohnes, doch die amerikanischen Behörden würden nicht mit der deutschen Seite verhandeln, da Murat Kurnaz türkischer Staatsbürger sei.
Die türkische Regierung wiederum fühlt sich zunächst nicht zuständig, da sie in Murat einen Deutschen sah. So gibt es niemanden, der sich um Murats Freilassung bemüht. Erst auf Druck der Familie und ihres Anwalts Bernhard Docke beginnt die türkische Seite, sich für den Bremer einzusetzen. Wie ernsthaft diese Bemühungen sind, kann selbst Murats Anwalt nicht sagen.
Die Ausflüchte der Bundesregierung sind mehr als scheinheilig. Während man öffentlich betont, "kritisch gegenüber Guantanamo" zu sein, wie Innenminister Otto Schily jüngst in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung versicherte, arbeitet man informell mit den US-Behörden sehr gut zusammen.
Bereits im September 2002 waren BND-Beamte in Guantanamo, um unter anderem Murat Kurnaz und den zeitweilig in Duisburg lebenden Mauretanier Ould Slahi zu verhören. Offiziell wird dies weder dementiert noch bestätigt, doch dem Spiegel (Nr. 48/2003) wurden Informationen zugespielt. Danach habe es sich nur um "informelle Gespräche" gehandelt, man lehne ja die von den Amerikanern angewandten Methoden in Guantanamo ab. Immerhin sollen diese Gespräche 12 Stunden gedauert haben. Ein ausgemergelter und abgemagerter Murat Kurnaz wurde, an den Füßen gefesselt, in einen Untersuchungscontainer gebracht. Sein Kopf wurde während der Befragung nach hinten überstreckt, damit er sich nicht bewegen konnte. Er berichtete von seiner Festnahme in Pakistan und davon, dass ihm die Inhaftierungsbedingungen sehr zu schaffen machten.
Die Gefangenen sind eingepfercht in 2 mal 2,50 Meter enge Zellen, in denen sie Hitze und Kälte, Ratten, Schlangen und Skorpionen schutzlos ausgesetzt sind und die sie nur für wenige Minuten am Tag verlassen dürfen. Das Internationale Rote Kreuz hat 32 Selbstmordversuche von Gefangenen dokumentiert. Die im März freigelassenen Briten schilderten systematische Folterungen, von Schlafentzug bis hin zu massiver körperlicher Gewalt.
Wie die Washington Post am 9. Mai berichtete, sind Foltermethoden bei den Verhören vom Pentagon im April 2003 offiziell angeordnet und abgesegnet worden. Der damalige Kommandeur über das Gefangenenlager, Generalmajor Geoffrey Miller, hatte darum gebeten und stieß im Pentagon auf offene Ohren. Mark Jacobson vom Verteidigungsministerium wird von der Washington Post mit den Worten zitiert: "Ich glaube tatsächlich, dass wir nicht aggressiv genug sind. Wir sind zu zaghaft."
Miller, der mittlerweile das Kommando über das Abu Ghraib-Gefängnis in Bagdad übernommen hat, in dem zuvor die barbarischen Misshandlungen irakischer Häftlinge stattgefunden haben, behauptete dennoch, dass die Gefangenen sehr menschlich behandelt wurden. Tatsächlich werden den Inhaftierten aber elementarste Rechte vorenthalten. Der freigelassene Jamal al-Harith sagte gegenüber dem Daily Mirror, dass er nach einer Weile nicht mehr um Menschenrechte gebeten habe, sondern nur noch Tierrechte wollte. "Im Camp X-Ray war mein Käfig direkt neben einem Zwinger mit einem Schäferhund. Der hatte eine Holzhütte mit Klimaanlage und Gras. ‚Ich will die gleichen Rechte wie er‘, habe ich zu den Wächtern gesagt. Darauf haben die gesagt: ‚Dieser Hund ist ein Mitglied der US-Streitkräfte.‘"
Diese totale Entwürdigung und Erniedrigung der Insassen als "Untermenschen" findet ihre Parallelen nur in den Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern der Nazis. Doch die Bundesregierung stärkt den Amerikanern noch den Rücken. Außenminister Joschka Fischer beschwört den moralischen Führungsanspruch der USA in der Welt. Otto Schily versteht sich blendend mit dem amerikanischen Justizminister John Ashcroft und lässt sich von ihm gerne mal zu einer Partie Golf einladen oder lauscht seinem Amtskollegen beim Klavierspiel, mit dem Ashcroft seine Kultiviertheit zeigen will.
