Sagen und Meinen
Ich hatte mein Exemplar, gehörig mit blauen Anmerkungen versehen, an eine gute Freundin in Rheinland-Pfalz mit der Erwartung verschickt, daß es mit grünen oder schwarzen Anmerkungen bald wieder zurückkommt. Ich habe jetzt also keines unmittelbar zur Hand.
Olaf Georg Klein, "Ihr könnt uns einfach nicht verstehen Warum Ost- und Westdeutsche aneinander vorbeireden", Frankfurt/M. 2001.
Warum hat mich das vor einigen Wochen für zwei/drei Tage interessiert? Weil das, was man in einer Auflage von tausenden Exemplaren so schreibt, vorwiegend im Westen konsumiert wird, nur wenige Bände gelangen in die neuen Bundesländer.
Aber auch im persönlichen Gespräch erlebt man eine Fülle von Mißverständnissen, selbst wenn man sich mit der betreffenden Person bisher immer sehr gut unterhalten konnte. Jedenfalls war ich gehalten, mir über einige Hintergründe klar zu werden.
Freilich könnte jemand einwenden, daß die Unterschiede auch zwischen Norden und Süden, von Holstein bis Bayern, oder innerhalb der östlichen Bundesländer groß sein können. Das stimmt sicher. Aber man kann von "Kommunikationskulturen" sprechen, in denen man im Westen oder Osten in den ersten Lebensjahrzehnten aufgewachsen ist.
Eine dieser Kommunikationsunterschiede, die mir in den letzten Tagen besonders hier im Forum aufgefallen sind, kann man unter der Überschrift fassen:
Sagen und Meinen
"Habe ich doch gesagt!" "Was hast Du genau gesagt?" "So habe ich es gesagt, kannst Du nicht lesen?"
Vor so einem Streit, der nach diesem Muster abläuft, steht man aus dem Osten einigermaßen fassungslos. Weil man nicht gleich begreifen will, warum das so wichtig ist, was der jeweils andere nun wörtlich gesagt hat. Einem Ossi erscheint das als ein Streit um des Kaisers Bart, der in einem anderen, vom Westen geprägten Kommunikationszusammenhang aber als wichtig empfunden wird: was wurde denn nun genau gesagt?
Träfen nun die beiden Vertreter der beiden Kommunikationskulturen aufeinander, würde sich das vielleicht so abspielen:
W: "Was hast Du genau gesagt?" O.: "Weiß ich nicht mehr. Sinngemäß habe ich wahrscheinlich gesagt, daß ..."
W: "Das ist aber nun ein gewaltiger Unterschied! Das ist doch schon wieder etwas ganz anderes!"
O.: "Findest Du? Entscheidend ist doch, was gemeint war, nicht der genaue Wortlaut, was gesagt wurde?"
Da sind wir nun angekommen an dem Punkt, was "gemeint" war. Der mitgedachte Hintergrund kann höchst unterschiedlich ausfallen, doch merkt man das im Gespräch nicht gleich.
Ich wundere mich, mal völlig unabhängig von dem, worum es geht, wie sich hier bestimmte Auseinandersetzungen über 13, 14 und immer mehr Schleifen ziehen, offenbar, weil immer die eine Seite meint, das von ihr schon alles "gesagt" sei ("Kannst Du nicht lesen?" ), während die andere fordert: "Dann sag doch, was Du eigentlich meinst!"
Ihr werdet doch auch mitbekommen haben, daß ich in den mehr als zwei Jahren Existenz des Forums an dieser Art gestrickten Debatten zumeist nicht teilnehme (und dann auch "in Ruhe gelassen" werde), daß dafür als "dialogisch" angelegte Beiträge sehr oft nicht beantwortet werden, wahrscheinlich weil man mit ihnen nicht viel anzufangen weiß.
