Geschichten - Storys

Das Leben der Christine Walter

Das Leben der Christine Walter

Das Leben der Christine Walter

1. - Das ewige Versprechen

„Und das ist für dich mein Schatz.“, sprach Hannelore Walter zu ihrer Tochter und reichte ihr ein Geschenk. Das kleine Mädchen nahm es freudestrahlend an. „Danke Mama.“ Christine schmiss sich auf das Bett ihrer Mutter und griff mit ihren kleinen Händchen nach der Schleife und öffnete sie. Sie hob den Kartondeckel und zum Vorschein kam eine selbstgestrickte Wolldecke mit kleinen Erinnerungsfotos der Familie eingenäht. „Die ist wunderschön und so kuschelig!“ Das Mädchen war ganz aufgeregt und sprang ihrer Mutter fröhlich in die Arme. „Du bist die beste Mama!“ Doch in diesem Moment platzte mal wieder Andreas, Christines Bruder dazwischen und unterbrach: „Tinchen, lass Mama jetzt schlafen!“ Sie gehorchte ihrem älteren Bruder aufs Wort, gab ihrer Mutter noch einen liebevollen Schmatzer auf die Wange und verschwand eingehüllt in der Wolldecke in ihr Kinderzimmer. „Wie geht es dir?“, fragte Andreas und näherte sich seiner Mutter. „Andreas mein Liebling...setz dich doch zu mir.“, gab Hannelore zu verstehen. Sie lag im Bett und das schon seid Wochen. Sie war zu schwach, um aufstehen zu können. Da Hannelore im Sterben lag, kümmerte sich schon seid Wochen das Hausmädchen Tatjana um die Kinder und versorgte sie. Leise fing die Mutter an zu erzählen. „Andreas, du darfst eins nie vergessen! Ich werde immer bei euch sein. Ganz tief hier drinnen, hast du das verstanden!?“ Sie legte ihre Hand auf das Herz ihres Sohnes. Andreas nickte nur mit dem Kopf und griff nach der Hand seiner Mutter. „Ich werde trotzdem traurig sein, wenn du gehst...und Tinchen auch!“, fügte er leise mit zittriger Stimme fort. Ihm stiegen die Tränen in seine grünen Augen. „Du bist doch schon ein großer Junge, nicht wahr?“, fragte Hannelore und wischte ihrem Sohn die Tränen weg. „Du musst jetzt ganz tapfer sein...du musst mir was versprechen!“ Andreas machte große fragende Augen. „Ja Mama?“ „Christine..., du bist jetzt der Mann im Haus, seitdem euer Vater uns verlassen hat. Du wirst Christine ein guter Bruder sein und auf sie aufpassen. Ich möchte nicht, dass ihr etwas passiert. Sie ist noch so klein um zu begreifen Andreas...ich will nicht, dass sie unglücklich ist.“ „Ich verspreche es dir Mama! Aber bitte...du darfst uns nicht alleine lassen!“ „Das tue ich nicht Andreas. Ich bin bei euch, egal wo ihr seid.“ Andreas war den Tränen nahe, doch seine Mutter hielt ihn zurück, umarmte ihn nicht. „Tinchen und ich brauchen dich Mama! Was soll ich ihr denn sagen...? Sie wird bestimmt fragen, warum...“
„Du musst jetzt stark sein Andreas! Ich möchte nicht, dass du weinst.“, sagte Hannelore schon beinahe im Befehlston. Sie war eiskalt. So hatte Andreas seine Mutter noch nie erlebt. „Sag Christine, dass ich auf eine lange Reise gegangen bin und dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht.“ Irgendwann sollte Andreas das Schlafzimmer seiner Mutter verlassen. Ohne Anstalten gehorchte er. Eine Weile blieb er vor der Tür im Flur stehen,
dann rannte er tief getroffen aus dem Haus, schnappte sich sein Fahrrad und fuhr an den See. Dort verweilte er bis in die Abendstunden in seinem Baumhaus, was er damals mit seinem Vater aufgebaut hatte. Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, denn Tatjana rief aufgeregt seinen Namen. Andreas steckte seinen Kopf aus dem Fenster. „Ich bin hier oben.“ „Was machst du denn da? Wir haben überall nach dir gesucht. Deine Mutter macht sich schon Sorgen und ich hab lange gebraucht, um Christine zum Einschlafen zu bewegen.“ Tatjana stieg die Treppen zum Baumhaus hinauf. „Komm Andreas. Es ist schon spät, wir gehen nach Hause.“ Sie schnappte sich den 10. jährigen Andreas und nahm ihn in die Arme. „Ich will nicht, dass Mama stirbt.“, brach es aus ihm heraus. Tatjana versuchte ihn zu trösten. „Irgendwann stirbt jeder Mensch. Die einen früher, andere später. So ist das nun mal. Aber du musst nicht traurig sein, deine Mutter wird in Frieden von uns gehen. Sie wird einfach einschlafen, ohne Schmerzen.“ Andreas klammerte sich an Tatjana fest, sie hatte Mühe und Not ihn zu beruhigen.
Ein frischer Eiswind fegte übers Land und es war Zeit zum Aufbruch. Der erste Schnee in diesem Jahr fiel nun vom Himmel und Andreas ließ sich schweren Herzens von Tatjana ins Haus und letzten Endes auch ins Bett bringen. Nach einigen Wochen starb Hannelore Walter friedlich in ihrem Bett. Tatjana hatte Recht behalten, sie war friedlich eingeschlafen, in Gedanken an ihre Kinder Christine und Andreas. Andreas hatte sich an diesem Tag besonders viel Zeit gelassen, als er nach der Schule auf dem Nachhauseweg war. Er war noch mit seinen Kumpels in eine Schneeballschlacht geraten. Er hatte einen mordsmäßigen Spaß und ballte eine Schneeballkugel nach der anderen. Doch am Ende wurde er von einem Jungen aus der Nachbarschaft mächtig eingeseift und zu Boden geworfen. Ihm war kalt, der Junge hatte sein ganzes Gesicht mit Schnee eingeschmiert und den Schnee in seinen Nacken gesteckt. Wütend stampfte er nach Hause. „Ich bring Frederik um! Morgen hat der nichts mehr zu lachen! Dieses Arschloch!“, raunte er schlecht gelaunt, zog sich die Schuhe aus und setzte sich zu Tatjana ins Wohnzimmer.
„Ich hab dir und Christine eine Pizza reingeschoben. Brauchst du dir nur noch warm machen. Bitte hol Christine schon mal zum Essen in die Küche und bereite doch schon mal alles vor, ja!?“ Tatjana verließ eilig das Wohnzimmer und rannte in den Flur ans Telefon. Sie nahm das schnurlose Telefon und verschwand damit im Badezimmer. Andreas schaute ihr irritiert hinterher, aber dachte sich weiter nichts dabei. Er nahm Christine bei der Hand und ging mit ihr in die Küche. „Setz dich anständig hin Tinchen! Wir sind hier schließlich nicht bei den Flotters!“, ermahnte er seine Schwester und machte sich die Pizza im Backofen warm. „Wo ist Tatjana?“, fragte Christine. „Die telefoniert wahrscheinlich wieder mit ihrem Lover!“ Andreas war immer noch wütend auf Frederik, den Jungen aus der Nachbarschaft. Er ließ seine Wut an seine kleine Schwester aus, die mit unschuldigen Kulleraugen am Tisch saß und ihren großen Bruder bewunderte, wie er das Essen für sie beide vorbereitete. „Ich hab durst.“, meldete sich Christine und Andreas steuerte zum Kühlschrank. Er stellte eine Flasche Cola auf den Tisch und holte zwei Gläser aus dem Schrank. „Hier! Drink oder stirb!“ Er schenkte seiner Schwester ein und starrte kurz darauf ungeduldig zur Uhr, die an der Wand hing. „Man, dass dauert ja ewig!“, sprach er verärgert. „Ich komm gleich wieder. Du wartest hier!“ Christine schaute ihm hinterher, danach schaute auch sie auf die große Uhr. Stillschweigend nippte sie an ihrer Cola und wartete. Doch Andreas kam und kam nicht. Er hatte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht und schaute Fernsehen. Die Pizza im Backofen hatte er völlig vergessen. Als die fünfjährige den Qualm aus dem Backofen steigen sah, sprang sie panisch auf. Sie schrie nach Andreas, aber der war nicht da. Also öffnete sie die Klappe des Backofens selbst. Der Qualm zog ihr direkt ins Gesicht und sie musste sich mit der Hand Luft zufächern. Sie schnappte sich einen Stuhl und schob ihn bis zum Schrank. Sie hievte sich hinauf und holte einen Teller heraus. Dann stellte sie den Teller auf die Ofenklappe und wollte mit der anderen Hand die Pizza aus dem Backofen holen. Doch ein fataler Fehler! Das Mädchen verbrannte sich die Finger und fing an laut zu schreien und anschließend auch an zu weinen. Tatjana war aufmerksam geworden und stürmte in die Küche. „Oh mein Gott Christine, was machst du denn hier?“ „Ich...ich wollte mir doch nur die Pizza...“, stammelte Christine vor Schmerzen und hielt sich die verbrannte Hand.
Tatjana hob die Kleine rauf zum Waschbecken und ließ kaltes Wasser über Christines Hand laufen. „Wo ist denn überhaupt Andreas?“, fragte Tatjana besorgt. „Weiß ich nicht...aua!“, antwortete Christine. Tatjana wickelte Christine ein Wasserdurchdrängtes Handtuch um die Hand, dann stellte sie den Backofen aus und fand Andreas kurze Zeit später im Wohnzimmer wieder. „Das ist wirklich der falsche Zeitpunkt Andreas! Mach sofort den Fernseher aus!“, meckerte Tatjana. Andreas griff nach der Fernbedienung und gehorchte. „Was ist denn? Ich hab heute keine Hausaufgaben auf! Hab ich schon in der Schule gemacht.“ „Es geht nicht um deine Hausaufgaben! Christine hat sich die Finger verbrannt! Du hattest die Verantwortung!“, machte Tatjana Andreas einen Vorwurf. „Was kann ich denn dafür, wenn die zu blöd dafür ist!?“ , verteidigte er sich. „Du hast dich verändert Andreas! Was ist nur los mit dir? Ich schaff das nicht..., ich hoffte auf deine Hilfe, aber du hast mich enttäuscht...bitter enttäuscht!“ Tatjana lief heulend aus dem Haus und knallte die Tür. Andreas und Christine waren nun für ein paar Stunden allein, denn Tatjana ließ sich nicht mehr blicken. Sie rannte ziellos durch die Straßen. Hannelore war gerade gestorben und die beiden Kinder machten was sie wollten. Sie hatte keine Kraft mehr, sich um sie zu kümmern. Christine und Andreas waren nebeneinander auf dem Sofa eingeschlafen, als überraschend die Großeltern zu Besuch kamen. „Oma!“, schrie Christine und fiel ihrer Oma sogleich in die Arme. „Mein kleines Mädchen.“, sprach die Oma stolz und schloss ihre Enkeltochter in die Arme. „Ist Mama bei euch? Ich hab sie heute noch gar nicht gesehen!“, sprudelte es aus Andreas heraus. „Tatjana ist einfach gegangen und hat uns alleine gelassen.“ „Christine, geh doch schon mal ins Auto. Opa bringt dich hin. Ihr schlaft heute bei uns.“, gab die Großmutter zu verstehen, dann wandte sie sich an Andreas. „Mama ist nicht bei uns mein Schatz. Sie ist von uns gegangen.“, sprach diese, drückte ihren Enkel ganz fest und schob auch ihn bald mit sich zur Tür heraus in den Wagen. Andreas wagte sich keine Fragen zu stellen, in diesem Moment wusste er was geschehen war. Er schaute noch einmal aus dem Fenster und warf einen letzten Blick auf das Haus. Seid diesem Tage an hatten Christine und Andreas ihr Elternhaus nie wieder betreten, geschweige denn gesehen. Sie lebten von nun an bei den Großeltern, von Tatjana hatte nie wieder jemand etwas gehört. Andreas hielt das Versprechen, was er seiner Mutter vor ihrem Tod gab. Er sagte kein Wort zu Christine und trug sie seitdem auf Händen und war ihr ein guter Bruder. Plötzlich war jede Wut auf die nervige kleine Schwester verflogen und die beiden waren ein Herz und eine Seele. Andreas verbrachte jede Minute bei seiner Schwester und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Er war jetzt der einzige, den Christine noch hatte. Er hatte die Verantwortung, er hatte es seiner Mutter versprochen und das Versprechen brach er nie im Leben, dass schwor er sich...

_________________




[imp]https://hinter-gittern.rtl.de/forum/album_pic.php?pic_id=8340[/imp]

