. Frankfurter Allgemeine Zeitung, SAMSTAG, 19. NOVEMBER 2016, NR. 271 - SEITE 3 - Politik
[ Der Artikel füllt die gesamte SEITE 3 dieser Ausgabe dieser Tageszeitung ] [ Online ist der Artikel jedoch nirgens aufzuspüren. ] [ Dieser Artikel sollte, meines Erachtens, keinem Betroffenen vorenthalten bleiben. ]
[ Zu dem Autor dieses FAZ-Artikels, Reiner Burger, siehe WIKIPEDIA @ https://de.wikipedia.org/wiki/Reiner_Burger ]
Autor: Reiner Burger
Die Tabletten-Kinder
Medikamente wurden noch bis in die siebziger Jahre an Heimkindern und milieugeschädigten Jugendlichen getestet. Ohne Rücksicht auf die Nebenwirkungen.
[ Artikel mit vier Fotos --- eins davon mit der Beschriftung: Die tägliche Dröhnung: Heimarzt Waldemar Strehl auf einem Bild von 1959 Foto Franz Sales Hausʹ Wilhelm Strickum ]
Tabletten, Tabletten, Tabletten. Wir bekamen immer für irgend etwas Medikamente., erinnert sich Anton Turinsky [ Karl-Anton Turinsky ! ]. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder kam er 1955 ins Franz Sale Haus in Essen, ein katholisches Heim für behinderte und auffällige Kinder. Ihre Mutter hatte psychische Probleme, ihr Vater fühlte sich mit den zappeligen Zwillingen überfordert. Es hieß, wir hätten erblich bedingt eine Belastung, wurden von Heim zu Heim im Rheinland herumgereicht. Damals hatte man ganz schnell den Stempel ,Schwachsinnʻ. Gerade fünfeinhalb waren die beiden, als sie schließlich das Sales-Haus aufnahm. Manche besonders unruhigen Kinder bekamen morgens, mittags, abends Pillen. Sie wussten schon, wenn sie sich in Reih und Glied aufzustellen hatten, erzählt Turinsky. Die Schwestern kamen mit einem Serviertablett, auf dem die Medikamente lagen. Dann wurde noch in den Mund geschaut, ob man die Pille wirklich geschluckt hatte. Tabletten gehörten für uns Heimkinder zum Alltag.
Anton Turinsky war erschüttert, als er vor wenigen Wochen eine Liste des damaligen Heimarztes Waldemar Strehl zu Gesicht bekam. Unter dem Datum 28. Januar 1958 führte der Mediziner detailliert Protokoll über den experimentell-hochdosierten Einsatz des kurz davor vom Pharmahersteller Merck auf dem Markt eingeführten Neuroleptikums Decentan an 29 Bewohnern des Heimes, die meisten von ihnen im Alter von fünf bis dreizehn Jahren. Die Nebenwirkungen waren dramatisch. Bei mehreren Probanden vermerkte Dr. Strehl Blick-, Starr und Schreikrämpfe. Zunge war wie gelähmt, heißt es bei einem Jungen, bei einem anderen: Nach erneuter Behandl. mit 8 mg (4 Tabl.) Schrei- und Blickkrämpfe, Torsionsspasmen, Meningismus. Neben dem Namen des damals acht Jahre alten Anton Turinsky finden sich ähnliche schockierende Einträge.
Die Pharmazeutin Silvia Wagner stieß bei ihren Recherchen auf die Strehl-Liste. Wagner schreibt derzeit ihre Doktorarbeit über Arzneimittelstudien an Heimkindern. Sie wertete zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren aus und recherchierte im Bundesarchiv oder bei Pahrmaunternehmen wie Schering und den ehemaligen Behringwerken. Besonders offen und hilfreich war man bei Merck in Darmstadt, sagt Wagner. Während andere Unternehmen ihre Unterlagen teilweise schon vernichtet haben, ist bei Merck alles vorbildlich abgelegt, deshalb konnte ich auch die Liste von Dr. Strehl finden.
