Gruppe Enigma - Texthaufen

Der erste Satz ...

Re: Der erste Satz ...

Der Regisseur ist nicht zufrieden. Marvin blickte stoisch aus dem Fenster der fast leeren U-Bahn auf vorbeirauschende Kabelschächte, Leitungen, Lichter. Er hatte sich weder verabschiedet noch hatte Marvin überhaupt seinen Abgang bemerkt. Verdammt, dabei hatte er alles gegeben, alles, hatte sich die Eingeweide herausgespielt, bis sein Körper nur noch als eine leere Hülle von der Bühne wehte. Er hatte sich verdammt nochmal den Arsch abgespielt! Er war so gut gewesen, er hatte sich vor sich selbst gefürchtet. Sicher würde er bis nächste Woche brauchen, um sich auch nur annähernd wieder aufzubauen. Nächste Woche war die Uraufführung. Und der Regisseur ist immer noch nicht zufrieden.

Wie ein kleines Kind ist er. Dies passt ihm nicht, das passt ihm nicht. Er mault solange, bis man ihn zufriedengestellt hat. Bis man den Wunsch in seinem Auge mit der Nadel getroffen hat. Ach was, er ist überhaupt nicht zufriedenzustellen. Er ist ein solcher Perfektionist, als König würde er wahrscheinlich jeden Hofnarr nach dem ersten Sketch köpfen lassen. Er ist irre! Ein Wahnsinniger, den man auf einen Regiestuhl gesetzt hat! Ein Demagoge, ein Paranoider, ein Freak! Verdammt, wenn er nur wüsste, was er falsch gemacht hatte! Aber aus diesem Irren war ja nichts herauszubekommen, er war ja wie das Orakel von Delphi bei Nebel.

Mit einem Knack öffnete Marvin den kleinen Flachmann, den er sich am Nachtkiosk an der Haltestelle gekauft hatte. Das Zeug schmeckte pelzig auf der Zunge und scharf im Hals, machte aber sofort ein warmes Gefühl im Bauch, half jedoch nicht gegen seine unglücklseligen Gedanken. Er sah sich um. Außer ihm saßen nur ein älterer Typ mit Krücken und recht armseligen, wenngleich gepflegten Klamotten sowie eine dunkelhäutige, dickliche Frau mittleren Alters in einem bunten Kleid und müden Augen in der Bahn. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er jetzt den "Izarro" gegeben. Vielleicht hätte er auch einfach nur geschrien. Oder "FUCK" in einen der Sitze geritzt. Marvin nahm noch einen Schluck. Scheiße nochmal, wohin fuhr er überhaupt? Nach Hause? Zu Hause gibt es nicht, dachte er sich. Wir sind alle nur auf Freigang aus der Hölle. Warum guckte der Typ mit den Krücken so gehässig zu ihm herüber? Fuck!

Die junge Frau konnte verdammt gut singen, und überschwängliche Lebensfreude sprang ihr aus jedem Millimeter ihres mädchenhaften Körpers. Zwei Jungs saßen zu ihren beiden Seiten, klatschten rhythmisch und feuerten sie an. Verdammt, und das in der U-Bahn-Station. Marvin lächelte. There is a house in New Orleans. Wie lange er das nicht gehört hatte! Sie war gut, verdammt gut! Und sie war einfach nur ein Mädchen, es war ihr scheißegal, ob sie überhaupt Zuhörer hatte. Die zwei Typen waren wahrscheinlich nur da, um sie davor zu schützen, von allen angequatscht zu werden. Vielleicht hätte er sie sonst sogar angequatscht. Aber er befürchtete, sie könnten ihn für einen Säufer halten. Dabei trank er immer erst nach der Arbeit, was manchmal spät werden konnte in seinem Job. Verdammt spät! Was für eine geile Stimme!