 Re: Das Leben der Christine Walter

2. – Aus dem Herzen, aus dem Sinn

Der kalte Winter war vorüber und das erste Weihnachten ohne die Mutter lag hinter den Kindern Christine und Andreas. Für Andreas war Weihnachten und dergleichen kein schönes Ereignis mehr, denn zu oft wurde er dabei an seine Mutter erinnert. Doch vor Christine ließ er sich das nicht anmerken. Freudestrahlend kam Christine eines Tages aus dem Haus gelaufen, um ihren Bruder zu begrüßen. „Andreas, endlich!”, schrie sie und sprang ihrem Bruder direkt in die Arme. „Lass mich doch erst mal ankommen!“, raunte Andreas und fiel nach hinten über seinen Schulranzen. „Du kannst mich doch nicht so vermisst haben!?“, fuhr er fort. Christine lag auf ihm drauf und lachte. „Ich hab schon Ewigkeiten auf dich gewartet. Wieso muss denn deine Schule immer so lange gehen!?“, machte sie ihm einen Vorwurf. „Tinchen, daran kann ich leider nichts ändern, ist nun mal so.“ Doch Christine gab nicht auf. „Kannst du nicht mal krank machen oder so?“ „Gefällt es dir nicht bei Oma und Opa? Die sind doch den ganzen Vormittag für dich da. Und ich unternehme schon jeden Nachmittag was mit dir.“, fragte Andreas besorgt. Traurig runzelte Christine die Stirn und stieg von ihrem Bruder herunter. „Ach! Oma die hat nur ihre Socken im Kopf! Die sitzt nur da und strickt und Opa ist immer nur im Garten beschäftigt und füttert die Schweine. Ich bin ganz allein.“ „Was ist denn mit Erika? Warum spielst du nicht mit ihr?“, fragte Andreas. Er meinte das Mädchen aus dem Haus direkt gegenüber. Sie war in Christines Alter und schon des öfteren zu Besuch. „Die ist mir zu kindisch!“, antwortete Christine trotzig. „Wird Zeit, dass du auch in die Schule kommst, dann findest du ganz viele Freunde.“, machte Andreas seiner Schwester Mut. „Ich will nicht in die Schule. Dann hab ich ja genauso wenig Zeit wie du und bin erst nachmittags zu hause.“ „Tinchen! Jedes Kind muss irgendwann in die Schule. Du wirst bald sechs!“, stellte Andreas fest und überlegte. „Was wünscht du dir eigentlich zu deinem Geburtstag?“ Und jetzt kam das bekannte Funkeln in Christines Augen und das verschmitzte Lächeln zurück. „Ich wünsch mir ein ferngesteuertes Auto...so wie deins, nur schneller und mit besserer Lenkung!“, sprudelte es aus ihr heraus. „Aber Tinchen, Autos sind nur was für Männer. Wünsch dir was anderes.“ „Ich will aber nichts anderes haben!“ Christine legte ihre Arme über Kreuz und spielte die beleidigte Leberwurst. „Schon überredet, du bekommst ja dein Auto.“, beruhigte Andreas seine aufgebrachte Schwester. Zusammen gingen sie nun ins Haus. Sofort stieg den beiden der herzhafte Duft von Kohlrouladen in die Nase. „Na ihr zwei, habt ihr auch viel Hunger mitgebracht?“, fragte die Oma und schenkte ihren Enkelkindern ein herzhaftes Lachen, als sie die Küche betraten. Christine schob sich in Windeseile einen Stuhl heran und setzte sich an den Tisch. „Ja Oma, Bärenhunger!“ Christine konnte es kaum abwarten, während sich Andreas auf die Suche nach seinem Großvater machte. „Und mein Schatz, freust du dich schon?“ Die Großmutter schaute kurz auf und wartete auf eine Reaktion ihrer Enkeltochter, die betrübt vor sich hin sah. „Was meinst du Oma?“, stellte sich Christine dumm. „Na, auf deinen Geburtstag natürlich!“, gab Frau Krossmann zu verstehen und wendete die Rouladen in der Bratpfanne. „Ohne Mama macht Geburtstag sowieso keinen Spaß. Und wenn ich nur an die blöde Schule denke...“ Christine stiegen die Tränen auf und sie fing an zu schluchzen. „Ich vermiss sie so...und versteh das alles nicht!“, stieß sie nochmals aus und vergrub ihren Kopf in ihre Hände. Die Oma stellte die Bratpfanne von der Herdplatte und kam zu Christine an den Tisch. „Was ist denn los mit dir Kind? Wieso bist du so traurig?“, versuchte die Oma zu trösten und legte ihrer Enkeltochter liebevoll den Arm auf die Schulter. „Ich fühl mich so allein...Andreas kommt erst spät von der Schule, es ist keiner da mit dem ich spielen kann.“, gab Christine Antwort. „Wo bleibt Mama denn so lange? Ich dachte es geht ihr wieder besser.“, fuhr sie fort. „Aber Kind, du weißt doch! Mama ist in der Klinik und so weit weg. Sie muss erst einmal wieder richtig gesund werden und zu Kräften kommen.“ „Und wieso darf ich sie dann nicht einfach besuchen?“, sprach Christine gegen an. Sie hatte schon beinahe den harten Tonfall ihres Bruders angenommen, den Andreas manchmal in besonders schwierigen Situationen angewendet hatte. „Deine Mutter braucht Ruhe, du musst verstehen Christine.“ Frau Krossmann verbarg ebenfalls das große Geheimnis um ihre Tochter Hannelore. Christine war zu klein um verstehen zu können, was geschehen war. Es würde ihr nur noch schlimmer ergehen, wenn sie die Wahrheit kannte, dachte sie und fing nun an den Tisch zu decken. „Richard, kommt ihr zum Essen!?“, rief die Oma vom Küchenfenster in den Garten hinein. „Komm Opa, Essen!“, sprach Andreas und zog seinen Großvater am Ärmel seiner Jacke mit sich. Gemeinsam am Esstisch versammelt, wagte sich Andreas eine Frage zu stellen. „Darf ich nach dem Essen mit Christine in Stadt fahren? Sie soll sich schon mal ein Geschenk für ihren Geburtstag aussuchen.“ Die Oma machte ein besorgtes Gesicht. „Aber bitte pass mir gut auf die Kleine auf! In der Stadt lauern so viele Gefahren!“, sprach sie etwas zerknirscht aus, aber auch gleichzeitig freundlich. Der Opa hingegen hatte mal wieder einen Einwand. „Erst will ich deine Schularbeiten sehen mein Freund! Und Christine geht mir nicht einfach so mit dir in die Stadt. Sie ist noch viel zu klein!“ Christine sprang auf und lief zu ihrem Bruder. „Bitte Opa, Andreas passt bestimmt gut auf mich auf.“ „Ich habe nein gesagt und dabei bleibt es!“, gab der Großvater mit fester angsteinflößender Stimme zu verstehen. „Aber Richard..., ich müsste eigentlich auch noch Besorgungen anstellen. Da könnte ich doch mit den Kindern gemeinsam...“ Kleinlaut saß Frau Krossmann vor ihrem Ehemann und sah ihn mit flehenden Augen an. „Na schön, aber erst die Schularbeiten!“ Herr Krossmann schaute zu seinem Enkel und hob den Zeigefinger. „Sauber und mit leserlicher Schrift will ich die Arbeiten in einer Stunde auf dem Tisch sehen, haben wir uns verstanden!?“ Andreas nickte eifrig und Christine gab ihren Bruder einen Schmatzer auf die Wange. „Toll, ich freu mich schon so.“ Der Großvater jedoch hatte für die Freude seiner Enkeltochter nicht das geringste Verständnis und forderte sie im barschen Ton auf, sich wieder auf ihren Platz zu setzen. Christine tat es, sie hatte großen Respekt vor ihrem Opa. Aber viel mehr war es die Angst vor ihm. Er hatte ihr zwar nie weh getan, aber schon des öfteren gedroht, sie und Andreas in ein Jugendheim zu stecken, wenn sie nicht gehorchten. Alleine der Gedanke daran, bereitete der kleinen Christine Bauchschmerzen.
Richard Krossmann bemängelte Andreas Fehler bei den Hausaufgaben. Dabei entdeckte er ebenfalls die Klassenarbeit, die sich Andreas nicht getraut hatte vorzuzeigen. „Junge, du kommst mir erst wieder aus dem Haus, wenn sich deine schulischen Leistungen wieder gebessert haben! Ab in dein Zimmer! Und dort wirst du bleiben, bis ich dich gerufen habe!“ Andreas schnappte sich daraufhin seine Schulsachen und rannte die Treppe hoch zu seinem Zimmer, was er sich mit Christine teilte. Der Ausflug war geplatzt und nicht nur Christine war enttäuscht, sondern auch Andreas hatte sich so seine Gedanken gemacht. Er hatte einen unbeschreiblich großen Hass auf seinen Großvater.
Als sich Christine sich ihm bald darauf näherte und ins Zimmer trat, schaute Andreas erschrocken auf. „Tinchen, es tut mir so leid, wirklich!“ Doch Christine war nicht böse auf ihn. Sie war nur unendlich traurig und legte sich jetzt neben ihren Bruder ins Bett. Er schloss sie sofort in die Arme. „Was ist los? Sag doch was!“, wollte er seine Schwester zum Reden bewegen. „Es ist alles Mamas Schuld! Wäre sie nicht weggegangen, dann währen wir nicht hier und du würdest keinen Ärger mit Opa haben!“, sprudelte es aus ihr heraus. Sie fing an zu weinen. „Mama ist für mich gestorben! Sie hat uns einfach allein gelassen und verabschiedet hat sie sich auch nicht!“ Andreas rutschte das Herz in die Hose. Erschüttert und getroffen von den Worten seiner kleinen Schwester, schaute er auf sie herab. „Wenn du nur wüsstest...“, gab er leise von sich und drückte seine Schwester fest an sich. „Wie kannst du nur so über sie denken?“, fuhr er fort. Doch Christine verstand seine Worte nicht und wusste nicht, was er ihr damit mitteilen wollte. „Mama hat uns nicht mehr lieb. Sonst würde sie doch anrufen, oder!?“ Das waren Christines letzte Worte und sie glaubte wirklich langsam daran. Sie schloss ihre Augen und kuschelte sich an den einzigen Menschen, auf den sie sich noch verlassen konnte und das war Andreas, ihr großer Bruder...
_________________




[imp]https://hinter-gittern.rtl.de/forum/album_pic.php?pic_id=8340[/imp]

Re: Das Leben der Christine Walter

3 – Tag der Unvergesslichkeit

Christines Geburtstag rückte immer näher und damit liefen auch die Vorbereitungen auf Hochtouren. Die Oma war mächtig am Kuchen und Torten backen und eifrig in der Küche beschäftigt, während Christine und Andreas im Garten Fußball spielten. Der Großvater saß faul im Sessel und blätterte in der Morgenpost. Nebenbei liefen die Nachrichten.

„Und schon wieder ein kleines Mädchen vermisst. Wir bitten um ihre Mithilfe. Juliane K. , sechs Jahre alt, lange blonde Haare, 1,40 Meter groß wurde zuletzt im Stadtpark Nord von einem älteren Ehepaar beim Spielen auf dem Spielplatz beobachtet. Die Polizei sucht in Berlin und Umgebung...bisher fehlt jede Spur.“

Der Großvater schüttelte entsetzt den Kopf. Er musste an Christine denken. Er würde es sich nie verzeihen können, wenn sie eines Tages spurlos verschwinden würde, weil er ihr womöglich doch eines Tages erlaubt hätte alleine mit Andreas in die Stadt zu fahren. Entschlossen für Christines Wohl zu sorgen, schlug er die Zeitung zu und erhob sich.
„Tor, Tor!“, rief Christine aufgeregt und hob resigniert die Arme. Sie lief energisch dem Ball hinterher, dabei wehten ihre langen dunkel braunen Haare in der kühlen Frühlingsluft. Andreas stand lachend im Torfosten. „Hätte ich den Ball nicht mit Absicht durchgelassen, hättest du bestimmt morgen noch nicht getroffen!“, flachste er und machte sich über seine Schwester lustig. „Das werden wir ja noch sehen! Irgendwann bin ich genauso gut wie du.“, gab Christine zurück und drückte Andreas den Ball in die Hand.
„Ich hab keine Lust mehr. Lass uns lieber klettern gehen.“, machte sie einen neuen Vorschlag. Andreas schmiss sich zu Boden, legte sich ins Grüne, schlug die Arme hinter seinen Kopf und schaute in den Himmel. „Wie währe es mit Wolkenraten?“ Christine gab sich einverstanden, also legte sie sich neben Andreas in den Garten. „Siehst du die da?“, fragte sie ihren Bruder und zeigte auf eine dicke fette weiße Wolke im Himmel. „Ja.“, entgegnete Andreas. „Was siehst du Tinchen?“ „Eine Frau.“ „Eine Frau?“, hakte Andreas ungläubig nach. „Da der Kopf, da die Arme und da unten die Füße. Sie trägt ein Kleid, erkennst du´s?“, beschrieb Christine. Dabei deutete sie immerzu mit dem Zeigefinger in den Himmel. „Du hast ne blühende Fantasie, aber ja, ich sehe es auch. Sie sieht ein bisschen aus wie...“ Andreas hielt inne. „Wie Mama!?“, traf Christine den Nagel auf dem Kopf. „Wie ein Engel.“, entgegnete Andreas und sah verträumt der Wolke entgegen. „Achso.“, sprach Christine und lenkte auf eine andere Wolke.
Am darauffolgenden Tag war es dann soweit. Christine hatte ihr sechstes Lebensjahr erreicht. Sie war so aufgeregt gewesen, dass sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Als dann endlich der Wecker klingelte sprang sie aus dem Bett. „Andreas, aufstehen alte Schlafmütze!“ Sie lief aufgeregt zu seinem Bett herüber und kuschelte sich mit ihm unter die Bettdecke. „Alles gute zum Geburtstag Tinchen.“, kam es mit trister und müder Stimme hervor. Andreas war noch im Halbschlaf und realisierte seine Schwester nur dürftig. Dann aber fragte er: „Wieso hast du denn den Wecker gestellt? Wir können doch ausschlafen.“ „Ich kann aber nicht länger schlafen. Ich will so viel wie möglich von diesem Tag haben.“, antwortete sie verschmitzt. Einige Stunden später ließ Christine sich eine Prozedur ihrer Oma über sich ergehen, die ihr die Haare zusammensteckte. „So, dass währe geschafft. Jetzt müssen wir nur noch ein schönes Kleidchen für dich finden.“ Die Oma nahm ihre Enkeltochter bei der Hand und ging mit ihr in das Kinderzimmer. Dann öffnete sie den großen Kleiderschrank. Ihre Blicke wanderten auf die Kleider und Christine stand daneben und wusste nicht wie ihr geschah. „Bitte kein Kleid Oma. Ich bin doch jetzt groß.“ „Natürlich mein Schatz, aber auch große Mädchen ziehen sich noch Kleider an. Schau mich an Kind, ich bin ja nun auch nicht mehr die Jüngste und trage auch noch ein Kleid.“ „Du bist ja auch ne Oma und Omas tragen immer Kleider!“, lachte Christine.
Ein einziges Mal ließ sich Christine noch überreden, ihrer Oma und ihrem Geburtstag zu liebe ein Kleid zu tragen, also saß sie jetzt in einem blauen luftigen Sommerkleidchen am Frühstückstisch und stopfte den Kuchen in sich hinein. Sie konnte die Überraschung, die sich die Großeltern für sie ausgedacht hatten, kaum noch erwarten.
Heute war ein wundervoller Tag, die Sonne schien und die ersten Vögel zwitscherten über den Bäumen hinweg. Genau richtig für einen Ausflug in den Zoo. Christine hatte das erste Mal seid langem wieder das Gefühl wichtig zu sein und geliebt zu werden. Heute stand nur sie im Mittelpunkt und wurde rührend umsorgt. Für Christine war es der schönste Tag in ihrem Leben, den sie bestimmt nie vergessen würde. Das sollte sie auch nicht, denn als sie am Abend in ihrem Bettchen lag und sich an den schönen Ausflug in den Zoo zurück erinnerte, stritten unten die Großeltern im Wohnzimmer. Christine war diese Auseinandersetzung der beiden nicht entgangen und lauschte an der Tür, während Andreas schon seelenruhig schlief. „Das war so ein schöner Tag Richard und Christine war so glücklich! Ich wollte ihr diesen Tag nicht madig machen, in Gegensatz zu dir!“ „Margarete, es wird Zeit, dass sie die Wahrheit über Hannelore erfährt! Oder willst du dich immer weiter in Lügen verstricken?“, antworte der Großvater zornig. „Ich hab es einfach nicht übers Herz gebracht, als mich die Kleine fragte, ob ihre Mutter heute noch kommt.“ Frau Krossmann fing bitterlich an zu weinen. „Desto eher Christine weiß, dass ihre Mutter tot ist, umso schneller ist die Sache vom Tisch und das ewige Frage und Antwort Spiel hat ein Ende. Denkst du mir fällt das leicht, immer an Hannelore erinnert zu werden, nur weil die kleine Göre nicht bescheid weiß!?“ „Hör auf Richard. Dir geht es doch gar nicht um Hannelore, dir war doch schon damals nicht recht, dass sie den Sohn deines besten Freundes geheiratet hatte und dann auch noch Mutter wurde. Du warst von Anfang an gegen die Kinder. Kann es sein, dass dich Christine an ihren Vater erinnert? Du willst ja nur deine aufgestaute Wut an ihr auslassen, aber Richard, ich werde es nicht mehr zulassen! Du hast Klaus und Hannelore schon von hier vertrieben, die Kinder sind uns die einzigen die uns noch geblieben sind. Sie gehören zur Familie, schick sie nicht weg!“
Christine hatte jedes einzelne Wort verstanden. Die Tränen liefen dem Mädchen unaufhörlich die kleinen Pausbäckchen hinunter. Sie hatte genug gehört, schmiss sich in ihr Bett und schlug sich die Decke über den Kopf. Ihre Mutter war tot, dass war also das große Geheimnis, dachte sie sich. Hat ihr eigener Bruder sie die ganze Zeit angelogen und den Tod ihrer gemeinsamen Mutter vor ihr verschwiegen, oder wusste er selbst nicht
davon? Christine war so unendlich traurig. Sie resignierte aus dem Streit ihrer Großeltern, dass sie hier nicht erwünscht war und dass sie wohl eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte. Hasste Opa ihren Vater? Wenn es so war, hasste er dann gleichzeitig sie und machte ihr deshalb das Leben so schwer!? Fragen über Fragen und tiefste Verzweiflung machten sich in der sechsjährigen breit. Unter Tränen war sie irgendwann mitten in der Nacht eingeschlafen, zu tiefst getroffen. Und das alles an ihrem Geburtstag, der nun wirklich unvergesslich für sie bleiben sollte...
_________________