Diese Anbiederung hat ihren guten Grund. Denn während in Deutschland das absolut geltende Folterverbot zwar mehr und mehr in die Diskussion gerät, aber zur Zeit offiziell noch hoch gehalten wird, nehmen es die deutschen Sicherheitsbehörden im Ausland nicht so genau damit. Die Verhöre in Guantanamo sind nur ein Aspekt davon, dass die KSK (Kommando Spezialkräfte) der Bundeswehr in Afghanistan Gefangene an die US-Streitkräfte ausgeliefert hat, wohlwissend, dass sie Foltermethoden ausgesetzt werden, ein anderer.
Auch wird die Tür nicht zugeschlagen, wenn die amerikanischen Geheimdienste neue Protokolle der vermutlich unter Folter abgepressten Aussagen von Ramzi Binalshibh oder Chalid Scheich Mohammed vorbeibringen, wie der Spiegel im April 2003 zu berichten wusste. Dort ist auch zu erfahren, dass Mitarbeiter des deutsche Verfassungsschutzes nach Damaskus reisten, wohin der Deutsch-Syrer Mohammed Haydar Zammar nach seiner vom US-Geheimdienst arrangierten Entführung in Marokko verschleppt wurde. Zammar hatte nach seiner vorherigen Festnahme in Hamburg noch die Aussage verweigert und war wieder freigelassen worden. Der Deutsch-Syrer gilt als wichtiger Informant für die Hamburger Zelle um Mohammed Atta. Obwohl die Staatsschützer wussten, dass Zammar schwer gefoltert wurde, haben sie die Aussagen nicht nur dankbar gründlich analysiert, sondern gleich die Gelegenheit genutzt, um Zammar auch noch einmal persönlich zu verhören.
Die Befürchtungen, die der Bremer Rechtsanwalt Bernhard Docke gegenüber der WSWS ausdrückt, dass Guantanamo zu einem Exportartikel werden könnte, durch den international verbindliche Rechtsstandards unterlaufen werden, sind alles andere als unbegründet.
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 19. März hat Otto Schily nicht nur um Verständnis für die Internierung "feindlicher Kämpfer" in Guantanamo geworben, sondern das amerikanische Vorgehen auch als Vorbild für den "Kampf gegen den Terror" in Europa ausgegeben.
Schily stellte in dem Interview so genannte Extremisten und mutmaßliche Terroristen außerhalb des Strafrechts und auch außerhalb des Geltungsbereichs der Genfer Konventionen; er spricht von einer "Bande von Verbrechern", für die "die alten Normen nicht mehr passen". Sie wären keine Kriegsgefangenen und das Strafrecht würde auch nicht greifen. Das "Mindestmaß an Humanität und Legalität", das er zunächst gewahrt wissen will, schränkt er gleich wieder ein, indem er dem gesellschaftlichen "Anspruch, sich zu schützen", Priorität einräumt.
Im Spiegel vom 26. April erwog der gelernte Jurist offen die Möglichkeit extralegaler Tötungen, indem er drohte, "wer den Tod liebt, kann ihn haben". Die geplanten Ausweisungen von Ausländern alleine auf richterlich ungeprüfte Verdachtsmomente hin und eine unbefristete Schutzhaft ohne Gerichtsurteil für so genannte Extremisten und deren Unterstützer, die nicht ausgewiesen werden können, ließen Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung bereits von einer "Guantanamoisierung der deutschen Ausländerpolitik" sprechen. In der EU wurde eine Solidaritätsklausel unterzeichnet, die für den Fall terroristischer Akte auch den Einsatz des Militärs im Innern vorsieht. Dabei wurde der Begriff des "Terrors" schwammig genug gelassen, um auch gegen öffentliche Proteste vorzugehen. Es ist mehr als angebracht zu fragen, wer sich hier vor wem schützen muss.
Die Bundesregierung muss daher mit heimlicher Freude vernommen haben, dass die amerikanische Seite nicht mit ihr über den Fall Murat Kurnaz verhandeln wollte, denn nichts lag ihr ferner, als sich gegen ihren transatlantischen Verbündeten für den Bremer einzusetzen. Die prinzipielle Verteidigung demokratischer Rechte kann nur durch eine breite Bewegung der Bevölkerung geschehen. Sie muss die stille Unterstützung der Bundesregierung für die menschenrechtswidrigen Internierungen auf Guantanamo Bay und in anderen internationalen US-Militärstützpunkten scharf zurückweisen und die sofortige und bedingungslose Freilassung von Murat Kurnaz wie allen anderen Gefangenen in den amerikanischen Militärlagern fordern.
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Wie meinte doch der Horst Mahler, als er zu seinen diametralen, politischen Gesinnungswandel gefragt wurde:
"Wenn man lange genug linksherum im Kreis geht, kommt man rechts an"!
Senilität ist anscheinend mit "Kreisgehen" verbunden, jedenfalls zeigt Schily die gleichen Merkmale und Symptome!
Baba Yaga