Würden wir diese Bestimmungen ernst nehmen, dann müssten wir unsere Wirtschaftsordnung vom Grunde her neu gestalten.
Niemand hat so wie der Aufklärer Rousseau die Bedeutung des Eigentums für die bürgerliche Gesellschaft hervorgehoben: Derjenige, der als Erster ein Stück Erde mit einem Zaun umgab und es als Eigentum bezeichnete und Leute fand, die ihm das glaubten, war der Begründer der bürgerlichen Ordnung. Er hat unzählige Kriege und den Tod von Millionen Menschen auf dem Gewissen. Er hat gegen elementares Menschenrecht verstoßen: Der Boden gehört niemandem, die Früchte allen.
Rousseau hat keinen Zweifel daran gelassen, wie dem abzuhelfen sei:
Die Menschenrechte müssen ergänzt werden durch einschränkende Bestimmungen über das Eigentum; sonst sind sie nur für die Reichen da, für die Schieber und Börsenwucherer.
Klingt dieser Satz nicht erstaunlich aktuell?
Nun gibt es im Geltungsbereich unseres Grundgesetzes Eingriffe in das Eigentum. Ich denke an Steuern, Enteignungen zum Zwecke des Ausbaus der Infrastruktur oder auch an Subventionen. Aber warum wird die Vermögensverteilung immer ungerechter? Ist es deshalb, weil das Eigentum in unserer Gesellschaft in vielen Fällen nicht dem zugesprochen wird, dem es von Rechts wegen eigentlich zustünde?
Die dem § 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches zugrundeliegende Auffassung vom Eigentum ist keineswegs neu. Schon Wilhelm von Humboldt schrieb:
Nun aber hält der Mensch das nie so sehr für sein, was er besitzt, als was er tut, und der Arbeiter, welcher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem wahreren Sinne Eigentümer als der müßige Schwelger, der ihn genießt.
Abraham Lincoln sagte schon 1847:
Die meisten schönen Dinge sind durch Arbeit entstanden, woraus von Rechts wegen folgen sollte, dass diese Dinge jenen gehören, die sie hergestellt haben. Aber es hat sich zu allen Zeiten so ergeben, dass die einen gearbeitet haben, und die anderen, ohne zu arbeiten, genossen den größten Teil der Früchte. Das ist falsch und sollte nicht fortgesetzt werden.
In allen Gesellschaften wurde die ungleiche Eigentumsverteilung zum Problem, insbesondere wenn sie von jüdisch-christlichen Ideen geprägt waren. Vor Gott sind alle Menschen gleich, und das muss sich auf das Zusammenleben der Menschen auswirken. Darum - so können wir schon im Alten Testament nachlesen - erfand Israel das Sabbatjahr. Nach einer Anzahl von Jahren mussten in Israel den Schuldnern die Schulden erlassen werden, und die Verteilung des Ackerlandes wurde neu verlost, um wieder Gleichstand herzustellen. Danach konnte der Wettbewerb der Menschen von Neuem beginnen. Aber nach einigen Jahren erhielt der Verarmte zurück, was er an den Reichen verloren hatte. Dieses Beispiel zeigt, dass es einen tiefen Grund gibt, die Werte Gleichheit, Freiheit, und Brüderlichkeit als Einheit aufzufassen.
Solange unsere Wirtschaftsordnung systemimmanent zu wachsender Ungleichheit führt, wird es Freiheit und Brüderlichkeit nicht geben und letztendlich auch keinen Frieden.
Das Privateigentum gilt in bürgerlichen Gesellschaften als Garant einer freien Gesellschaft und persönlicher Freiheit. Nur das Privateigentum führe zu wirtschaftlichem Fortschritt, wecke die Eigeninitiative, stärke die Selbstverantwortung und gewährleiste die persönliche Entfaltung. Doch nach wie vor hat diese Art von Selbstverantwortung einen Schönheitsfehler: Sie gilt nur für wenige und wird der Mehrheit nicht zugebilligt.
In einer Gesellschaft, in der die übergroße Mehrheit kein Vermögen und keine Produktionsmittel besitzt, lassen sich die Privilegien einer besitzenden Minderheit durch das Argument, sie wirkten persönlichkeitsbildend und garantierten die Freiheit, nicht als gesellschaftlich nützlich legitimieren.
In der frühen liberalen Gesellschaftstheorie ergab diese Eigentumsauffassung noch einen Sinn. Das private, weder durch obrigkeitsstaatliche noch durch traditionelle oder religiöse Vorschriften beschränkte Eigentum war ein Instrument des wirtschaftlichen Fortschritts, ein Ferment der Auflösung der feudalen Ordnung und der Herstellung der staatsbürgerlichen politischen Freiheit. Für die Väter des Liberalismus war das Privateigentum wegen dieser für die ganze Gesellschaft nützlichen Konsequenz legitim. Aber heute sind derartige Legitimationskriterien fragwürdig und von der Geschichte außer Kraft gesetzt worden. Wäre das wirtschaftliche Privateigentum auch dann der Garant einer freien Persönlichkeit in einer freien Gesellschaft, wenn es nicht breit gestreut ist, dann hätte es das nationalsozialistische Deutschland nicht gegeben.
Ein Teil der deutschen Großindustriellen verhalf Hitler zur Macht, um seine aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln herrührenden Privilegien durch den Nazistaat abzusichern. In Deutschland bildete also das ungleich verteilte Privateigentum zu jener Zeit auch die Grundlage für die Zerstörung der gesellschaftlichen Freiheit.
Ähnliches ließ und lässt sich weltweit in vielen Militärdiktaturen beobachten.
In der liberalen Gesellschaftstheorie legitimierte sich das wirtschaftliche Privateigentum nur durch den von ihm erzeugten gesellschaftlichen Nutzen. Heute kann diese liberale Gesellschaftstheorie auch dazu herangezogen werden, die Neuverteilung des Eigentums am Vermögen und am Produktivvermögen zu begründen. So wie die Neuverteilung des Eigentums ein Ferment der Auflösung der feudalen Ordnung und der Herstellung der bürgerlichen Freiheit war, so ist heute die gerechtere Verteilung des Vermögens und des Produktivvermögens das Ferment zur Auflösung des Absolutismus in der Wirtschaft und zur Herstellung einer demokratischen Gesellschaft.
Die Beteiligung der Belegschaften an ihren Betrieben eröffnet den Weg zu einer freieren und demokratischeren Gesellschaft. Wie kein anderer hat dies der leider viel zu früh verstorbene Liberale Karl-Hermann Flach formuliert - ich zitiere :
Heute sehen wir noch viel klarer, dass Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktfreiheit zu einer immer größeren Ungleichheit führen, welche die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Freiheit kleinerer Gruppen unerträglich einschränkt. Die Vermögenskonzentration in den westlichen Industriestaaten führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigender sozialer Sicherung der lohnabhängigen Massen zu einer Disparität, welche der Begründung der Besitzverhältnisse mit dem Begriff der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht.
So äußerte sich ein führender Liberaler vor drei Jahrzehnten. |