[imp]https://hinter-gittern.rtl.de/forum/album_pic.php?pic_id=8340[/imp]

 Re: Das Leben der Christine Walter

4 – Eine Frage der Zeit

Zwei Wochen waren vergangen, nach der unbegreiflichen Wahrheit, die Christine Hautnah zu spüren bekommen hatte. Sie hatte sich ihren Großeltern und auch Andreas gegenüber darüber ausgeschwiegen. Christine hatte das Vertrauen zu ihrem Bruder verloren. Sie hatte gemerkt, dass er sie auch wegen anderen Dingen immerzu angelogen hatte und das verschärfte ihren Glauben, er könnte auch den Tod ihrer Mutter vor ihr verheimlicht haben.
Sie saß am Schreibtisch von Andreas und kritzelte lustlos und Gedankenverloren auf einem Blatt Papier herum, als die Oma ins Zimmer trat. „Na meine Kleine, was sitzt du denn bei diesem schönen Wetter hier oben?“, wollte sie wissen und sah ihrer Enkeltochter sorgend entgegen. „Ich hab keine Lust nach draußen. Andreas spielt sowieso viel lieber mit seinen Kumpels als wie mit mir.“ Die Oma versuchte gute Stimmung zu machen und lenkte vom Thema. „Was malst du denn da Kind?“ „Ach, nichts weiter!“ Christine schlug den Zettel um und ließ ihrer Großmutter keinen Einblick. „Willst du mir nicht sagen was los ist Christine? Du verhältst dich verschlossen in letzter Zeit uns allen gegenüber.“ Die Oma rückte sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Mädchen. Christine fuhr sich nervös durch die Haare. „Ich vermiss Mama! Was dagegen?“, sagte sie barsch. „Sie wird bestimmt bald...“, versuchte die Oma zu beruhigen, doch Christine unterbrach: „Ja Oma...bestimmt im nächsten Leben!“ Erschrocken sah Frau Krossmann in Christines funkelnde Augen. Es bereitete ihr einen großen Stich im Herzen. Ohne zu wissen, dass Christine der Wahrheit schon ins Auge gesehen hatte, wand sie sich ab und verließ das Zimmer.
Christines erster Schultag nahm seinen Lauf. Neben ihren Großeltern hatte auch Andreas die Zeit gefunden an diesem großen Ereignis dabei zu sein. Es wurden viele Erinnerungen auf Video oder Foto festgehalten. Christine sah nicht glücklich aus, dabei war sie sehr hübsch angezogen. Ihre Haare lagen ihr lockig die Schultern herunter. Ein Mädchen wie aus dem Bilderbuch und doch stand Christine neben sich. Sie wirkte verschlossen und aufbrausend, wenn man ihr zu nahe trat und dabei hatte ihr Andreas so viel schönes über ihre Einschulung erzählt und ihr die Schule versucht schmackhaft zu machen, doch ohne Erfolg. Christine sah diesen Tag mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Da waren so viele neue Menschen und so viele Kinder in ihrem Alter, die nur darauf warteten die große Schultüte ihrer Eltern endlich auspacken zu dürfen. Ein kleines Mädchen mit langen blonden Haaren, die sich schüchtern an deren Vaters Hand klammerte, fiel Christine sofort ins Auge. Sie spiegelte Christines tiefstes Innerstes wieder. Doch als sich Christine gerade Gedanken darüber machen wollte, was in diesem Mädchen vor sich ging, ertönte auch schon die große Schulglocke. „ Viel Spaß Tinchen, man sieht sich nachher.“ Andreas klopfte seiner Schwester auf die Schulter und winkte ihr noch lachend zu. Auch die Großeltern standen daneben und hoben resigniert die Hände. Christine wand sich zum Gehen und lief neben anderen Kindern dem Schulleiter hinterher. „So meine lieben Kinder, ihr werdet jetzt der Reihe nach mit eurem Namen aufgerufen und wird den Klassen untergeordnet.“, sprach der schon etwas ältere Herr auf die Kinder herab.
„...Diana Ulme und Rene Vedding bitte zu Frau de Vita…in die 1b.” Christine schaute auf. Wann war sie denn endlich an der Reihe, fragte sie sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Sie stand nur noch mit wenigen Leuten im Mittelpunkt der Lehrer, die auf sie herabsahen. Sie musste unwillkürlich schlucken. Ihr war diese Situation mehr als peinlich.
Doch plötzlich erhellte sich ihr Blick. Sie sah das Mädchen mit den blonden Haaren aus der Menge treten und auf die Lehrerin Frau de Vita zu gehen. „Bitte lass mich zu diesem Mädchen in die Klasse.“, betete sie. Das Mädchen strahlte etwas aus, was Christine nicht deuten konnte. Aber irgendwas gefiel ihr an dem Mädchen. Vielleicht war es das Gefühl, nicht mit den unbehaglichen Gedanken alleine zu sein. Gemeinsam würden es die beiden sicherlich schaffen, den Schultag zu überstehen, waren Christines Gedanken. „Für Katharina Volkes, Christine Walter und Felix Zeppt geht es zu Frau Moll in die 1c.“ Christine fühlte sich noch elender als zuvor. Nie war Gott da, wenn man ihn brauchte. Noch nicht mal ein kleiner Engel, der neben ihr Wache hielt und ihr das Gefühl gab nicht alleine zu sein. Christine stand wie ein Mauerblümchen am Rande ihrer Mitmenschen. Auch der folgenden Begrüßungs- und Gesprächsrunde schenkte sie keine besondere Aufmerksamkeit. Flüchtig stellte sie sich vor, gab ihren Namen, ihr Alter und ihre Adresse bekannt, danach hielt sie sich in eisernes Schweigen. Erst beim gemeinsamen Spielen mit der Lehrerin und ihren Mitschülern, weckte die Schule ein Interesse für Christine. Sie war ein fröhliches aufgewecktes Kind und war mit Eifer dabei. Am Ende fand Christine diesen Tag nur halb so schlimm. Sie hatte sich zwar nicht direkt mit jemanden angefreundet, hatte aber dennoch ihren Spaß gehabt. Fröhlich fiel sie ihrem Bruder in die Arme. „Du hattest recht Andreas.“ Zuhause packte auch sie mit Freude ihre Schultüte aus. Außer ein paar Naschsachen, einem Block und Stifte war jedoch nicht sehr viel für sie dabei. Ein wenig enttäuscht legte sie die Schultüte beiseite, öffnete eine Gummibärentüte und griff beherzt hinein.
Vom heutigen Tag an, begann auch Christines Tag um 6:00 Uhr morgens. In den ersten Schulstunden zeigte sich, dass Christine sowohl aufgeweckt war, aber sich auch schnell ablenken ließ, oder auch oft in sich gekehrt war. Oft schaffte sie die Aufgaben nicht und saß immer noch im Klassenraum bei der Lehrerin, während sich die anderen Kinder schon im Spielraum nebenan vergnügten. Christine hatte keine Lust auf die Schule, außerdem empfand sie die Aufgaben oft viel zu schwer für sich, um sie zu bewerkstelligen. Am Abend weinte sie oft ihre ganze Trauer um die gestorbene Mutter heraus. Auch an diesem Abend ließ sie ihrer Trauer wieder freien Lauf. Sie fühlte sich allein gelassen und von niemanden bekam sie Unterstützung. Andreas lag das erste mal wach in seinem Bett, als Christine zu weinen begann. Er kam an ihr Bett gelaufen und drückte sie ganz fest an sich.
„Tinchen, was ist los? Was hast du?“ Das Mädchen offenbarte sich das erste Mal seid langer Zeit und erzählte Andreas jetzt die ganze Wahrheit. „Mama ist tot. Warum hast du mich die ganze Zeit angelogen? Ich...brauche sie doch so!“ Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Christine auspacken würde. Doch jetzt war es endlich heraus und sie konnte ihren Schmerz mit Andreas teilen. Auch er begann zu weinen. „Ich...konnte es dir nicht erzählen, ich war selber verdammt traurig. Ich wollte dir das alles ersparen, verstehst du?
Ich musste es Mama versprechen!“ Die beiden schmiegten sich eng aneinander und gaben sich das Gefühl für den anderen da zu sein, wenn es ihm schlecht ging. Sie hatten nur noch sich. Der Vater war den beiden bis heute nicht bekannt. Andreas war drei Jahre alt, als der Vater Hals über Kopf seine Sachen packte und verschwand. Er war zu klein gewesen, um dieses Ereignis in Erinnerung zu behalten. Da waren nur noch Andreas, Christine und die Großeltern, die mit der Zeit immer strenger wurden. Andreas wurde oft für Belangloses von seinem Großvater bestraft und in sein Zimmer gesperrt und Christine ging es schon beinahe genauso. Bei ihr waren es die Hausaufgaben, an denen Herr Krossmann ständig etwas zu bemängeln hatte. Es war ein ständiger Kampf für die beiden, mit den Großeltern unter einem Dach zu leben. Irgendwann würde Andreas sich eine eigene Wohnung nehmen und Christine gleich mit einbeziehen, so hatte er es sich für die Zukunft vorgestellt. Umso älter er wurde, umso mehr verstärkte sich der Gedanke an ein Leben ohne den Großvater. Ein alter schmieriger Mann mit inzwischen weißen Haaren und einem Vollbart, erschwerte Andreas das Leben von Tag zu Tag mehr. Andreas war inzwischen sechszehn Jahre alt geworden und erlaubte sich ein einziges Mal mit seinen Freunden in die Disco zu gehen und schon stand der Großvater eines Abends an der Haustür und schaute grießgrimmig auf die Uhr. Er gab Andreas sogleich eine schallende Ohrfeige. „Solange du unter meinem Dach haust Junge, hast du meine Regeln zu befolgen! Bist du jetzt unter die Landstreicher gegangen, was!? Genau wie dein Vater! Er hat es auch nie für möglich gehalten, sich um dich und deine Mutter zu kümmern. Stattdessen hat er sich an anderen Frauen aufgegeilt und ist zum Alkoholiker geworden! Aber ich sag dir eins...ich habe ihn vertrieben! Es war nur zu deinen Besten! Und was ist der Dank dafür? Du ahnst ihm nach!“ Andreas hielt sich die schmerzende Wange und ging ohne Kommentar in sein Zimmer. Die elfjährige Christine lag schon im Bett und schlief seelenruhig. Andreas schmiss sich in sein Bett, entledigte sich seinen Klamotten und schlug sich die Decke über den Kopf. „Nicht mehr lange und ich bin weg!“, dachte er sich...
_________________




[imp]https://hinter-gittern.rtl.de/forum/album_pic.php?pic_id=8340[/imp]