Noch einmal so zwanglos sein, dachte er sich! Sich um keinen verdammten Regisseur kümmern zu müssen, um keinen verdammten, ewig unzufriedenen Regisseur. Etwas Wildes, Gefährliches lag in der dunstigen Luft der U-Bahn-Station. Sollte er ihr Geld geben? Sie hatte nicht einmal einen Hut oder sowas vor sich. Nicht einmal einen Hut!

Der Typ mit den Krücken und die Lady waren immer noch hier, sie warteten auf eine Anschlussbahn. Außerdem noch ein Dutzend weitere Gestalten, die meisten mit Bier in der Hand, ein paar mit Fahrrädern, ein paar Pärchen, einer schlief unter der Bank. Nachtsternverkehr. Der Typ mit den Krücken guckte immer noch abfällig, diesmal aber zu dem singenden Mädchen. Die dunkelhäutige Frau guckte auch, aber ihren Blick konnte Marvin nicht deuten. Er nahm an, ihr gefiel es, aber sie hatte solche Sorgen, dass sie sich der Musik nicht hingeben konnte. Größere Sorgen als er. Als Marvin, der kleine, beschissene Theaterdarsteller, den keiner der Anwesenden hier jemals auf einer Bühne sehen würde. Er selbst wollte nicht weiterfahren, blieb nur wegen des Gesangs stehen. Wenn gleich die Bahn einfuhr, würde er seinen Hut nehmen und nach oben gehen, noch ein wenig die Lichter der Großstadt schnuppern. Seiner Großstadt. Vielleicht ein Stündchen an einer Bar sitzen, runterkommen. Ja, runterkommen.

Einem spontanen Impuls folgend, schneller als ein Gedanke sein könnte, nahm er seinen Hut in die Hand und lief einmal den Bahnsteig entlang: "Einen Dollar für die singende Lady! Ein Dollar für die singende Lady!" Mit einer tiefen Traurigkeit, die sich kein bisschen mit ihrer Lebensfreude widersprach, intonierte sie "Innocent when you dream" von Tom Waits. Marvin brach das Herz entzwei. Was war er nur für ein armseliger Wicht gegenüber dieser Lady. Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche und leerte etliche bunte Scheine in den Hut. Der Regisseur hatte recht gehabt mit seiner Unzufriedenheit. Er war gut gewesen, ja, aber es war dennoch nur Schauspiel. Totes Schauspiel. Arbeit, gekonnte, gelernte Arbeit. Einstudierte Dramaturgie, aber nicht authentisch. Das hier war echt. Das hier war Leben. Das hier berührte ihn, mehr als das ganze Stück, das sie nächste Woche aufführen würden.

Die Bahn fuhr ein, und er hatte tatsächlich ein paar Münzen eingesammelt, zusätzlich zu den Scheinen, die er hinzugefügt hatte. Er drehte sich um und wollte der kleinen Lady das gesammelte Geld überreichen, aber sie war schon mit ihren beiden Kerlen in die Bahn gestiegen. Marvin lief an den Türen vorbei, bis er sie sah. "Hier! Hab ich für dich gesammelt, kleine Lady! Nimm es, du hast es verdient!" Er blieb in der Trittstufe stehen, um nicht mit abzufahren, und hielt ihr den Hut hin. Sie lächelte. Dann schüttelte sie den Kopf. Ihr langes, braunes Haar hing ihr ins Gesicht: "Behalt dein Geld, Mann! Gib mir nur den Hut!" Ihr Lächeln schmerzte.

Kühle Luft umwehte seine Ohren, als er von der U-Bahn-Station auf die Straße trat. Der Hut war aus L. A., ein Geschenk des Marketingchefs der Produktionsfirma von Clint Eastwood. Drauf geschissen! Das ist Leben, dachte er sich. Das ist Leben!

Am gleichen Abend traf er die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen sollte. Ausgerechnet in einer Bar am Steintor. Das ist vielleicht ein Klischee, aber so war es nunmal. Und bei der Uraufführung war der Regisseur endlich zufrieden!



Das war gut!

Re: Der erste Satz ...

Ich finde es interessant, wie der Schauspieler den Leser zwischenzeitlich in eine amerikanische Großstdt träumt.