Wenn ich einen Beitrag abdrücke, dann ist der oft nach dem Muster: "Mal sehen, was der dazu sagt! Aber man könnte das ja auch von einer gänzlich anderen Seite sehen?" Dann kommen angenommene Gegenmeinungen, die dann wieder be"kämpft" werden.
Entsprechend den Regeln der "Forennettiquette", die ab und zu irgendwo eingestellt werden, wird ein solches eher "dialogisches" oder "spielerisches" Vorgehen auch nicht als fair angesehen. Kein Wunder: wie das Internet selbst kommen auch diese Regeln aus dem Westen, sind stillschweigende Übereinkünfte, die sich aus Erfahrungen speisen.
Ich bringe es einfach nicht fertig, mich hinzustellen: "Das ist meine Meinung! Nun beweist mir, daß ich nicht richtig liege." Weil in der anderen Hirnhälfte zumeist der Schalk sitzt, der sagt: "Na könnte man das nicht auch wieder von einer ganz anderen Seite betrachten?"
Dann kommt der übliche Austausch von "Fakten, Fakten, Fakten ...", die für sich genommen erst einmal oft gar nichts beweisen, Herr Marquardt, sondern erst in einem bestimmten Zusammenhang ihre Beweiskraft entfalten...
Erinnert Ihr Euch an die Art Jessis, den ich auch deshalb hier schmerzlich vermisse? Da kam doch oft, wenn er zu tänzeln schien: "Nun leg Dich doch mal fest!" Wenn hier auch in vielem völlig verschieden waren, aber gemeinsam war sicher: Es wird etwas ausprobiert. Da kann man sich nicht immer auf eine Formulierung festnageln lassen. Gemeint war ja eigentlich ... Und das Spiel geht weiter, das oft als Opportunismus ausgelegt wird.
Der gebürtige Ostberliner Olaf Georg Klein, studierter Theologe, Psychologe und Politologe (wie konnten Eltern in unserem gemeinsamen Geburtsjahrgang, als meiner statistisch der häufigste war, ihr Kind "Olaf Georg" nennen? na gut, kann ja keiner dafür),l geht allerdings in seinem Büchlein nicht auf die Ursachen ein, weshalb sich das so entwickelt hat. Ich kann jetzt mal nur vermuten:
Die Partei, die Partei, die hat immer recht, und wenn die sagt: "Es ist so!", dann ist es so, und wenn Du behauptest, daß es nicht so ist, dann kannst Du Dir auf der Landkarte schon mal ansehen, wo Bautzen liegt!"
Wie reagiert man nun, wenn man tatsächlich zu der Ansicht gelangt sein sollte, daß es nicht so ist?
Im schönen Habermas-Jargon wird gefordert, einen "herrschaftsfreien Diskursraum" zu erstreben. Du kannst nicht gewaltfrei diskutieren, wenn die Stasi mithört und wenn Dein Gesprächspartner auch von der Firma sein könnte... Und die, die dem Herrschaftsapparat selbst angehörten, haben sich erst recht diesen Stil angewöhnt, wenn sie nichts zu "sagen" hatten (Achtung Wortspiel!). Daher wahrscheinlich das jahrzehntelang eingeübte Versteckspiel, des Nicht-Greifen-Lassen-Wollens, das einem gar nicht weiter bewußt, aber in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Mach das mal, wird man einwenden, in einem Land, in dem die Banken die Macht haben, und über die Großbanken etliche Richter, etliche Regierungen, etliche Redaktionen und Fernsehstationen, etliche Parlamentarier ... Nun sprich das mal aus, im allgemeinen passiert dir jetzt noch gar nichts. Wer aber angesichts dieser Umstände an die Existenz "unbegrenzter Pressefreiheit" glaubt, na ja...
Aber wir haben ja das Internet. "Das hast Du aber jetzt was gesagt!" "Habe ich das wirklich gesagt?" "Kannst Du nicht lesen?" "Wenn ich das gesagt haben sollte, habe ich das vielleicht noch ganz anders gemeint..."
Rhoeni