 Re: Das Leben der Christine Walter

5 – Hilfeschrei

Andreas entzog sich immer öfter den Regeln seines Großvaters und kam oftmals erst mitten in der Nacht nach Hause. Doch eines Nachts, platzte dem Großvater der Geduldsfaden und er schlug besinnungslos auf den wehrlosen Andreas ein, bis dieser sich nicht mehr bewegen konnte und zusammengekrümmt am Boden lag. „Lass dir das eine Lehre sein Junge! Ich habe meine Regeln und an diese wirst du dich halten! Ich hätte dich schon lange ins Heim geschickt, aber deine Oma glaubt ja immer noch, dass aus dir mal ein anständiger Bub wird. Pah, das ich nicht lache!“, schrie der Großvater aufbrausend auf Andreas herab.
Am nächsten Morgen hieß es für Christine wieder um 6:00 Uhr aufstehen. Lustlos schlug sie ihre Decke auf, kramte was zum Anziehen aus ihrem Kleiderschrank und verschwand im Bad. Andreas hatte vor zwei Wochen seinen Realschulabschluss bestanden und war seitdem arbeitslos, also ließ Christine ihn schlafen. Aber nicht nur deshalb. Sie wusste, dass Andreas erst spät von der Disco nach Hause gekommen war, wie immer. Sie zog sich ihren Schlafanzug aus und stellte sich nun unter die Dusche, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen, wie Andreas sie vernachlässigte.
Die Großmutter bereitete währenddessen die Schulbrote für Christine vor und legte sie sauber verpackt in Brotpapier auf den Tisch, so dass sich Christine diese nur noch mitnehmen brauchte. „Guten morgen mein Schatz.“, sprach sie, als Christine mit nassen Haaren und einem Handtuch in die Küche trat und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. Christine wischte sich sogleich die Wange wieder ab. „Komm, ich helfe dir.“, sagte die Oma freundlich und nahm Christine das Handtuch ab und legte es ihr um den Kopf. Dann begann sie Christines Haare abzurubbeln. Das war schon das morgendliche Ritual geworden, dass Christine sich ihre Haare von der Oma abtrocknen ließ. Sie selbst empfand es immer als lästig, sich die Haare selbst abzutrocknen, da sie ihr inzwischen schon bis zur Hüfte reichten. „Hol deinen Schulranzen mein Kind.“, sprach Frau Krossmann lächelnd und verschwand auf die Terrasse, wo sie das Handtuch auf dem Kleiderständer zum Trocknen legte. Im Zimmer angekommen, griff sich Christine ihre wilde Zettelwirtschaft vom Schreibtisch und stopfte sie in ihren Ranzen. Ein paar Stifte die kreuz und quer auf dem Tisch herumlagen, schmiss sie unachtsam in ihre Federtasche. Andreas wurde hellhörig und erwachte aus seinem Schlaf. „Viel Spaß in der Schule Tinchen.“, kam es müde hervor. Erschrocken drehte sich diese um. „Andreas!“, stieß sie aus. „Wollen wir heute was zusammen machen, wenn ich zurück bin?“, fragte sie ihren Bruder flehend. „Ich treff mich heute schon mit Mathias und Co.“, gab er zurück. Christine kam näher an sein Bett. „Darf ich dann mitkommen?“ „Du bist noch zu klein Tinchen. Wir machen sowieso nur Männersachen.“ „Bitte! Ich bleibe auch nicht lange.“, entgegnete sie ihm. „Okay, aber nur das eine mal.“ „Danke Andreas! Du bist der beste Bruder aller Zeiten!“ Sie fiel Andreas freudestrahlend um den Hals, doch dieser schrie vor Schmerz. Sorgend sah Christine ihrem Bruder entgegen, wie er sich den Rücken hielt. „Was ist? Andreas? Was hast du?“, fragte sie besorgt. „Ach, ich hatte mich gestern mit nem Kumpel geprügelt...aus Spaß.“, fügte er schnell hinzu. Christine lachte. „Selber Schuld!“ Dann schnappte sie sich ihren Schulranzen und wand sich zum Gehen. Doch im Türrahmen angekommen, drehte sie sich noch einmal zu Andreas. „Aber du musst mir bei den Hausaufgaben helfen. Wenn ich die nicht schaffe, dann lässt mich Opa nicht aus dem Haus und ich kann nicht mit dir kommen.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, wenn sie nur an die letzte Szene mit ihrem Großvater dachte, als er so lange auf sie eingeschimpft hatte, bis die Oma endlich ins Zimmer gekommen war und ihr bei den Hausaufgaben half. „Klar Tinchen, mach ich.“ Andreas zwinkerte ihr zu und sie verließ das Zimmer.
„Viel Spaß und pass gut auf im Unterricht.“, gab ihr die Oma noch mit auf dem Weg. Sie öffnete die Haustür und machte sich auf den Weg zur Schule. Ihre Oma stand wie jeden Morgen in der Haustür und schaute ihrer Enkeltochter so lange nach, bis diese hinter den Bäumen verschwunden war. Das wusste Christine mittlerweile, deshalb ging sie die ersten Meter etwas schneller als sonst. Sie sah schon die zwei großen Eichen, hinter denen sie erst mal eine kurze Pause einlegen konnte. Sogleich setzte sich Christine auf die altbekannte Holzbank. Sie besuchte jetzt seid einem Jahr die Hauptschule, die sich nur wenige Meter von ihrer damaligen Grundschule befand und heute in der ersten Stunde stand der Deutschunterricht bevor. Christine saß wie jeden Morgen auf dieser Bank und überlegte, ob sie die erste Schulstunde nicht einfach schwänzen könnte. Jedes mal kam sie zu dem Entschluss doch in die Schule zu gehen, da sie Angst vor der Reaktion ihres Großvaters hatte, genau wie heute. Langsam stand sie auf und fuhr ihren Weg fort, mit einem flauen Gefühl im Magen. „Hey Christine!“, rief ihr Claudia zu, als sie auf den Schulhof trat. Claudia war etwas kräftiger gebaut, war nicht sehr beliebt und wurde gerne von den Mitschülern gehänselt. Christine hatte auch wenig Anschluss, aber in Gegensatz zu Claudia hatten die Mitschüler großen Respekt vor ihrer Persönlichkeit, da sich Christine schon gelernt hatte zu verteidigen. Sie hatte immer einen guten Spruch auf Lager, wenn sie in bedrohlichen Situationen steckte. Das hatte sie sich im Laufe der Jahre antrainiert, es diente ihr zum Schutz vor Gemeinheiten der anderen Kinder ihr gegenüber. Sie mochte Claudia, da sie sich oftmals bereiterklärte ihr bei den Aufgaben in der Schule zu helfen. Sie war eine gute Schulfreundin, aber auch nicht mehr oder weniger. „Hi Claudia!“, rief Christine zurück, ging auf sie zu und umarmte sie freundschaftlich.
Der Unterricht war überstanden und Christine hatte es endlich wieder geschafft. Sie freute sich schon darauf mit Andreas und seinen Kumpels um die Häuser zu ziehen. Als Christine zur Haustür trat und in ihr Zimmer marschieren wollte, hielt sie sogleich der Großvater zurück. „Ich will erst dein Hausaufgabenheft sehen mein Fräulein!“ Unfreiwillig öffnete Christine ihren Schulranzen, holte das Hausaufgabenheft heraus und drückte es ihrem Opa in die Hand. Herr Krossmann hob die Augenbrauen, dann sprach er: „Da liegt ja noch viel vor uns!“ „Andreas will mir heute helfen.“, wich sie ihrem Großvater ängstlich aus. „Andreas??? Wenn sich hier jemand um deine Hausaufgaben kümmert, dann bin ich es...und deine Großmutter! Ach übrigens, dein Bruder ist sowieso nicht da. Der hat anscheinend besseres zu tun, als seiner kleinen Schwester geduldend die Hausaufgaben zu erklären. Der kann sich auf was gefasst machen, dass schwör ich dir!“, stieß der Großvater zornig aus. „Der sollte sich lieber um eine Ausbildung bemühen, anstatt sich die Birne dicht zu kippen!“, fuhr er fort. „Aber jetzt komm erst mal zum Essen!“ Er fasste Christine grob ans Handgelenk und zog sie mit sich in die Küche. „Setz dich!“, schrie er immer noch wutgeladen. Die Großmutter sah kurz von der Herdplatte auf und lächelte Christine aufmuntert zu, doch wagte es sich nicht, ihrem Mann zu widersetzen. Stillschweigend rührte sie mit dem Kochlöffel in der Suppe. „Wie lange brauchst du noch?“, fragte Herr Krossmann seine Frau und sah ihr auf die Finger. „Fünf Minuten Richard.“, gab Frau Krossmann zu verstehen. „Na gut, ich komme gleich wieder.“ Herr Krossmann warf Christine noch einen scharfen Blick zu und verschwand.
„Oma!?“ versuchte Christine einen Hilfeschrei. „Was gibt es mein Kind?“ Christines Augen füllten sich mit Tränen. Schnell stand sie auf, rannte zu ihrer Oma und klammerte sich fest an sie. „Opa ist immer so böse...er sagt ich bin ein Nichtsnutz...und bekomm gar nichts gebacken...ich will die Hausaufgaben nicht mit ihm machen...“ Die Oma beugte sich ein Stück zu dem Mädchen herunter und schloss sie in die Arme. „Aber du weißt doch, Opa will dir doch nur helfen...und dann ist er oft gereizt, wenn du nicht verstehst, was er dir erklären will. Nimm es nicht so schwer. Irgendwann wirst du es schon noch verstehen.“ „Nein Oma...ich will nicht! Ich will, dass du mir bei den Hausaufgaben hilfst...du kannst mir die Aufgaben besser erklären und schreist mich auch nicht so an wie Opa.“ Erschrocken drehten sich die beiden zur Tür, denn sie hatten Schritte im Flur wahrgenommen. Plötzlich steckte Andreas seinen Kopf hindurch. „Na, was ist denn hier los? Gruppenkuscheln?“ Er lachte und steuerte auf seine Oma und Christine zu und umarmte sie beide. Christine bekam noch einen zusätzlichen Kuss auf die Backe. „Andreas, gott sei dank! Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.“, schluchzte Christine unter Tränen. „Aber...Tinchen! Was weinst du denn?“ „Ich freu mich nur so dich zu sehen...wo warst du?“ Sie klammerte sich an Andreas und grub ihren Kopf in seinen Arm. Etwas besorgt und fragend suchte er bei seiner Oma Antwort, doch diese schaute nur zurück und hob die Schultern. Dann wand sie sich wieder der Suppe zu und rührte weiter.
Das Essen lief ohne weitere Probleme ab und Andreas konnte seinen Großvater doch dazu überreden seiner Schwester bei den Hausaufgaben zu helfen. Also machten sich Andreas und Christine auf in das Zimmer. Es dauerte drei Stunden lang und Andreas hatte große Geduld bewiesen. Irgendwann hatte es Christine doch noch geschafft und sie beiden konnten endlich zusammen aus dem Haus gehen. Das erste Mal zog Christine mit ihrem 16. Jährigem Bruder um die Häuser. Sie fühlte sich schon lange nicht mehr so gut und war das erste Mal in ihrem Leben richtig stolz einen so tollen Bruder an ihrer Seite zu haben, der ihr die Stadt Berlin etwas näher brachte und sie seinen Freunden vorstellen wollte...





Re: Das Leben der Christine Walter

7 – Freundinnen

Claudia hatte Mühe Christine zu beruhigen und legte freundschaftlich den Arm um ihre Schulter. „Das kann doch jedem mal passieren, ist doch nicht schlimm. Beim nächsten Mal machst du es halt besser.“, redete sie auf Christine ein, doch Christine war nicht umzustimmen. „Ich geh nicht mehr nach Hause, mein Opa macht Hackfleisch aus mir, wenn er die 6 zu Gesicht bekommt.“, meinte sie und schaute betrübt zu Boden. Irgendwann gab es Claudia auf und fragte: „Wie währe es, wenn wir gleich nach der Schule erst mal in die Stadt gehen!? Dann kannst du dich erst mal beruhigen und ein wenig ablenken. „Gut, von mir aus.“, gab Christine Antwort und legte ihren Kopf auf die Schulbank. Den weiterführenden Unterricht verfolgte sie gar nicht mehr, sie musste ständig an die verbockte Klassenarbeit denken. „Scheiße, was mach ich denn jetzt? Vielleicht kann mir Andreas...auch anders helfen!“, überlegte sie angestrengt. Sie war selbst nicht sehr überzeugt von ihrer schwachsinnigen Idee, aber einen Versuch war es wert. Morgen stand nämlich schon wieder eine Klassenarbeit bevor und es bereitete ihr Magenkrämpfe, wenn sie nur darüber nachdachte. „Du Claudia!?“, fing sie an. „Wir könnten nachher auch meinen Bruder besuchen, wenn du nichts dagegen hast. Der hockt mit seinen Kumpels immer in der alten Fabrik, ich muss ihn noch sprechen, bevor ich nach Hause gehe.“ Etwas unsicher nickte Claudia mit dem Kopf und wand sich wieder ihren Aufgaben zu. Immer wieder kamen aus der hinteren Reihe in der die Jungs saßen, kleine Briefchen angeflogen, die Christine galten. „Was willst du Stefan?“ Sie drehte sich zu ihrem Klassenkammerad herum und beugte sich zu seinem Tisch herüber. Dieser schaute prüfend in die Richtung zum Lehrer. „Hast du heute schon was vor Schätzchen? Ich würde dich gerne auf ne Cola oder so einladen.“ Stefan lächelte Christine verlegen an. Inzwischen hatte es schon die Runde gemacht, dass er scharf auf Christine war. „Ne, hab mich heute mal mit Claudia verabredet.“, gab sie cool zurück und kippelte mit ihrem Stuhl. „Was hängst du eigentlich immer mit der Dicken ab? In der Schule habe ich es ja noch verstanden... du hast Mitleid mit ihr, aber jetzt auch noch privat!?“, stichelte Stefan und schaute zu Claudia, die interessiert dem Unterricht folgte. „Hast du nen Problem damit? Sie ist meine Freundin kapiert!? Laber nicht so ne gequälte Scheiße.“ „Ich weiß, tut mir leid. Ist mir ja eigentlich auch egal mit wem du dich abgibst, aber Christine...du machst dich dadurch nur unbeliebt.“ „Ich weiß, na und!? Da scheiß ich drauf. Ich hab wenigstens ne Freundin, die zu mir steht und die langt mir. Ich muss mich nicht mit so Leuten abgeben wie dir.“ Der Spruch hatte gesessen und Christine kippte mit dem Stuhl zurück nach vorne. „Willst du das nicht langsam mal abschreiben? Es klingelt gleich.“, mahnte Claudia sie. „Och ne, ich hab jetzt irgendwie keinen Nerv dazu. Könntest du mir die Sachen nicht bis morgen ausleihen? Dann mach ich das zuhause. Du bekommst die Sachen auch morgen wieder.“ Christine lächelte verschmitzt. „Okay, aber vergiss nicht, mir die Sachen morgen wieder mitzubringen.“, gab sich Claudia geschlagen. „Nein, vergesse ich schon nicht.“ Und wie erwartet dauerte es keine fünf Minuten mehr und die große Schulglocke ertönte. Christine hatte ihre Unterlagen schon während der Schulstunde eingepackt, schnappte sich ihren Ranzen und wartete ungeduldig auf Claudia. „Mensch, wo bleibst du denn? Ich will heute noch los.“, sprach Christine und ging dann mit Claudia aus dem Gebäude und anschließend gleich in die Stadt.
„Ich bin ziemlich oft noch nach der Schule hier und sitze hier so meine Zeit ab und mach hier ab und zu auch die Hausaufgaben.“ Christine hörte Claudia gespannt zu. Sie hatten sich noch nie nach der Schule getroffen und über Privates wurde nie viel geredet Das ein oder andere hatten sie zwar in der Schule miteinander besprochen, aber so wie heute, dass Christine mit einer Freundin zusammen auf einer Bank in der Stadt saß und an einem Eis schleckte war Christine nicht in Erinnerung. Es war etwas ganz anderes und viel schöner, als wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Sie fühlte sich das erste Mal so richtig wohl in ihrer Haut. Endlich hatte sie mal jemanden zum Reden gefunden. „Und wieso hast du mir nie was gesagt? Wir hätten uns schon viel früher mal treffen sollen. Ich mag auch nie gerne nach Hause gehen. Weißt ja, was ich dir über meine Großeltern erzählt habe.“ Die Sonne schien und Christine war in Gesprächslaune gekommen. Die verbockte Arbeit hatte sie schon total vergessen und daran denken, was der Großvater wieder sagte, wenn sie nach der Schule nicht nach Hause kommen würde, wollte sie nicht. „Na ja, du hast noch Glück Christine. Zu mindestens schlägt dich dein Opa nicht und das ist schon viel Wert. Lass ihn noch so streng sein, aber nichts ist schlimmer, als von seinen eigenen Eltern windelweich geschlagen zu werden.“ Claudias Augen füllten sich mit Tränen. „Verstehe...deshalb sitzt du hier, nicht wahr!?“ Christine schaute besorgt zu Claudia und legte tröstend ihren Arm um sie. „Meine Eltern saufen schon, seitdem ich fünf Jahre alt bin. Ich kann nichts dagegen tun, sie versaufen unser ganzes Geld. Wir haben nie was im Haus und Essen schon mal gar nicht.“ Christine fiel es schwer, Claudia Glauben zu schenken, denn sie war nicht gerade die Schlankeste. „Ich geh dann meistens in den Park hier neben an und klaue älteren Leuten das Geld aus der Tasche, oder ich gehe direkt in den Laden und nehme mir einfach das was ich brauche. Mir bleibt ja nichts anderes übrig, verstehst du!? Inzwischen habe ich mich schon daran gewöhnt. Es macht mir schon gar nichts mehr aus.“, fuhr Claudia schluchzend fort. „Hey, das tut mir wirklich leid für dich. Wenn du willst, kann ich ja mal meinen Bruder fragen. Der hat jetzt nen guten Job und verdient damit reichlich viel Geld. Er hat bestimmt nichts dagegen, dir mal was zu leihen. Dann musst du nicht klauen gehen.“, sprach Christine aufmunternd. „Danke für deine Hilfe, aber ich kann es nicht annehmen. Ich kann ihm das Geld sicherlich nicht zurückzahlen. Wovon denn bitteschön!?“, lehnte Claudia dankend ab. „Das musst du auch nicht. Mein Bruder macht das bestimmt, er ist ein Herzensguter Mensch, glaub mir.“
Nachdem Christine ihr Eis aufgegessen hatte, gingen sie noch eine Weile nebeneinander her und blieben ab und zu mal vor einem der Schaufenster stehen. Irgendwann jedoch packte Christine Claudia am Arm und zog sie mit sich zu einer Bushaltestelle. „Fährt von hier zufällig der 145?“, fragte sie unwissend. Claudia studierte den Fahrplan. „Ja, in einer Minute.“, gab sie Antwort. „Fahren wir zum Fabrikgelände, zu deinem Bruder?“ „Ja, wir müssen nur darauf achten, dass wir nach der zweiten Station wieder aussteigen. Hab den Namen der Haltestelle aber vergessen.“ Während sie im Bus saßen, überlegte Christine fieberhaft, doch dann erinnerte sie sich an die Tankstelle , die auf der rechten Seite in roten Farben aufblinkte. „Hier müssen wir raus, da drüben ist die Tankstelle, an der ich letztens mit Andreas vorbei fuhr.“ Schnell drückte Christine den Halteknopf und sprang auf. Auch an den Waldweg hatte sie sich erinnert und ging ihn jetzt mit Claudia empor bi hin zur alten Fabrik. „Hey Andreas!“, schrie Christine, als sie ihren Bruder draußen auf dem Feld in einem alten Anhänger sitzen sah. Vorne an montierte Mathias ein Seil. Er wollte es an seinem Fahrrad anbringen. „Hey Tinchen, was machst du denn hier? Wenn Opa das wüsste!“ „Lass uns jetzt nicht wieder davon reden...darf ich euch meine Freundin Claudia vorstellen!?“ Andreas hob kurz seinen Blick, dann schaute er wieder zu Mathias. „Ich wusste gar nicht, dass du eine Freundin hast! Wirklich...schön. Ich und Mathias wollen aber gleich noch mit den anderen los.“, wimmelte Andreas seine kleine Schwester ab. „Andreas, ich muss mit dir reden!“, rief ihm Christine zu. Sie klopfte kurz auf Claudias Schulter, sagte: „Warte kurz.“ und ging dann ein paar Schritte auf Andreas zu. „Du musst mir einen Gefallen tun. Meiner Freundin geht es nicht so gut, sie bekommt von zuhause aus kein Geld und muss klauen gehen, um sich welches zu beschaffen. Da wollte ich dich fragen, ob du vielleicht...“ Christine warf einen scharfen Blick auf Mathias. „Ich lass euch dann wohl besser allein.“, sprach dieser auch sofort und schmunzelte innerlich. Er ging jetzt auf Claudia zu, um sich bei ihr vorzustellen. „Hey. Ich bin Mathias und wer bist du?“ „Claudia.“ „Ich hab zufällig mitbekommen, dass du Geld brauchst.“ Mathias grinste immer breiter. Er hatte plötzlich eine Wahnsinns Idee „Nein, brauch ich nicht.“, wehrte Claudia ab und sah wieder zu Christine hinüber, die sich immer noch mit ihrem Bruder unterhielt. „Hey Süße, ich glaub wir könnten dir helfen, ich meine...wenn du uns hilfst!“ Mathias zog Claudia mit sich in die Fabrik, diese willigte zögernd ein. Mathias erklärte ihr nur das notwendigste, was sie wissen musste und durfte. Claudia überlegte eine Zeitlang. „Und die Sachen verkauft ihr dann? Und wie viel Geld bekommt ihr so dafür?“ „Ja, die Sachen bringen schon nen Haufen Kohle. Also mehr, als du jemals bei deinen lächerlichen Diebstahlen verdient hast. Ich geb dir dann 50 Mark pro Tag, wenn du mitmachst.“ Claudia war sich unsicher. Christine und auch Andreas durften nichts davon erfahren, sie musste es Mathias versprechen. Gerade jetzt, wo sie Christine als Freundin gewonnen hatte, machte ihr Mathias so ein verlockendes Angebot. „Ich probiere erst mal was anderes. Ich komme darauf zurück, wenn mir wirklich nichts besseres einfällt.
Außerdem ist mir die Sache ein bisschen zu riskant.“ Damit verließ Claudia das Gebäude und hielt nach Christine und Andreas Ausschau...