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Hier stand früher: "Frauen neigen zum Gegenteil." Aber jetzt nicht mehr.

Re: Der erste Satz ...

Zum Warmwerden:

Werkstatt, 27.11.2008

„Hier fehlt der erste Satz!“
„Nee, kann gar nich sein…“
„Doch Chef! Die Knarre ist da. Nur die Nüsse nicht.“
„Gib mal rüber!“
„…“
„Hm. Stimmt.“
„Meister, was machenwa denn jetzt?“
„Hm.“
„Ohne Nüsse geht’s nich.“
„Jou, Atze, ich geh erst ma n Kaffe trinken. Du suchst.“
„Was? Wieso ich? Kann Benno das nich machen?“
„Benno ist grad beschäftigt.“
„Benno sitzt rum und raucht!“
„Sach ich doch! Mach, was der Meister Dir sagt.“
„Ey, echt ey…“
„Probleme?“
„Hrrrmnee…“
„Gut. Meldst Dich, wennstes gefunden hast, ich bin im Büro.“
„…“
„Hey, Atze, was suchstn, he? “
“Die Scheiß Nüsse, ey. “
“Hat Benno die nicht grad gehabt?”
„Der blöde Benno macht wieder mal Pause und ich muss ackern! Kack Tag heut!“
„Gib mal die Knarre her.“
„Nee, Justi, die gehört dem Chef!“
„Los, Atze, ich mach nur mal eben was…“
„Gut, pass bloß drauf auf, ey!“
„…“
„Hände hoch, Benno, aber dalli! Gib die Knete her! Mach hinne!“
„Ey, Justi, dat isne Knarre, mach kein Scheiß!“
„Na drum, Benno altes Haus, her mit der Knete!“
„MEISTEEER! Die machen Ärger, die beiden hier!“
„Pscht! Sonst…“
„MEISTER!“
„Wasn hier los?“
„Ich hab die Nüsse gefunden, Chef! Benno saß drauf. Und hier ist auch ganz viel Knete!“
"Ach schön, da sind ja die Nüsse! Super Atze, Knete ist auch da, dann kanns ja los gehen! Benno? Anfangen?“
„Wieso immer der Benno! Die Strebersau hat nix getan außer rumsitzen und rauchen!“
„Justi, gib Benno die Knarre!“
„Wenn mans genau nimmt, Chef, isses gar keine Knarre…“
„Schon klar, hör auf zu maueln, steck den Stecker rein, Benno. Atze, gib die Heißklebepatrone rüber!“
„Jaja, und die Nüsse… Hier, Ben.“
„Justi, sind die Tannenzweige auch frisch?“
„Ja, ganz frisch.“
„Wo ist der Schmuck, Benno?“
„Hier. Sternchen sind fertiggebastelt. Hab noch n paar Nudelengel dazu gemacht.“
„Wow, cool, Nudelengel!“
„Benno, Du bist unser Held! Du hast ja auch das Leuchtkerzengebamsel und s Goldspray! Warts nur ab, bis Meisters Mutti das gesehen hat, dann bekommst du n Riesensatz Zimtsterne. “

Re: Der erste Satz ...

Ein Schmetterlingsküsschen für Dörte.

Re: Der erste Satz ...