Vor kurzem veröffentlichte Wagner eine Vorstudie mit ihren bisher wichtigsten Ergebnissen über dieses, wie sie formuliert, unterdrückte und verdrängte Kapitel der Heimgeschichte. Wagner fand Belege für etwa fünfzig Versuchsreihen mit Kindern in Heimen in ganz Deutschland zwischen 1957 und 1972. In keinem einzigen Fall stieß sie auf Hinweise, dass die Betroffenen oder ihre Eltern vorab um ihre Einwilligung gefragt worden wären. Nach ihren Recherchen ist die Pharmazeutin überzeugt, dass seinerzeit viele neue Medikamente auch an Heimkindern getestet wurden. Diese Funktionalisierung von Kindern und Jugendlichen zu Versuchpersonen stellt eine Form von Gewaltanwendung dar, die jene Gewalt ergänzte und unterstützte, die sie in ihren Heimen ohnehin schon erfuhren, sagte Wagner. Sie wurden unter Missachtung ihrer Bedürfnisse und Rechte zu bloßen Forschungsobjekten degradiert.
Zumindest in einem, schon 2011 von Bochumer Historiker Uwe Kaminsky entdeckten Fall geschah das sogar mit Billigung der Behörden: 1966 fand im Heim Neu-Düsselthal in Düsseldorf eine Psychopharmaka-Versuchsreihe mit schwererziehbaren Kindern statt. Verabreicht wurde ihnen das Neuroleptikum Truxal der Troponwerke. Die zuständigen Landesbehörden hatten zunächst Bedenken: Sie bezweifelten, dass die gewonnenen Ergebnisse für die Heimarbeit relevant seien, und fürchteten den Widerstand der Eltern der in einer besonderen Testreihe einbezogenen Kinder. Schließlich einigten sich die Behörden einfach mit dem für den Test verantwortlichen Mediziner von der Rheinischen Landesklinik Düsseldorf darauf, dass es sich bei dem Vorhaben nicht um einen Test im Sinne eines experimentellen Medikamentenversuchs handele. Eine Einwilligung hielt das Landesjugendamt nun nicht mehr für nötig. Schließlich habe das Amt als Träger von Erziehungsrechten und -pflichten an Stelle der Eltern die bestmögliche Hilfe zu gewährleisten.
Noch Anfang der siebziger Jahre fand unter ebendiesen Vorzeichen in der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie Viersen-Süchteln eine Studie mit dem Neuroleptikum Dipiperon statt, das das Pharmaunternehmen Janssen zur Verfügung gestellt hatte. Bei den Probanden handelte es sich überwiegend um milieugeschädigte Kinder, die aus sehr ungünstigen sozialen Verhältnissen stammten. Sie waren zwischen zwölf und vierzehn Jahre alt. Die Ärzte nahmen hirnorganische Störungen und milieureaktive Störungen an, wie es in Unterlagen von damals heißt.
Im Landeskrankenhaus in Schleswig wurde ebenso wie in den Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (Bielefeld) vor Markteinführung das Medikament Encephabol anfang der sechziger Jahre auch an Epilepsie-Patienten im Kindesalter gestestet. Die Mediziner setzten damals große Hoffnungen in neue Medikamente, beschränkten sich die Behandlungsmöglichkeiten von Epilepsien doch lange im Wesentlichen auf Brompräparate. Erst später wurden Fortschritte mit anderen Arzneimitteln erzielt. Über 38 ausgiebig geprüfte Fälle, in denen er das Mittel mit Testbezeichnung B6/II eingesetzt hatte, berichtete der in Bethel zuständige Arzt an Hersteller Merck. Nach Durchsicht eigener Akten geht Bethel davon aus, dass keine rechtskräftige Einwilligung der gesetzlichen Vertreter der Kinder vorlag. Wenn dem tatsächlich so ist, hat es sich bei den Versuchen schon damals um Grundrechtsverstöße gehandelt, sagt Günther Wienberg vom Vorstand der Bodelschwinghschen Stiftungen. Bethel werde das Thema Medikamentenvergabe, Medikamentenversuche und Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie umfassend aufarbeiten.