Re: Das Leben der Christine Walter


8 – Falsche Pläne

Andreas schüttelte den Kopf. „So viel verdiene ich nun auch wieder nicht. Es geht nicht Christine, ich kann nicht auch noch deine Freunde mit durchfüttern. Dann muss sie eben weiter Diebstähle begehen, oder sie geht in so ein Wohnheim...hab davon gehört, soll´s geben!“ „Das ist doch nicht dein Ernst“, entgegnete Christine ihrem Bruder. Ihre Augen funkelten zornig. „Wo wir schon mal dabei sind, du hast auch keine Zeit mehr für mich. Meine Probleme kümmern dich genauso wenig, wie die meiner Freunde. Du hängst ständig mit diesen Typen rum. Ich versteh dich nicht mehr Andreas!“, warf sie ihm an den Kopf, so dass Andreas seine Schuld eingestand. „Tinchen, du hast ja recht! Dann erzähl was los ist, was hast du für Sorgen? Kann ich irgendwas für dich tun, oder geht es nur um deine Freundin?“ „Ich mach mir solche Sorgen um sie. Es geht ihr wirklich schlecht. Ihre Eltern behandeln sie wie Abschaum, aber da währe noch was anderes...“ Christine machte eine Pause und Andreas hob die Augenbrauen. „Ach ja? Was denn?“ „Andreas, pass auf! Ich...hab schon wieder ne sechs in die Arbeit gehauen. Opa darf nichts davon erfahren, du musst die Unterschrift fälschen, bitte!“, flehte Christine mit großen traurigen Augen. „Ja...schon gut, mach ich! Hab ja schon Übung darin. Aber der Alte wird sich irgendwann auch fragen, wo die ganzen Arbeiten bleiben, die du immerzu schreibst.“ Christine musste schmunzeln. „Darüber hab ich mir auch schon Gedanken gemacht und hab sogar schon eine Idee!“ „Und die da währe?“ „Du schreibst die nächste Arbeit für mich.“ Christine musste anfangen zu kichern und kniff Andreas in die Seite „Ich sag nur Zwillingsbruder!“, fuhr sie lachend fort. Auch Andreas musste schmunzeln. „Das wüsste ich aber. Mensch Tinchen, dass schnallen die doch sofort! Außerdem bin ich viel älter als du, soll ich mich jetzt rasieren, oder wie hast du dir das vorgestellt? Ich bin ein Mann und du eine Frau, das haut niemals hin.“, entgegnete er skeptisch. „Du hast selbst gehört, dass uns einige Leute schon für Zwillinge gehalten haben, außerdem haben wir etwa die selbe Haarlänge und...mit einer Rasur könnte man schon vieles verändern.“ „Deine Lehrerin wird vielleicht noch drauf reinfallen, aber deine Klassenkammeraden werden sofort schnallen, dass ich nicht du bin.“ „Ich rede sowieso kaum mit denen. Sag einfach du hast deine Tage, dann lassen sie dich in Ruhe. Musst sie ja nicht unbedingt anschauen. Außerdem...nach der zweiten Stunde bin ich ja wieder da.“ Christine war überzeugt von ihrer Idee und freute sich schon innerlich. „Okay, aber unter deiner Verantwortung. Was is denn das überhaupt für ne Arbeit? Und wann soll das ganze stattfinden?“ Andreas war unsicher und raufte sich durch die Haare. „Morgen früh, erste Stunde...Rechtschreibung!“ „Morgen früh??“, stieß Andreas überrascht aus. So früh hatte er nun auch nicht damit gerechnet. Als er Claudia kommen sah, klopfte er Christine noch einmal schnell auf die Schulter. „Okay okay, morgen früh! Aber jetzt muss ich los.“ „Andy, warte!“, rief ihm Mathias herüber, der jetzt ebenfalls aus der Fabrik gekommen war. „Wir verschieben das Ganze. Ich hab mich gerade anders entschieden. Wie währe es, wenn wir mit den Mädels noch ne kleine Spritztour machen!? Nicolas kommt gleich vorbei.“, fuhr Mathias fort. Christine hakte sich bei Claudia ein und sah ihr entgegen. „Hört sich doch nicht schlecht an, oder? Hast du Lust?“ Dann wand sich Christine wieder an ihren Bruder. „Können wir Claudia dann später auch nach Hause fahren!?“ Doch Andreas wurde sofort von Mathias unterbrochen. „Aber klar Chrischi, wir bringen auch dich und Andy später unbeschadet nach Hause. Das ist überhaupt keine Frage.“ Claudia war ein wenig unwohl zumute. Sie hatte Mathias schon lange durchschaut. Er wollte Claudia näher kennen lernen und zwischendurch noch mal prüfen, ob sie sich schon über sein Angebot klar geworden ist. Aber Christine hatte sie so in Bedrängnis gebracht, dass sie der Spritztour unfreiwillig zustimmte.
Während sie nun auf Nicolas dem Ältesten und dem einzigsten mit Führerscheinerlaubnis warteten, nutzte Claudia die Gelegenheit um Christine zu fragen, was sie nun mit ihrem Bruder besprochen hatte. „Tut mir leid Claudia, aber ich bring ihn noch dazu, kannst dich auf mich verlassen! Ich lass nicht zu, dass du noch mal klauen gehen musst.“ „Ist nicht so schlimm Christine, ich schaff das auch irgendwie anders.“ „Und wie?“, fragte Christine mitfühlend. „Ich such mir einfach einen Job.“ Claudia lächelte ihr aufmunternd zu, dann musste auch Christine anfangen zu lachen. „Darauf währe ich jetzt nie gekommen. Ich bin so blöd. Gute Idee, dann verdienst du dir dein eigenes Geld und bist nie wieder auf andere Leute angewiesen.“ „Genau.“, entgegnete Claudia trocken und sah zu Mathias herüber, der sie die ganze Zeit über angestarrt hatte. Er legte seinen Kopf leicht in die Seitenlage und lächelte falsch. Claudia hob die Hand und winkte ihm ebenfalls falsch lächelnd zu. „Du Misstkerl, auf deine Hilfe kann ich wirklich verzichten.“, dachte sie sich und ging mit Christine im Schlepptau ein Stückchen weiter, um ungestört reden zu können.
„Hey Claudia, Andreas wird morgen die Arbeit für mich schreiben...nicht dass du dich noch wunderst. Frau Professor kriegt sowieso nie was mit. Bevor ich noch Stress mit dem Alten bekomme, lass ich es lieber auf einen Versuch ankommen.“ „Das ist doch verrückt. Andreas will tatsächlich...nein!?“ Claudia schaute erstaunt drein. „Ja, is doch total geil. Du weißt selbst wie schlecht ich bin, da hilft auch keine gute Nachhilfe. Andreas ist meine letzte Hoffnung.“ „Christine, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber...wie lange soll das dann so weiter gehen? Andreas kann schließlich nicht jedes Mal die Arbeiten für dich schreiben, nur weil du zu faul bist. Du musst so lange pauken, bis du den Stoff verstehst. Ich helf dir auch dabei.“, versuchte Claudia Christine vom Gegenteil zu überzeugen. „Ich pack das schon irgendwann. Aber Andreas muss mich jetzt erst mal ne Zeitlang da raus hauen und mir wieder gute Noten verschaffen. Sonst bleib ich unter Umständen noch backen und muss die Klasse wechseln.“, verteidigte Christine sich widerspenstig.
Ehe sie weiter fortfahren konnten, kam schon Nicolas mit seinem Wagen auf den Asphalt angerollt. „Hallo alle zusammen.“, rief er den Mädels zu und streckte seinen Arm aus dem Fenster. „Ich bin Nick und wer seid ihr?“ „Ich bin...Chris!“ Christine schüttelte ihm die Hand und zog ihre Freundin heran. „Und das ist Claudia, eine Freundin von mir.“ „Darf ich dich mal was fragen...Chris!? Du hast Ähnlichkeit mit Andreas...aber du bist doch ein Mädchen, oder...aber Chris??“ Nicolas suchte nach Worten. Er war ein wenig irritiert und schaute auf Christine herab. „Ich bin Andreas jüngere Schwester Christine.“ Christine lachte und gab Nicolas einen weiteren Handschlag. „Ach so...hab ich mir schon fast gedacht. Kommt, steigt ein.“

Nachdem alle vollzählig waren und noch ein paar weitere Kumpels von Andreas im Wagen Platz genommen hatten, ging es los. Sie fuhren an die nächste Tankstelle, wo Nick ein paar Flaschen Alkohol heraus holte und dann zu einem See weiter fuhr. Es sollte ein gemütlicher Nachmittag mit Freunden werden, an dem Christine und auch Claudia ihren Spaß gefunden hatten...