Ein Schmetterlingsküsschen für Dörte. So dürfen Geschichten nicht anfangen, sie sollten immer in etwa so beginnen:
Irgendwo im Westen brannte die Mittagssonne erbarmungslos auf die trostlos in die Wüste gestampfte Stadt nieder. Keine Seele war auf der staubigen Strasse zu sehen, bis auf ein ausgetrocknetes Huhn.
Ich sprang vom Pferd. Der Saloon sah genauso heruntergekommen aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, nur war der Putz noch stärker verwittert, als beim letztenmal.
Innen empfing mich schwüle Luft. Die wenigen Fenster waren mit Brettern vernagelt, so saßen die Gäste am Tage im Dämmerlicht.
Es waren nicht viele anwesend. Buffalo-Bill, Jack und - wie ich es erwartet hatte - Joker, der Gauner mit dem Engelsgesicht. Sie spielten Karten.
Ich kannte die drei, wahrscheinlich würde ich es mit ihnen allen aufnehmen müssen, dabei hatte ich es nur auf Joker abgesehen.
An der Bar saß ein betrunkerner Cowboy, der Cindy umständlich anlallte. Cindy stütze ihre Ellenbogen auf den Thresen, hinter dem sie stand, und als sie mich bemerkte, richtete sie sich mit blitzenden Augen auf.
Jetzt drehte sich auch Joker zu mir um, aber gegen das gleißende Sonnenlicht im Eingang konnte er mich nicht erkennen.
Diesen Vorteil wollte ich ausnutzen. Ich zog meinen Revolver, doch noch bevor ich schießen konnte, traf mich ein Messer scharf und schneidend in meinem Bauch. Buffalo-Bill oder Jack! Beides miese Ratten, einer von ihnen war schneller gewesen.
Die Wucht des Schmerzes ließ mich in die Knie sacken. Cindy kam hinter dem Thresen hervorgestürzt und fing meinen Kopf auf, bettete ihn in ihrem Schoß. Der grelle Schmerz wich, aber langsam wurde mir bewußt, dass ich sterbe. Mein Bauch war nass von meinem Blut und ich konnte fühlen, wie es aus mir immer weiter herausschoß.
Noch immer hatte keiner etwas gesagt. Es dauerte eine Weile, bis ich es schaffte Cindy leise nach ihrem richtigen Namen zu fragen. Mit tränenfeuchten Augen flüsterte sie mir ihr Gheimnis ins Ohr. Ich bekam es kaum noch mit, aber scheinbar legte sie ihre Lippen auf meine. So schloss ich die Augen und gab ihr einen Kuss.
Ein Schmetterlingsküsschen für Dörte.


Die Strassenbahn kommt in 15 Minuten.



Re: Der erste Satz ...

Beides sehr lustige und literarische Geschichten. Würde jetzt mehr schreiben, aber meine Straßenbahn kommt in 15 Minuten.



Die literarische Störung ist eine Diagnose, die uns allen gestellt werden könnte. (S.L.)

Re: Der erste Satz ...

Wir brauchen einen neuen Satz! Ähm, vielleicht ich, wenn keiner mitspielt. Macht einer?

(neiiin, ohne Scherz, ohne Scherz!)

Re: Der erste Satz ...

Wie wärs mit dem, der da noch steht?

Re: Der erste Satz ...

"Wie wär's mit dem, der da noch steht?"
"Nee, der sieht doof aus."
"Und der?"
"Welcher, der da hinten?"
"Ja."
"Nö. Der ist sieht so schief aus."
"Wie: Schief?"
"Naja, so krumm halt, guck doch hin!"
"...Seh ich nicht."
"Doch! Krumm. Das geht gar nicht!"
"Nimm doch den von vorhin, den Statttlichen."
"Stattlich können viele sein..."
"Der ist doch aber echt hübsch gewesen!"
"Hm. Hübsch..."
"Erfüllt doch bestimmt auch seinen Zweck."
"Meinste? Steht der denn dann auch ordentlich? Ich mein, lange genug?"
"Ja, woher soll ich das wissen! Lass uns noch mal gucken gehen."
"...Sieh an."
"Hast recht. Schön."
"Ja, in der Tat, ein Prachtexemplar."
"Okay, den nehm ich! Los, fass mal mit an!"
"Hey, nee, ich kann den nicht anfassen, der piekst!"
"Du bist echt n Weichei! Hier haste meine Handschuhe. Los!"
"..."
"Guck mal, da hängt was. Da unten. Siehste das?"
"Ja, Du Doofi, das ist der Preis! 19.95!"

Re: Der erste Satz ...

SAAAATZ!

Re: Der erste Satz ...

Hände waschen und Essen kommen, bitte!