Sabine Bernschneider-Reif hat sich ein Aktenkonvolut auf ihrem antiken Arbeitstisch parat gelegt. Bernschneider-Reif ist Leiterin der Abteilung Corporate History von Merck. Das älteste chemisch-pharmazeutische Unternehmen in der Welt ist sehr geschichtsbewusst. Zur Abteilung Unternehmensgeschichte zählen ein Museum, eine historische Bibliothek und eben ein großes Archiv, das Medizin- und Wissenschaftshistoriker aus dem In- und Ausland schätzen. Wir unterstützen selbstverständlich auch die Aus- und Aufarbeitung des Heimkinder-Themas, sagt Bernschneider-Reif. Sie nimmt die Liste des Essener Heimarztes Dr. Strehl aus dem Konvolut. Die Pharmazeutin und Historikerin schüttelt den Kopf, als sie die Ergebnisse der Anwendungen des Essener Heimarztes noch einmal liest. Vieles bleibt auch für Bernscheider-Reif ein Rätsel. Nach welchen Kriterien wählte der Mediziner seine Probanden aus? War die hohe Dosierung Willkür? Welche Beziehung bestand überhaupt zwischen Merck und dem Mediziner? Grundsätzlich ist es wichtig das gesamte Thema im Kontext des historischen Erfahrungsraums zu sehen, sagt Bernscheider-Reif.
Tatsächlich ist aus heutiger Sicht undenkbar, was damals Rechtslage und gängige Praxis war. Es gab seinerzeit noch kein Zulassungsverfahren für Medikamente. Wie bei der pharmakologischen Prüfung gab es in den fünfziger Jahren auch für klinische Studien keine verbindlichen Regelwerke, vielmehr lagen Umfang und Ausgestaltung des Verfahrens praktisch im Ermessen von Ärzten und pharmazeutischer Industrie. Selbst nach Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes im Jahr 1961 gab es kein vorgeschriebenes Zulassungsverfahren. Das änderte sich erst 1976. Bis dahin handelte es sich bei den Prüfberichten von Kliniken und niedergelassenen Ärzten oft um unsystematische Rückmeldungen mit Allgemeinformeln und nicht selten einfach nur um wohlfeile Unbedenklichkeitbescheinigungen. Hatte ein Unternehmen alle notwendigen Unterlagen eingereicht, war das Bundesgesundheitsamt verpflichtet, ein neues Medikament zu registrieren, auch wenn es nicht wirksam oder gar gesundheitlich bedenklich war.
Die Mediziner hatten für sich in Anspruch genommen, selbst festlegen und steuern zu können, welche Arzneimittel von Nutzen sind und welche nicht, schreibt der Historiker Niklas Lenhard-Schramm in seinem im Sommer [2016] vorgelegten Standardwerk über den Contergan-Skandal. Im Fall Contergan hatte das zur Folge, dass sich kaum ein Mediziner an die Behörden wandte, als erste gravierende Nebenwirkungen bekannt geworden waren. Lenhard-Schramm bezeichnete das als Genehmigungspraxis im Sinne eines Laissez-faire.
Wie ungeordnet das Überprüfungsprozedere für neue Medikamente ablief, lässt sich bei Decentan exemplarisch nachzeichnen. Unter der Bezeichnung T57 wurde die Arznei in verschiedenen Kliniken getestet darunter auch die Kinderstation der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren im bayrischen Allgäu oder das Hapheta-Heim im nordhessischen Treysa. Mit Blick auf die Markteinführung am 1. Dezember 1957 wandten sich Vertreter der Wissenschaftlichen Abteilung von Merck an weitere Krankenhäuser, Universitätskliniken und niedergelassene Ärzte. Noch in einem Sammelbericht Berlin von Ende Januar 1958, heißt es trotz der insgesamt zahlreichen Fälle an vielen Prüfstellen ergebe sich, wie zu erwarten war, kein einheitliches Bild über Indikationen, Dosierungen, Wirksamkeit, Nebenerscheinungen. In jenen Tagen besuchte auch ein Merck-Vertreter Dr. Strehl im Essener Franz Sales Haus, nahm vermutlich die Liste entgegen und ließ sich die für uns sehr deprimierenden Ergebnisse ausführlich darlegen. Er habe nicht verschwiegen, dass er die von Strehl gewählte Dosierung für viel zu hoch halte, heist es im Besuchsprotokoll des Merck-Vertreters. Strehl sei offenbar an medikamentösen Nebenwirkungen bei seinen Zöglingen, bei denen es sich zumeist um Patienten mit erethischem Schwachsinn, also Unruhezustände handelte, einiges gewöhnt. Für die Einführung in der Heimpraxis halte Strehl Decentan für nicht geeignet, heißt es in dem Protokoll. Trotzdem setzte der Mediziner den Einsatz dann in geringerer Dosierung fort. Im März 1958 berichtete ein Merck-Vertreter dann über gute Erfolge an seine Zentrale in Darmstadt. Strehl arbeite nun mit Vier-Milligramm-Tabletten in der Dosierung 3- 5-mal täglich und habe die Acht-Milligramm-Tabletten abgesetzt. Die Schwestern des Hauses fordern laufend die 4-mg-Dragees nach, da sie somit endlich Ruhe auf den Stationen haben und die Kinder auch tadellos schulfähig gehalten werden.