 Re: Das Leben der Christine Walter

9 – Ausflug zum Wasser

Während Christine und Claudia bis zu den Knien im Wasser standen, verkündete Nick Freibier für alle und trank sogar eine Flasche mit. Christine war es mittlerweile gewohnt, dass ihr Bruder Andreas immer einer der ersten war, der natürlich sofort eine Flasche Alkohol öffnete und ansetzte, um sie zu trinken. Am Anfang blickte sie dem Geschehen unwohl entgegen, aber heute war es genau das Gegenteil von dem, sie spürte plötzlich das Gefühl von Freiheit in sich aufsteigen. Sie lachte und drehte sich mit Claudia im Wasser, bis sie beide schließlich mit samt den Klamotten ins Wasser fielen. Christine lebte und hatte sehr viel Spaß, genauso Claudia. Sie vergaß für einen Moment auch all ihre Probleme und lernte zurück bei den anderen auf der grünen Wiese auch Mathias etwas näher kennen. „Komm, probier mal!“ Mathias hielt Claudia eine Flasche Bier entgegen, während Christine schon lange in den Bierkasten gegriffen hatte und das Bier in aller Ruhe hinter einem Abhang ,nah gelegen am Wasser, genüsslich in sich hinein kippte. Eine Weile später kam Nick um die Ecke und setzte sich zu ihr. „Hey, wenn du schon dabei bist...darf diese natürlich auch nicht fehlen!“ Er bot Christine eine Zigarette an. Sie nahm sie lächelnd entgegen. „Danke, ich wollte schon immer mal rauchen, aber Andreas...brauchst es ihm ja nicht gleich unter die Nase binden, bitte!“ „Was denkst du denn von mir?“, versprach Nick und nickte mit dem Kopf. „Klar, kannst dich auf mich verlassen, ich sag nichts.“ Er gab Christine Feuer und sie zog das Nikotin in ihre Lunge. Sie begann fürchterlich an zu husten und Nick klopfte ihr hilfsbereit auf die Schulter, was aber nichts brachte. „Hier, drink erst mal was.“ Er deutete auf das Bier, was Christine in ihrer Hand hielt. „Das ist mir jetzt aber peinlich, sorry.“, gab sie verlegen lächelnd zurück. Nick deutete Christines Verhalten falsch und begann ein wenig mit ihr zu flirten. Sie gefiel ihm, obwohl sie gerade mal 12 Jahre alt war und er 19. Trotzdem hatte Christine schon viel Reife für ihr Alter. Kind war sie eigentlich nie gewesen. Schon im kleinsten Alter an, hat sie sich für viel größere Dinge interessiert, als wie zum Beispiel mit Puppen zu spielen. Sie war halt nicht das typische kleine Mädchen von nebenan. Sie war etwas besonderes und das hatte Nick auf den ersten Blick erkannt. „Du hast wunderschöne Haare Christine, die funkeln ja richtig im Licht, schau mal.“ Er fuhr Christine mit den Fingern durch ihre Haare und hielt sie nach oben. „Das hat mir noch keiner gesagt, aber danke für das Kompliment.“, entgegnete sie. Auch Mathias und Claudia verstanden sich besser als zuvor. Sie hatten sich sogar geküsst. „Was ist denn jetzt? Willst du dir nicht ein bisschen Kohle dazu verdienen? Claudia, dass mit deinen Eltern tut mir so leid, ich möchte dir gerne helfen. Andreas und Christine müssen ja auch nicht unbedingt etwas davon erfahren! Bitte Claudia, komm das nächste mal mit mir und dann sahnen wir ab, aber so richtig!“ „Nein, ich mach da nicht mit! Ich such mir einen anständigen Job, ich habe es Christine versprochen!“, widersprach sie ihm. „Ich höre immer nur Christine...hast du keinen eigenen Willen!? Man Claudia, dass macht nen halben Spaß, glaub mir. Und am Ende sind wir auch noch um tausende von Mark reicher...ich hab dich lieb Claudia...sehr lieb.“ Mathias griff Claudia an ihren Busen. Sie war auch gerade mal 14 Jahre alt und hatte noch keinerlei Erfahrungen mit Männern gesammelt. „Was soll das, lass das!“ Sie fegte seinen Arm von sich und wollte aufstehen, doch Mathias hinderte sie und zog sie grob zurück auf die Wiese. Keine Spur von Christine, Nick, Andreas, Nico und Dennis. Sie waren ungestört und das wollte Mathias schamlos ausnutzen. „Jetzt sag ich dir mal was! Ich würde dir keine Hilfe anbieten, wenn ich nicht genau wüsste, dass du schon so einige krumme Sachen abgezogen hast! Nun tu doch nicht so unschuldig, du brauchst die Kohle und du beschaffst sie uns, damit das klar ist!“
Mathias wurde aggressiv, er hatte schon viel getrunken und war unberechenbar geworden. Claudia hatte Todesangst. „Was soll das!? Aua, du tust mir weh!“, schrie sie um sich und versuchte sich aus seinen Fängen zu befreien, aber schaffte es nicht. „Okay, du hast es nicht anders gewollt!“ Mathias stand auf und riss sie am Handgelenk mit sich. Claudia hatte noch nicht mal die Chance aufzustehen. Sie wurde brutal von Mathias über die Wiese geschliffen, so dass ihr Rücken schon zu zwiebeln begann, denn sie trug nur ein T-shirt. Im Wasser angekommen, drückte er Claudia mit dem Kopf unter Wasser, so dass sie für einen Moment lang keine Luft bekam, währenddessen öffnete er ihre Hose und begann sich auf sie drauf zu setzen. Claudia wehrte sich mit all ihren Kräften, aber Mathias war ihr weit aus überlegen. Hastig und schnell ging sein Atem, während er nun auch seine Hose zu öffnen begann. Danach ging alles sehr schnell. Claudia erlitt furchtbare Schmerzen, er vergewaltigte sie. „Du hast keine Chance, kapier das endlich!“, schrie er außer sich vor Wut. „Ja, okay, ich mach alles was du willst...aber bitte...tu mir nicht mehr weh.“, hauchte sie leise unter Schmerzen. Bevor Mathias aber darauf reagieren konnte, ertönte plötzlich eine laute tiefe Stimme hinter ihnen. „Mathias, du Schwein!!! Verdammte Scheiße!!! Bist du verrückt geworden!?“ Es war Andreas, der schnell angeeilt kam und Mathias von der völlig verstörten Claudia riss. Andreas stürzte mit Mathias ins Wasser, eine Schlägerei nahm seinen Lauf...
„Und so was nennt sich mein bester Kumpel!? Du missbrauchst wehrlose kleine Mädchen! Man, bist du pervers! Mach, dass du so schnell wie möglich von hier verschwindest und mir nie wieder unter die Augen trittst! Ich hasse dich!!!“ Andreas Stimme ging schon mehr in Traurigkeit über. Tränen standen in seinen Augen. Er hatte Mathias von hier vertrieben und kümmerte sich jetzt fürsorglich um Claudia, die immer noch geschockt im Wasser lag und furchtbar zitterte. „Scheiße! Komm, ich helfe dir! Der wird hier nie wieder aufkreuzen, dass schwör ich dir!“ Doch Claudia ließ sich nicht helfen, stand auf und rannte davon. Niemand hatte sie mehr gesehen. Christine saß währenddessen immer noch mit Nick am Felsen und hatte ihren Blick auf das weite Meer geworfen. „Was ist denn los Christine? Hat es dir nicht gefallen?“, fragte Nick besorgt und etwas enttäuscht. „Ich will das nicht Nick, bitte versteh das! Ich hab dich trotzdem lieb!“, gab sie zurück und ging. Sie hatte Nick geküsst, oder viel mehr er sie. Es war ein neues Gefühl. Es war schön, aber irgendetwas störte sie trotzdem daran. Sie konnte es sich einfach nicht erklären...
Am späten Abend kehrten Andreas und Christine zurück nach Hause. Gott sei dank war nur Frau Krossmann zuhause. Diese schickte ihre Enkelkinder sofort ins Bett, sagte zwar nichts weiter, aber Christine und Andreas merkten auch so, dass sie sehr enttäuscht von ihnen war. Trotzdem wussten die beiden, dass auf ihre Oma immer verlass war. Bei ihr konnten sie sich sicher sein, dass sie ihrem Mann den späten Ausflug der beiden nicht erzählte. Dieser hockte wahrscheinlich in Rolfs Pinte und kippte sich die Birne dicht, so hatte es Andreas zu seiner Schwester gemeint. „Lass ihn doch, ist auch gut so. Der hätte uns die Hölle heiß gemacht!“, entgegnete daraufhin Christine. Gott sei dank hatte die Oma Christines Alkoholfahne nicht gerochen, dass hätte Ärger gegeben, so dachte Christine nach, als sie auf dem Bett lag und an die Decke starrte. Ihr drehte sich alles, sie hatte irgendwie keinen klaren Gedanken. Doch plötzlich erinnerte sie sich an den morgigen Tag und an die Klassenarbeit. „Du...scheiße!!! Andreas!!! Du weißt doch noch, was ich gestern zu dir meinte, wegen morgen!?“ „Ne, wieso? Was meinst du Tinchen?“ Andreas Augen fielen ihm immer wieder zu, er war kurz vorm einschlafen. Doch Christine rüttelte ihn immer zu wach. „Die Arbeit!!! Wir schreiben morgen die Arbeit bei Frau Erichson, du hast mir dein Wort gegeben Andreas!?“ „Ja ja...klar doch.“, antwortete er müde und erschöpft, ohne weiter darüber nachzudenken. Christine gab es auf. Sie selbst war auch zu müde. Nun schloss auch sie die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf.


 Re: Das Leben der Christine Walter

10. – Rollentausch

„Aufstehen mein Schatz. Du musst zur Schule.“, sagte Frau Krossmann und küsste ihrer Enkelin auf die Stirn. Diese lag wie verrädert im Bett und wollte nicht aus den Federn. „Was? Wie spät ist es?“ Panik machte sich in Christine breit. „Wir haben verschlafen meine Kleine, die zweite Schulstunde ist schon angebrochen.“, entgegnete die Großmutter. „Scheiße!“, entfuhr es Christine und sprang schnell aus dem Bett. So schnell wie an diesem Morgen war sie noch nie zur Schule gehechtet. „Wo ist Andreas, wo ist Andreas?“, fragte sie sich immer wieder. Die große Pause hatte gerade begonnen, als sie das Schulgelände betrat. Und plötzlich...Andreas! Langsam kam er auf sie zu, flüsterte im Vorbeigehen: „Alles easy.“ und verließ daraufhin den Schulhof. Christine schaute ihm lächelnd nach, doch dann kamen einige Klassenkammeraden auf sie zu. „Scheiße, sie haben was bemerkt.“, grübelte Christine mit flauem Gefühl im Magen. „Du wolltest ja wohl nicht das Schulgelände verlassen, oder? Ohne uns!?“, fragte Martina interessiert. Christine fiel ein Stein vom Herzen und musste schmunzeln. Während sie nun das Schulgelände verließen, gab Christine verschmitzt zurück: „Ne, natürlich nicht! Ich hab auf euch gewartet. Wo ist Claudia?“ „Wahrscheinlich krank, mir egal. Wieso fragst du? Du weißt doch selber, dass sie nicht da ist.“, war Martinas Antwort. „Ach ja...na ja...ich bin mit den Gedanken gerade ganz woanders.“, redete Christine sich heraus. „Achso!?“, wurde Martina neugierig und hakte genauer nach. „Haste etwa nen Lover?“ Bevor Christine darauf antworten konnte, sah sie das Mädchen mit den langen blonden Haaren von früher, nach etlichen Jahren das erste mal wieder und war hin und weg. „Christine? Was is´n los? Kennst du die?” Christine wurde von Martina aus ihrer Trance gerissen. „Ach...die...die kenne ich aus meiner damaligen Schule, sie ging in meine Paraelklasse.“, gab sie schmunzelnd zurück. Dann drehte sich das Mädchen plötzlich zu ihr um und lächelte ihr entgegen. Christine stockte der Atem und hob nur kurz die Hand. Sie hatte nie mit dem Mädchen gesprochen, aber sie war ihr trotzdem in Erinnerung geblieben. Doch nun schien alles anders. Das blonde Mädchen gab ihrer besten Freundin noch einen Abschiedskuss und kam jetzt auf Christine zu. „Hey, was machst du denn hier? Gehst du jetzt auf diese Schule?“, wollte sie wissen. „Ja genau und du auf die Real nebenan!?“ „So ist es! Ich bin übrigens Diana und du Christine, nicht wahr?“ Diana lächelte ihr zu und Christine musste lachen. „Ja, die bin ich. Habe dich ja lange nicht gesehen. Wollte dich damals schon immer ansprechen, hab mich aber nie getraut.“ „Ging mir genauso. Hab dich immer beobachtet.“, bestätigte Diana. „Was ist nun, kommst du mit nach Penny?“, hakten die Klassenkammeraden nach. „Geht doch schon mal vor...ach und bringt mir ne Cola mit.“, gab Christine verwirrt zurück und sah Martina und die anderen auch schon in das Geschäft gehen.
Christine und Diana standen nebeneinander und schauten sich entgegen. Wie lange hatte Christine auf diesen Moment gewartet gehabt, damals in der Grundschule. Sie hatte sich immer gewünscht, dass sie und Diana sich mal unterhalten würden. Verlassen stand sie oft in einer unscheinbaren Ecke des Schulhofes und warf einen Blick auf die schüchterne Person, die ihr gegenüber, an einer Säule gelehnt stand. Irgendwas war besonders an diesem Mädchen, fand Christine und musste jetzt, wo sie so darüber nachdachte, schmunzeln. „Hast du auch gerade Pause?“, fragte Christine. „Ne, ich hab Schulschluss. Unsere Lehrerin ist krank, deshalb. Ist auch besser so... Ich hab dich noch ganz gut in Erinnerung, du hattest genauso wenige Freunde wie ich und standest genauso bescheuert herum.“, rief Diana Erinnerungen an jene Zeit zurück. „Ja, ich hatte es auch nicht immer leicht.“ „Ich auch nicht. Kurz vor meiner Einschulung ist meine Mutter am Krebs gestorben, ich hatte null Bock und überhaupt keinen Kopf für die Schule. Weißt du, ich hab mir immer gewünscht, mit dir in einer Klasse zu sein.“ Diana schaute etwas verlegen zur Seite. „Hey, muss dir doch nicht peinlich sein, ging mir genauso!“ Christine lachte aus vollstem Herzen, auch Diana konnte sie mit ihrem Humor anstecken. Dann fuhr Christine fort: „Wir hätten uns bestimmt super verstanden, weil wir in einer ähnlichen Lage steckten. Meine Mutter starb auch sehr früh, musste zu meinen Großeltern. Tja und hab alles kurz vor der Einschulung erfahren!“ Christine stiegen wieder die Tränen in ihre Augen. Ihr Leben erschien ihr so sinnlos, seitdem sie ihre Mutter verlassen hatte. „Ihr Tod war bestimmt auch für dich ein harter Schlag.“, versuchte Diana zu trösten. Christine schluchzte und wischte sich mit der flachen Hand einmal über die Augen. „Ihr Tod eher weniger, ich wusste ja von nichts. Sie hat mich Wochen zuvor ja kaum noch in den Arm genommen. Schlimm war, als ich dann meine Großeltern lautstark über ihren Tod diskutieren hörte. Somit lag die Wahrheit auf dem Tisch.“, gab Christine mit rauer und verletzter Stimme zu verstehen. Sie musste schlucken, sie hatte einen fetten Kloß im Hals. Sie räusperte sich. „Ich find´s komisch.“, fand Diana. „Was findest du komisch?“ Christine schaute auf. „Na, dass wir beide so offen reden, obwohl wir uns gar nicht richtig kennen. Es ist beinahe so, als währest du schon ewig lang eine Freundin.“ „Ich wäre gerne deine Freundin gewesen, das kannst du mir glauben. Hab dich nie vergessen.“ „Ich dich auch nicht. Kannst du dich noch an den letzten Schultag in der Grund erinnern? Ich war nah davor, auf dich zuzugehen, um dir zu sagen, dass ich dich mochte.“, lachte Diana. „Christine, kommst du? Es ist 11:10 Uhr! Wir müssen weiter, sonst kommen wir noch zu spät.“, hörte Christine plötzlich die Stimme von Martina hinter sich. „Ja, ich komme.“ Sie lächelte Diana zu. „Man sieht sich.“ Und verschwand. „Wo ist meine Cola?“ „Hier! Sag mal, wer war denn das? Und was hattest du so lange mit der zu bereden?“ „Ach nichts weiter. Sag schon, wie viel schulde ich dir?“ „Wie?“ „Na für die Cola!“, wiederholte Christine. „Die hab ich so günstig geschossen, lass stecken!“, lachte Martina. „Achso, verstehe.“, gab Christine mit einem Unterton in der Stimme zurück und schaute Martina entsetzt entgegen.

