Speed statt Kaffee
Nicht gerade das Tollste, aber...hmmm, ich poste's trotzdem mal...^^
Speed statt Kaffee
Die Dämmerung senkt sich langsam über die Stadt. Lautlos fallen Schneeflocken aus dem wolkenverhangenen Himmel auf die glitzernde Stadt hinab und hüllen sie in weiße Unschuld. Meine kleine Kerze strahlt warme Lichtfunken ab, die über die kalten Eiskristalle hüpfen. Aber es dauert nicht lange und die warmen Lichtfunken werden von dem aufdringlichen Licht der Straßenlaternen und der Leuchtreklame verschluckt. Denn diese Stadt schläft nie. Sie ist immer wach, ob im grellen Sonnenlicht oder im kalten Licht der Neonröhren. Dunkelheit bedeutet Stillstand, Stillstand bedeutet Zeitverlust und niemand will hier Zeit verlieren, denn dafür ist das Leben viel zu kurz.
Kindergarten, Schule, Uni, Arbeit, Familie, Rente... Und immer geht es weiter. Die Zeiten, in denen man altern und sterben dürfte, sind vorbei. Kinder sollen Kinder bleiben und gehen deshalb in Kindergärten, in denen sie nicht mehr auf Bäume klettern dürfen, weil sie sich dabei verletzen könnten. Dafür gibt man ihnen schönes buntes Plastikspielzeug, für das ganz sicher keine Bäume sterben mussten und das man noch in 100 Jahren zu PET-Flaschen einschmelzen kann. Und damit sie nicht zu den 20 % fettleibigen Kindern der Hartz-IV-Empfänger gehören, gibts eine Stunde Sport pro Tag, natürlich einem genau ausgearbeiteten Plan folgend, der für exakt die richtige Dosis an Wettkampf und Teamgeist, Schweiß und Spaß sorgt.
Habe ich auch mitgemacht. Ich war ein hübsches, schlankes Kind, das sogar Handstand konnte.
Meine kleine Kerze färbt den Silberlöffel meiner Mutter schwarz. Ich glaube, meine Mutter ist jetzt 50 Jahre alt, aber als ich sie das letzte Mal gesehen habe, sah sie noch wie 30 aus. Schlank wie ein Teenager (dreimal in der Woche eine Stunde Fitnesscenter und walken mit der Freundin), glänzende rotbraune Haare (Färbung von Schwarzkopf mit perfekter Grauhaarabdeckung und der Wunderformel für strapaziertes Haar) und so gesund, dass sie bestimmt noch 120 wird auch ohne die ganzen Vorsorgeuntersuchungen, zu denen sie immer geht. Und das, obwohl sie im Kindergarten noch auf Bäume geklettert ist. Aber das lässt sich wahrscheinlich mit einer gesunden Vollkornkost ausgleichen. Ballaststoffreich, um die Verdauung anzuregen. Müsli zum Frühstück, Vollkornbrot zum Abendessen. Und die Vitamine nicht vergessen. Hat dafür gesorgt, dass ich auch in der Pubertät nicht aus dem Leim ging. Gegen die Pickel hat es leider nicht geholfen, aber dafür gab's ja Clearasil.
Der Zitronensaft im Löffel sprudelt jetzt lustig vor sich hin. Er enthält Säure, das ist natürlich schlecht für den Zahnschmelz. Macht nichts, dafür gibt es ja Fluor. Gleich gibts Essen. Aber kein Vollkornbrot und keine Bio-Bananen.
Diacetylmorphin. Die korrekte Nomenklatur habe ich in Chemie gelernt. Ich war ja so ein netter Junge. Hübsch und begabt, immer höflich und nach 13 Jahren in der städtischen Lehranstalt mit pädagogisch kompetenten Lehrern hatte ich auch ein tolles Abitur in der Tasche. Keine Frage, der Junge geht auf die Uni. Studiert BWL oder Medizin.
Ich ziehe meinen Gürtel aus der Hose. Echtes Leder, kein Synthetikkram. Bei der Kleidung muss man schließlich auf die Qualität achten. Das hat sogar schon die Mutter meiner Mutter gesagt.
Ich öffne und schließe meine Hand. Die Vene tritt dick und blau hervor. Wenn ich Medizin studiert hätte, wäre meine Mutter sicher stolz auf mich, wie gut ich spritzen kann. Habe ich aber nicht. Ich bin nie auf die Uni gegangen. Denn irgendetwas ist schief gelaufen. Joggen hat mich angekotzt und autogenes Training hat mir auch nicht geholfen. Ich habe festgestellt, dass fettige Hamburger auch schmecken und dass man mehr als ein Bier trinken kann. Dass Herumlungern und Nichtstun viel entspannender ist als Yoga und dass eine Tüte Gras gut dabei hilft. Dass Ficken nicht nur mit der Freundin Spaß macht. Dass es auch andere Ausgleichsmöglichkeiten außer Sport gibt. Zum Beispiel dem nächsten Penner auf die Fresse hauen. Adrenalin statt Tai Chi, blutige Prügeleien statt Schattenboxen. Speed statt Kaffee, Kokain statt Ritalin, Heroin statt Liebe.
Sagt nicht ein Sprichwort, dass man erst den Wert von etwas erkennt, wenn man es verliert? Das Leben ist ohne den Tod nichts wert. Deshalb trägt der Mensch seine eigene Zerstörung schon in sich, trotz Nordic Walking, Yoga und Vollkornbrot. Ich bin einfach nur ehrlicher als ihr.
Das Heroin schießt aus der Spritze in mein Blut. Der Flash haut mich um, ich knalle auf den kalten Asphalt. Langsam deckt mich der Schnee zu. Ich schlafe ein. Gute Nacht, Mama.