Ein Merck-Sprecher legt wert auf die Feststellung, das sein Unternehmen seinerzeit nicht rechtswidrig gehandelt habe. Daher stellt sich die Frage nach Wiedergutmachung nicht. Sollten sich Dritte nicht entsprechend der Gesetzeslage verhalten haben, bedauern wir das selbstverständlich.
Das [katholische] Franz Sales Haus in Essen ist viel mehr als ein Haus es ist [wie das evangelisch-lutherische Bethel in Bielefeld - MM] eine kleine Stadt für Menschen mit geistigen, psychischen und mehrfachen Behinderungen. In der katholischen Einrichtung gibt es [heute - MM] einen Biobauernhof und das moderne Hotel Franz, in dem Bewohner mitarbeiten und [heute - MM] gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben genießen. Über die Grenzen Essens hinaus als besonders gelungenes Beispiel für Inklusion gilt der [seit 10. Mai 1978 bestehende - MM] Sportsverein DJK Franz Sales Haus in dem Menschen mit und ohne Behinderung Sport treiben. Als vorbildlich gilt das Haus auch im Umgang mit seiner eigenen Geschichte. Als vor einigen Jahren erstmals über die skandalöse Pädagogik in vielen Heimen in der Nachkriegszeit, die Misshandlungen und den sexuellen Missbrauch von Heimkindern berichteten, zählte das Sales-Haus zu den ersten Einrichtungen, die unabhängige Forscher mit einer Aufarbeitung beauftragten. 2012 legte der Historiker Bernhard Frings von der Ruhr Universität Bochum seine Studie vor. Hinweise auf einen Medikamententest fand der Forscher im Heimarchiv damals nicht.
Umso mehr wurde Heimdirektor Günther Oelscher nun von den neuen Rechercheergebnissen überrascht. Wir werden auch diese Frage von unabhängigen Wissenschaftlern aufklären und einordnen lassen und unsere Aufarbeitung vervollständigen, verspricht Oelscher. Im Dezember [2016] will das Kuratorium des Hauses einen entsprechenden Beschluss fassen. Wie die Bodelschwinghschen Stiftungen in Bethel will auch das Sales-Haus an einem Forschungsprojekt der nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) teilnehmen.
Steffens hat die Verantwortlichen aller nordrhein-westfälischen Einrichtungen, in denen es nach bisherigem Kenntnisstand zu Medikamententests an Heimkindern gekommen ist, am 25. November [2016] in ihr Ministerium zu einem Treffen eingeladen. Klar ist, dass die eigentliche Aufarbeitung und Dokumentation durch unabhängige Personen erfolgen muss, sagt Steffens. Nur zu erforschen, was genau damals in den verschiedenen Heimen geschah, reiche aber nicht aus. Um die Dimension der Geschehnisse mehr als ein halbes Jahrhundert später angemessen bewerten zu können, brauchen wir eine fundierte zeitgeschichtliche Einordnung. Den Auftrag für eine Studie zum historischen Kontext und zur rechtlichen Aufarbeitung will das Land vergeben. Das Projekt werde aber leider Zeit in Anspruch nehmen.