Christine nahm den Unterricht wie immer nur teilweise wahr. Irr schwirrten ganz viele Gedanken durch den Kopf. Am liebsten hätte sie sich irgendwo auf der Toilette verkrochen und erst mal geweint. Das war doch ein wenig viel für sie gewesen. Die Erinnerungen an ihre Mutter, dann dieses komische Kribbeln in ihrem Bauch, wenn sie Diana sah und dann war da noch die Frage was jetzt zwischen ihr und Nick passieren würde? War er nur ein guter Freund, oder lief da eventuell mehr!? Christine war unruhig und stielte aus dem Fenster. Sie brauchte jemanden zum Reden, sofort. Sie fragte sich schon die ganze Zeit wo Claudia steckte und was Andreas jetzt machte. Mit einem von beiden musste sie jetzt reden. Außerdem wollte sie wissen, wie die Arbeit gelaufen war, die Andreas für sie geschrieben hatte. Etwas unwohl war ihr schon zumute und vor allem schaute Frau Erichson immerzu zu ihr herüber. Hatte sie den Rollentausch von Christine und Andreas doch durchschaut und wollte Christine nach dem Unterricht eventuell sogar noch sprechen? Viele ungeklärte Fragen ließen Christine für den Rest der Schulstunden einfach nicht los. Ihr kleines Herz schlug ganz wild in ihrer Brust. Sie konnte es schon förmlich hören, sie saß wie gerädert an ihrem Tisch und kritzelte angespannt die Sätze von der Tafel auf ihr Heft. Man konnte keinen einzigen Buchstaben wirklich erkennen. „Währe doch nur Claudia hier.“, machte sich Christine ihre Gedanken. Sie knallte den Stift auf ihr Schulheft und rannte zur Tür hinaus in die Schultoilette. Einige Schüler lachten, kicherten vor sich hin, oder flüsterten mit ihrem Nachbarn. Die Lehrerin allerdings fand daran überhaupt nichts witziges. Sie machte sich ernste Sorgen um das Mädchen. Ihr war Christine schon lange aufgefallen, durch ihr Verhalten. Sie wollte sich umgehend mit der Klassenlehrerin in Verbindung setzen und vor allem mit Christine sprechen.
Währenddessen übergab sich Christine in der Kloschüssel, heute war ein harter Tag für sie gewesen, außerdem bekam ihr der Alkohol nicht gut, den sie am Vorabend getrunken hatte.
Verzweifelt schlich sie sich zurück auf ihren Platz. „Gut gut Kinder, machen wir für heute etwas früher Schluss.“, sprach die Lehrerin. Gejubel herrschte im Klassenraum. Nur von Christine kam nichts. Versteinert saß sie auf der Schulbank und sah auf ihr vollgekritzeltes Stück Papier. „Kinder, verlasst das Schulgebäude bitte leise, nebenan wird noch eine Arbeit geschrieben.“, ermahnte die Lehrerin. Die Schüler gingen nun der Reihe nach auf den Flur und verließen den Klassenraum. Nun stopfte auch Christine ihre Sachen in ihren Ranzen und hob ihn sich auf die Schultern. „Moment noch Christine, ich will mit dir sprechen.“ Frau Erichson hielt sie an der Schulter zurück. „Scheiße, wusst´s ich doch.“ Christine zitterte am ganzen Körper, warum durfte sie nicht wie jeder andere auch endlich nach Hause gehen!?
Die Tür fiel ins Schloss und Frau Erichson setzte sich auf ihr Pult, das Bein über das andere geschlagen. „Setz dich doch, dann fällt es dir vielleicht leichter mir zu erzählen was mit dir los ist!“, hauchte die Lehrerin freundlich. Christine setzte ihren Ranzen ab und setzte sich nun ebenfalls auf einen Tisch gegenüber, ließ die Beine baumeln und schaute immer noch auf den Boden herunter. Auf keinen Fall wollte sie, dass man ihre Tränen sah und schon gar nicht die Lehrerin, entfuhr es Christine. „Was soll denn mit mir los sein!?“ „Ich sehe es doch Christine! Aber das ist ja nicht nur heute so, dass ist schon von Anfang an. Du schweigst dich aus und ich hab das Gefühl es wird immer schlimmer. Bedrückt dich irgendwas?“ Die Lehrerin stellte ihre Beine auf den Boden, ging zu Christine herüber, setzte sich neben sie und strich ihr sorgend über die Schulter. Christine wagte es sich nicht aufzuschauen. Ihre Wangenmuskeln fingen an zu zittern und ihre Stirn zog sich in Falten. „Nein, alles bestens. Wirklich, warum fragen Sie?“, gab sie so gelassen wie möglich zurück. „Hattest du Probleme mit der Arbeit in der ersten Stunde?“, wollte Frau Erichson wissen. „Die weiß was, hundert pro.“, Christines Körper verkrampfte sich immer mehr. Ihr Magen zog sich in sich zusammen, ihr war richtig schlecht geworden. „Ne, alles easy gelaufen! Ich hab ein gutes Gefühl.“, gab sie zurück, war sich jetzt aber nicht mehr so sicher. Sie dachte an Andreas letzte Worte und hoffte, dass er mit seiner Aussage Recht behalten würde. „Das ist schön, es währe schließlich das erste Mal.“ „Wie meinen Sie das!?“, wurde Christine zickig und immer unruhiger. „Bisher hast du nicht so gute Arbeiten geschrieben, ich habe oft deine Schrift nicht entziffern können. An deiner Klaue musst du noch arbeiten Christine. Du hast doch einen Bruder!?“ „Nein, hab ich nicht.“, gab sie schnell Antwort und verstrickte sich immer mehr in Lügen. „Deine Großmutter meinte so etwas! Ich meine ja nur...vielleicht hast du auch eine gute Freundin, die dir eventuell mal helfen könnte, oder aber auch deine Oma oder Opa!?“ Christine schüttelte den Kopf und eine Träne lief ihr die Wange herunter. Sie wurde von Frau Erichson sofort entdeckt. Sanft streichelte sie Christine über ihren Rücken. „Was immer dich auch traurig macht, du kannst es mir ruhig sagen.“ Die Schulglocke ertönte und Christine hatte genug. „Mit mir ist alles in Ordnung, ich glaube eher, dass Sie Hilfe brauchen!“, schrie Christine, schnappte sich ihren Ranzen und verschwand eilig zur Tür heraus. So schnell wie sie am Morgen zur Schule erschienen war, hatte sie die Schule auch wieder verlassen.
Sie setzte einen Schritt vor den anderen, so schwer war sie noch nie voran gekommen. Ihre Gedanken waren nur noch bei Andreas. Er war der einzige, der sie bestimmt verstehen konnte. Sie brauchte seinen Halt, seine Unterstützung. Sie musste ihn suchen, am besten zuerst auf dem Fabrikgelände. Nach Hause wollte sie jetzt nun wirklich nicht.
_________________




 Re: Das Leben der Christine Walter

10. – Rollentausch

„Aufstehen mein Schatz. Du musst zur Schule.“, sagte Frau Krossmann und küsste ihrer Enkelin auf die Stirn. Diese lag wie verrädert im Bett und wollte nicht aus den Federn. „Was? Wie spät ist es?“ Panik machte sich in Christine breit. „Wir haben verschlafen meine Kleine, die zweite Schulstunde ist schon angebrochen.“, entgegnete die Großmutter. „Scheiße!“, entfuhr es Christine und sprang schnell aus dem Bett. So schnell wie an diesem Morgen war sie noch nie zur Schule gehechtet. „Wo ist Andreas, wo ist Andreas?“, fragte sie sich immer wieder. Die große Pause hatte gerade begonnen, als sie das Schulgelände betrat. Und plötzlich...Andreas! Langsam kam er auf sie zu, flüsterte im Vorbeigehen: „Alles easy.“ und verließ daraufhin den Schulhof. Christine schaute ihm lächelnd nach, doch dann kamen einige Klassenkammeraden auf sie zu. „Scheiße, sie haben was bemerkt.“, grübelte Christine mit flauem Gefühl im Magen. „Du wolltest ja wohl nicht das Schulgelände verlassen, oder? Ohne uns!?“, fragte Martina interessiert. Christine fiel ein Stein vom Herzen und musste schmunzeln. Während sie nun das Schulgelände verließen, gab Christine verschmitzt zurück: „Ne, natürlich nicht! Ich hab auf euch gewartet. Wo ist Claudia?“ „Wahrscheinlich krank, mir egal. Wieso fragst du? Du weißt doch selber, dass sie nicht da ist.“, war Martinas Antwort. „Ach ja...na ja...ich bin mit den Gedanken gerade ganz woanders.“, redete Christine sich heraus. „Achso!?“, wurde Martina neugierig und hakte genauer nach. „Haste etwa nen Lover?“ Bevor Christine darauf antworten konnte, sah sie das Mädchen mit den langen blonden Haaren von früher, nach etlichen Jahren das erste mal wieder und war hin und weg. „Christine? Was is´n los? Kennst du die?” Christine wurde von Martina aus ihrer Trance gerissen. „Ach...die...die kenne ich aus meiner damaligen Schule, sie ging in meine Paraelklasse.“, gab sie schmunzelnd zurück. Dann drehte sich das Mädchen plötzlich zu ihr um und lächelte ihr entgegen. Christine stockte der Atem und hob nur kurz die Hand. Sie hatte nie mit dem Mädchen gesprochen, aber sie war ihr trotzdem in Erinnerung geblieben. Doch nun schien alles anders. Das blonde Mädchen gab ihrer besten Freundin noch einen Abschiedskuss und kam jetzt auf Christine zu. „Hey, was machst du denn hier? Gehst du jetzt auf diese Schule?“, wollte sie wissen. „Ja genau und du auf die Real nebenan!?“ „So ist es! Ich bin übrigens Diana und du Christine, nicht wahr?“ Diana lächelte ihr zu und Christine musste lachen. „Ja, die bin ich. Habe dich ja lange nicht gesehen. Wollte dich damals schon immer ansprechen, hab mich aber nie getraut.“ „Ging mir genauso. Hab dich immer beobachtet.“, bestätigte Diana. „Was ist nun, kommst du mit nach Penny?“, hakten die Klassenkammeraden nach. „Geht doch schon mal vor...ach und bringt mir ne Cola mit.“, gab Christine verwirrt zurück und sah Martina und die anderen auch schon in das Geschäft gehen.
Christine und Diana standen nebeneinander und schauten sich entgegen. Wie lange hatte Christine auf diesen Moment gewartet gehabt, damals in der Grundschule. Sie hatte sich immer gewünscht, dass sie und Diana sich mal unterhalten würden. Verlassen stand sie oft in einer unscheinbaren Ecke des Schulhofes und warf einen Blick auf die schüchterne Person, die ihr gegenüber, an einer Säule gelehnt stand. Irgendwas war besonders an diesem Mädchen, fand Christine und musste jetzt, wo sie so darüber nachdachte, schmunzeln. „Hast du auch gerade Pause?“, fragte Christine. „Ne, ich hab Schulschluss. Unsere Lehrerin ist krank, deshalb. Ist auch besser so... Ich hab dich noch ganz gut in Erinnerung, du hattest genauso wenige Freunde wie ich und standest genauso bescheuert herum.“, rief Diana Erinnerungen an jene Zeit zurück. „Ja, ich hatte es auch nicht immer leicht.“ „Ich auch nicht. Kurz vor meiner Einschulung ist meine Mutter am Krebs gestorben, ich hatte null Bock und überhaupt keinen Kopf für die Schule. Weißt du, ich hab mir immer gewünscht, mit dir in einer Klasse zu sein.“ Diana schaute etwas verlegen zur Seite. „Hey, muss dir doch nicht peinlich sein, ging mir genauso!“ Christine lachte aus vollstem Herzen, auch Diana konnte sie mit ihrem Humor anstecken. Dann fuhr Christine fort: „Wir hätten uns bestimmt super verstanden, weil wir in einer ähnlichen Lage steckten. Meine Mutter starb auch sehr früh, musste zu meinen Großeltern. Tja und hab alles kurz vor der Einschulung erfahren!“ Christine stiegen wieder die Tränen in ihre Augen. Ihr Leben erschien ihr so sinnlos, seitdem sie ihre Mutter verlassen hatte. „Ihr Tod war bestimmt auch für dich ein harter Schlag.“, versuchte Diana zu trösten. Christine schluchzte und wischte sich mit der flachen Hand einmal über die Augen. „Ihr Tod eher weniger, ich wusste ja von nichts. Sie hat mich Wochen zuvor ja kaum noch in den Arm genommen. Schlimm war, als ich dann meine Großeltern lautstark über ihren Tod diskutieren hörte. Somit lag die Wahrheit auf dem Tisch.“, gab Christine mit rauer und verletzter Stimme zu verstehen. Sie musste schlucken, sie hatte einen fetten Kloß im Hals. Sie räusperte sich. „Ich find´s komisch.“, fand Diana. „Was findest du komisch?“ Christine schaute auf. „Na, dass wir beide so offen reden, obwohl wir uns gar nicht richtig kennen. Es ist beinahe so, als währest du schon ewig lang eine Freundin.“ „Ich wäre gerne deine Freundin gewesen, das kannst du mir glauben. Hab dich nie vergessen.“ „Ich dich auch nicht. Kannst du dich noch an den letzten Schultag in der Grund erinnern? Ich war nah davor, auf dich zuzugehen, um dir zu sagen, dass ich dich mochte.“, lachte Diana. „Christine, kommst du? Es ist 11:10 Uhr! Wir müssen weiter, sonst kommen wir noch zu spät.“, hörte Christine plötzlich die Stimme von Martina hinter sich. „Ja, ich komme.“ Sie lächelte Diana zu. „Man sieht sich.“ Und verschwand. „Wo ist meine Cola?“ „Hier! Sag mal, wer war denn das? Und was hattest du so lange mit der zu bereden?“ „Ach nichts weiter. Sag schon, wie viel schulde ich dir?“ „Wie?“ „Na für die Cola!“, wiederholte Christine. „Die hab ich so günstig geschossen, lass stecken!“, lachte Martina. „Achso, verstehe.“, gab Christine mit einem Unterton in der Stimme zurück und schaute Martina entsetzt entgegen.