Dabei gibt es schon ein ganze Reihe von Grundlagenstudien, die man nur systematisch auswerten muss. Zum rechtlichen Rahmen findet sich viel in der von Steffens selbst in Auftrag gegeben Contergan Studie. In einer umfangreichen LVR Studie über die Nachkriegsgeschichte der öffentlichen Heimerziehung im Rheinland schilderte der Historiker Kaminsky vor fünf Jahren, wie es in der Nachkriegszeit allmählich in Mode kam, schwererziehbare Kinder mit Medikamenten zu sedieren: Zum einen ging es darum, bei den Kindern die pädagogischen Angriffsflächen zu verbreiten, wie 1967 der Düsseldorfer Landesobermedizinalrat formulierte. Die neuen Mittel galten in der Heimerziehung als Fortschritt. Zum anderen führten die Überbelegung vieler Heime und die unzureichende pädagogische Ausbildung vieler Erzieher zu permanenter Überforderung. Viele Erzieher wussten sich nicht anders als mit körperlicher Gewalt zu helfen.
Die Medikamentengabe fanden viele als ,Modernisierung des Erzieherhandelnsʻ weil körperliche Disziplinierungsmaßnahmen bei erziehungsschwierigen Kindern entfallen konnten, sagt Kaminsky. Er spricht von einer Medizinierung der Pädagogik. Die Dokumentenfunde von Silvia Wagner machten deutlich, wie regelmäßig Heimkinder Opfer von Versuchsreihen werden konnten.
Im Franz Sales Haus herrschte seinerzeit schon deshalb eine ärztlich-medizinische Dominanz, wie Frings in seiner Studie über das Essener Heim schreibt, weil es neben Dr. Strehl keinen Heilpädagogen oder Psychologen gab. Er entschied mit seinen Gutachten weitgehend allein über die Lebenswege der Kinder. Häufig riet er, trotz eigentlich positiver Entwicklung, zum Verbleib der Kinder und Jugendlichen im Heim. Die meisten waren wie Anton Turinsky und sein Zwillingsbruder von einem Amtsarzt oder einer Landesklinik mit der Diagnose Schwachsinn, moralischer Schwachsinn oder erethischer Schwachsinn, die aus der Zeit des Nationalsozialismus übernommen wurden, nach Essen geschickt worden. Und viele Eltern nahmen das Etikett Schwachsinn in Kauf, weil sie hofften, dass ihr Sorgenkind im Sales-Haus die beste Förderung bekommt.
Bis zu seinem Wechsel an eine andere Einrichtung im Frühjahr 1969 konnte Strehl im Sales-Haus, schalten und walten, wie er wollte. Sogar zur Bestrafung setzte er laut Friggs Medikamente ein: Immer wieder sollen Zöglingen sogenannte Betonspritzen oder Kotzspritzen verabreicht worden sein, die zu heftigen Erbrechen oder verübergehender Bewegungsunfähigkeit führten.
Strehl sei für die Schwestern wie ein Heiliger, ein Gott in Weiß gewesen, erinnert sich Anton Turinsky. Wenn wir untersucht wurden, mussten wir immer in einer Reihe stehen mit nackten Oberkörpern. Die Nonnen ermahnten uns: Keine Widerworte, wenn der Doktor spricht. An den Test, auf den er mit zu heftigen Nebenwirkungen reagierte, kann sich Turinsky nicht erinnern, auch nicht an medikamentöse Strafen. Aber an die tägliche Dröhnung in meiner Kindheit kann ich mich gut erinnern. Zwei Stunden Mittagsschlaf mussten wir täglich machen, damit die Nonnen ihre Ruhe hatten, das ging nur mit Tabletten.
Nein, eine Entschuldigung wegen der vielen Medikamente und wegen des Tests mit Decentan an ihm erwarte er nicht, sagt Turinsky. Von den Verantwortlichen lebt ja niemand mehr. Was ihn vielmehr umtreibe, sei das Etikett Schwachsinn, dass man ihm damals aufdrückte. Turinsky zieht seinen Lebenslauf aus einer Dokumentenmappe hervor. Als er 1968 das Sales-Haus verließ, machte er eine Bäckerlehre. Später arbeitete er bei einem Konditor in Düsseldorf. Von einer Mehlstauballergie ließ er sich nicht unterkriegen, sondern schulte zum Feinmekaniker um. Bis zu seiner Rente war Turinsky Vorarbeiter, Schichtleiter und Ausbilder in einem High-Tech-Unternehmen beschäftigt. Ich habe so ziemlich alles gemacht, wofür man mich in meiner Kindheit und Jugend für zu doof gehalten hat. . |