Christine nahm den Unterricht wie immer nur teilweise wahr. Irr schwirrten ganz viele Gedanken durch den Kopf. Am liebsten hätte sie sich irgendwo auf der Toilette verkrochen und erst mal geweint. Das war doch ein wenig viel für sie gewesen. Die Erinnerungen an ihre Mutter, dann dieses komische Kribbeln in ihrem Bauch, wenn sie Diana sah und dann war da noch die Frage was jetzt zwischen ihr und Nick passieren würde? War er nur ein guter Freund, oder lief da eventuell mehr!? Christine war unruhig und stielte aus dem Fenster. Sie brauchte jemanden zum Reden, sofort. Sie fragte sich schon die ganze Zeit wo Claudia steckte und was Andreas jetzt machte. Mit einem von beiden musste sie jetzt reden. Außerdem wollte sie wissen, wie die Arbeit gelaufen war, die Andreas für sie geschrieben hatte. Etwas unwohl war ihr schon zumute und vor allem schaute Frau Erichson immerzu zu ihr herüber. Hatte sie den Rollentausch von Christine und Andreas doch durchschaut und wollte Christine nach dem Unterricht eventuell sogar noch sprechen? Viele ungeklärte Fragen ließen Christine für den Rest der Schulstunden einfach nicht los. Ihr kleines Herz schlug ganz wild in ihrer Brust. Sie konnte es schon förmlich hören, sie saß wie gerädert an ihrem Tisch und kritzelte angespannt die Sätze von der Tafel auf ihr Heft. Man konnte keinen einzigen Buchstaben wirklich erkennen. „Währe doch nur Claudia hier.“, machte sich Christine ihre Gedanken. Sie knallte den Stift auf ihr Schulheft und rannte zur Tür hinaus in die Schultoilette. Einige Schüler lachten, kicherten vor sich hin, oder flüsterten mit ihrem Nachbarn. Die Lehrerin allerdings fand daran überhaupt nichts witziges. Sie machte sich ernste Sorgen um das Mädchen. Ihr war Christine schon lange aufgefallen, durch ihr Verhalten. Sie wollte sich umgehend mit der Klassenlehrerin in Verbindung setzen und vor allem mit Christine sprechen.
Währenddessen übergab sich Christine in der Kloschüssel, heute war ein harter Tag für sie gewesen, außerdem bekam ihr der Alkohol nicht gut, den sie am Vorabend getrunken hatte.
Verzweifelt schlich sie sich zurück auf ihren Platz. „Gut gut Kinder, machen wir für heute etwas früher Schluss.“, sprach die Lehrerin. Gejubel herrschte im Klassenraum. Nur von Christine kam nichts. Versteinert saß sie auf der Schulbank und sah auf ihr vollgekritzeltes Stück Papier. „Kinder, verlasst das Schulgebäude bitte leise, nebenan wird noch eine Arbeit geschrieben.“, ermahnte die Lehrerin. Die Schüler gingen nun der Reihe nach auf den Flur und verließen den Klassenraum. Nun stopfte auch Christine ihre Sachen in ihren Ranzen und hob ihn sich auf die Schultern. „Moment noch Christine, ich will mit dir sprechen.“ Frau Erichson hielt sie an der Schulter zurück. „Scheiße, wusst´s ich doch.“ Christine zitterte am ganzen Körper, warum durfte sie nicht wie jeder andere auch endlich nach Hause gehen!?
Die Tür fiel ins Schloss und Frau Erichson setzte sich auf ihr Pult, das Bein über das andere geschlagen. „Setz dich doch, dann fällt es dir vielleicht leichter mir zu erzählen was mit dir los ist!“, hauchte die Lehrerin freundlich. Christine setzte ihren Ranzen ab und setzte sich nun ebenfalls auf einen Tisch gegenüber, ließ die Beine baumeln und schaute immer noch auf den Boden herunter. Auf keinen Fall wollte sie, dass man ihre Tränen sah und schon gar nicht die Lehrerin, entfuhr es Christine. „Was soll denn mit mir los sein!?“ „Ich sehe es doch Christine! Aber das ist ja nicht nur heute so, dass ist schon von Anfang an. Du schweigst dich aus und ich hab das Gefühl es wird immer schlimmer. Bedrückt dich irgendwas?“ Die Lehrerin stellte ihre Beine auf den Boden, ging zu Christine herüber, setzte sich neben sie und strich ihr sorgend über die Schulter. Christine wagte es sich nicht aufzuschauen. Ihre Wangenmuskeln fingen an zu zittern und ihre Stirn zog sich in Falten. „Nein, alles bestens. Wirklich, warum fragen Sie?“, gab sie so gelassen wie möglich zurück. „Hattest du Probleme mit der Arbeit in der ersten Stunde?“, wollte Frau Erichson wissen. „Die weiß was, hundert pro.“, Christines Körper verkrampfte sich immer mehr. Ihr Magen zog sich in sich zusammen, ihr war richtig schlecht geworden. „Ne, alles easy gelaufen! Ich hab ein gutes Gefühl.“, gab sie zurück, war sich jetzt aber nicht mehr so sicher. Sie dachte an Andreas letzte Worte und hoffte, dass er mit seiner Aussage Recht behalten würde. „Das ist schön, es währe schließlich das erste Mal.“ „Wie meinen Sie das!?“, wurde Christine zickig und immer unruhiger. „Bisher hast du nicht so gute Arbeiten geschrieben, ich habe oft deine Schrift nicht entziffern können. An deiner Klaue musst du noch arbeiten Christine. Du hast doch einen Bruder!?“ „Nein, hab ich nicht.“, gab sie schnell Antwort und verstrickte sich immer mehr in Lügen. „Deine Großmutter meinte so etwas! Ich meine ja nur...vielleicht hast du auch eine gute Freundin, die dir eventuell mal helfen könnte, oder aber auch deine Oma oder Opa!?“ Christine schüttelte den Kopf und eine Träne lief ihr die Wange herunter. Sie wurde von Frau Erichson sofort entdeckt. Sanft streichelte sie Christine über ihren Rücken. „Was immer dich auch traurig macht, du kannst es mir ruhig sagen.“ Die Schulglocke ertönte und Christine hatte genug. „Mit mir ist alles in Ordnung, ich glaube eher, dass Sie Hilfe brauchen!“, schrie Christine, schnappte sich ihren Ranzen und verschwand eilig zur Tür heraus. So schnell wie sie am Morgen zur Schule erschienen war, hatte sie die Schule auch wieder verlassen.
Sie setzte einen Schritt vor den anderen, so schwer war sie noch nie voran gekommen. Ihre Gedanken waren nur noch bei Andreas. Er war der einzige, der sie bestimmt verstehen konnte. Sie brauchte seinen Halt, seine Unterstützung. Sie musste ihn suchen, am besten zuerst auf dem Fabrikgelände. Nach Hause wollte sie jetzt nun wirklich nicht.
_________________




 Re: Das Leben der Christine Walter

11. – Schweigen der Kinder

Es fing stürmisch an zu regnen, als Christine dem langen Fad umschlossen von Bäumen und Sträuchern folgte. Die Äste bogen sich und ein Knarren zog durch die Luft. Der Himmel weinte den Schmerz, den Christine innerlich spürte. Langsam führten sie ihre Schritte, klitschnass waren ihre Haare. Doch Christine quälten weiß Gott andere Sachen, als die Sorge um ihr Äußeres. Durch eine Pfütze nach der anderen marschierte sie. Verschwommen sah sie auf die Fabrik. Grau und kahl sah sie aus, der Himmel nicht anders. Dunkle Wolken zogen an ihr vorbei. Die schwere Eisentür war gerostet und quietschte unaufhörlich, als Christine diese nach innen schob. „Ach ne, sieh mal einer an wer da kommt! Nick´s neue Flamme!“, neckte Dennis seinen Kumpel und setzte an einer Bierflasche an. „Halt die Klappe!“, rief Andreas empört und half Christine aus ihrer durchnässten Jacke. „Komm setz dich Tinchen, wie war die Schule? Möchtest du was trinken?“ Sie antwortete nicht und schmiss sich sofort auf die alte Couchgarnitur zu Nico. Nick hockte vor dem Ofen und warf mehr Brennholz hinein. „Wärm dich erst mal auf!“ Christine dankte es ihm mit einem Lächeln. „Lieb von dir!“
„Hey Andy, schmeiß mal nen Bier rüber!“ „Man du Schluckspecht! Kannst wohl nie genug kriegen, wa!? Verreck doch dran!“ Andreas gab nach und warf Dennis eine neue Flasche Alk zu. „Und ich? Was ist mit mir Andreas?“, fragte nun auch Christine. „Hey Tinchen, Bier ist nur was für starke Kerle, nichts für Frauen!“ „Ich bin nen Mannsweib, schon vergessen, wa!? Also lass das Bier rüber wachsen Bruderherz!“, gab sie betont cool zurück. „Verdammte scheiße, du bist noch viel zu jung Tinchen, aber schön, hier!“ Christine fing die Flasche und zog Nico sein Feuer aus seiner Hose. „Ich darf doch mal!?“ und öffnete die Flasche mit dem Feuerzeug. Der Deckel sprang flappend vom Flaschenhals, den sie schließlich ansetzte. „Was ist los Tinchen, was führt dich hier her?“, fragte Andreas mit einer leisen Ahnung. „Können wir unter vier Augen reden!?“, entgegnete Christine und hob sich vom Sofa. „Klar, hier entlang!“ Sie gingen die Treppe herauf zu einem Raum, der damals einmal als Werkstatt gedient hatte. Es roch nach Farbe, altem Putz und gespäntes Holz. Christine ließ sich sofort auf einen der Tische nieder. „Nun sag schon, wie ist die Arbeit gelaufen? Hat dich irgendwer durchschaut? Ich hatte heute das Gefühl die Erichson weiß was!“, sprach Christine aufgeregt und funkelte Andreas mit ihren Augen lieb entgegen. „Ach quatsch, hab mich nach dem Plan, der im Klassenbuch lag, auf deinen Platz gesetzt, mit keinem gesprochen und einfach die Arbeit für dich mit deinem Namen geschrieben. Niemand hat etwas gepeilt, nur so´n Typ wollte ständig ne Unterhaltung mit mir...ähm...mit dir! Man, der hat vielleicht genervt, das sag ich dir!“ „Das war bestimmt Stefan! Der will was von mir!“, lachte Christine abfällig. „Du aber nicht von ihm, stimmt´s!? Sag mal Tinchen, ist es wahr was Dennis da erzählt, du hast Nick geküsst?“ „Ich hab ihn nicht geküsst, er hat mich geküsst, kapito!? Außerdem...da läuft nichts! Ich finde ihn ganz nett, aber nicht mehr, kapiert!?“, überspielte Christine ihre Unsicherheit. „Aber er will was von dir, noch nicht gemerkt, wie er dich immerzu anstarrt!?“ „Ach du spinnst ja Andreas! Wir sind lediglich Freunde.“ „Dein Wort in Gottes Ohr.“, zweifelte Andreas an der Glaubwürdigkeit seiner Schwester. „Sag mal, du weißt nicht zufällig wo Claudia steckt? Sie ist gestern so plötzlich verschwunden und in der Schule hat sie sich auch nicht mehr blicken lassen! Ist gestern noch irgendwas gewesen, was ich vielleicht wissen sollte?“, fragte sie ihren Bruder, der niedergeschlagen zu Boden sah. „Spuck schon aus! Was ist denn so plötzlich mit dir? Was ist mit Claudia!?“ Ängstlich blickte ihm Christine mit ihren großen Augen entgegen. „Mathias! Mathias dieser Mistkerl!“, stieß Andreas seinen Zorn aus. „Ja und? Weiter!“, forderte ihm Christine auf fortzusetzen. „Er...er...na ja, er ist ihr wohl etwas zu nahe getreten! Sie hat das Gelände fluchtartig verlassen! Ich weiß nicht einmal ob es ihr gut geht und ob sie gut zu hause angekommen ist!“ „Er hat mit ihr geschlafen, richtig!?“, wollte Christine nun genauer wissen. „Ja...richtig.“ Andreas musste schlucken und Christine stiegen die Tränen in ihre Augen. „Ich hätte es dem Typen echt nicht zugetraut! Aber warum...warum Andreas!?“ „Ich weiß es nicht. Wüsste es auch gerne, das kannste mir glauben! Wenn der mir noch ein einziges Mal über den Weg läuft, dann ist er dran!“ „Scheiße, ich ruf Claudia an, wenn ich zuhause bin. Dann sehen wir weiter.“, versuchte Christine Ruhe zu bewahren. „Ach und danke übrigens für heute morgen!“ Sie hob den Kopf, stand auf und gab Andreas einen Kuss auf seine Wange. „Gern geschehen. Sonst noch irgendwelche Probleme?“ Erwartungsvoll schaute er seiner verzweifelten Schwester in die Augen. „Frau Erichson! Ich werde das Gefühl nicht los, dass die mich auf den Kicker hat und jetzt zum Alten geht und ihm steckt wie schlecht ich in der Schule bin.“, gab sie traurig zu verstehen. „Hey, die geht schon nicht zum Alten und wenn schon, der ist sowieso kaum mehr zu hause, seitdem er in Rente gegangen ist, oder bist du ihm mal wieder begegnet? Der hockt doch nur noch mit seinen Gruftis in Rolfs Pinte und säuft bis der Arzt kommt! Vergiss es einfach Christine, die Erichson kann sowieso nichts mehr sagen, wenn die erst einmal deine eins in der Arbeit vernommen hat.“ „Was denn für ne eins? Meinst du echt...?“ Christine blieb die Spucke weg und führte langsam die Flasche wieder zurück in ihre Hand. „Klar, die Arbeit war doch total einfach, Kinderklacks! Hättest du bestimmt auch irgendwie gepackt.“, war sich Andreas sicher. „Ich!? Nee, mit Sicherheit hätte ich wieder ne sechs geschrieben!“, gab Christine die Hoffnung vollkommen auf. „Zieh dich doch nicht selbst so runter Tinchen! Ich weiß, dass du es kannst! Und ein paar Fehler, meine Güte, wer macht keine Fehler!?“, ermutigte er sie, oder versuchte es zu mindestens. „Du hast ja überhaupt keine Ahnung!“, ließ sie ihre Wut heraus. „Lassen wir das Thema einfach.“ „So geht das nicht Tinchen. Komm, wir gehen jetzt nach Hause und dann üben wir für deine nächste Arbeit. Ich tu dir nichts Gutes, wenn ich die Arbeiten für dich schreibe, kapier das endlich!“ Getroffen von seinen mächtigen Worten, denen sie sich nicht entziehen konnte, machten sich Christine und Andreas auf den Heimweg. „Was, ihr wollt schon los? Andy warte, dein Anteil wartet noch auf dich! Moment!“, sprach Dennis und kramte in seinem Portmonee. Er steckte Andreas ein paar Scheinchen zu und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Machs gut Alter und du auch Tine!“ „Bis dann.“, sagten die Geschwister einstimmig und gingen zur Tür heraus.

„Was ist das für Geld Andreas?“ „Ach das, das sind nur Schulden die Dennis bei mir hatte.“ „So viel ?“ Christine stand der Mund offen und konnte es gar nicht glauben. „Der hat sich ne Mofa gekauft, dafür brauchte er das Geld! Ich hab es ihm freundschaftlicher Weise geliehen, was dagegen!?“, log Andreas ohne rot zu werden. „Schon gut. Was machst du denn jetzt damit?“ „Sparen, was sonst!?“, entgegnete er genervt. Doch Christine löcherte ihn weiter. „Und wofür? Du willst doch nicht etwa abhauen, oder?“ „Quatsch, ich lass dich doch nicht alleine bei dem Alten!“ „Na hoffentlich!“ Ihr Gespräch zog sich noch eine Stunde hin, bis sie schließlich vor ihrer Haustür standen. Andreas zog sein Schlüsselbund hervor und öffnete die Tür. „Oma, Opa??“, wollte er auf Nummer sicher gehen. „Die Luft scheint rein zu sein, ein Glück!“, wand sich Christine an ihren Bruder. Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Als die Kinder die Küche betraten, saßen Frau und Herr Krossmann mit dem inzwischen kalten Fraß auf den Tellern am Küchentisch und zogen lange Gesichter. „Kommt Kinder, setzt euch her. Euer Großvater und ich möchten mit euch reden.“, fing Frau Krossmann mit lieblicher Stimme an zu erzählen. „Muss das unbedingt sein!?“ Andreas setzte sich gelangweilt und Christine gleich dazu. „Könnt ihr mir erklären was das soll!?“, schrie der Großvater zornig über alle Ecken des Tisches hinweg, nahm einen Teller und klatschte das Essen an die Wand. „Tag für Tag das selbe Theater. Eure Großmutter reißt sich den Arsch auf und ihr fühlt euch noch nicht mal zum Dank oder Entschuldigung verpflichtet! Für wen kochen wir denn bitteschön!? Zum Teufel damit!“ Herr Krossmann nahm gleich einen zweiten Teller und warf ihn zu Boden. Dieser zerschepperte in lauter Einzelteile. „Klaus bitte!“, versuchte seine Frau ihn zu beschwichtigen. „Du halt die Klappe, ich bin noch nicht fertig mit den beiden Bälgern!“, gab er barsch zu verstehen. Frau Krossmann ballte ihre Hände zitternd in einander. Sie befürchtete schlimmes. „Die blöde Kuh hat uns verpfiffen!“, dachte Andreas und warf einen zornigen Blick in Richtung seiner Oma. Dann fiel sein Blick auf seine zusammengezuckte Schwester, die fürchterlich zu zittern begann. „Es reicht, ich muss mir das nicht länger anhören! Komm Tinchen, wir gehen!“ „Hier geblieben mein Freund!“, ermahnte ihn der Großvater und setzte ihn grob zurück auf seinen Stuhl. „Von dir mal ganz zu schweigen, ich habe mir die Zunge zur genüge abgebissen, aber deine Schwester wirst du keine Lausen in den Kopf setzen, haben wir uns verstanden!? Unser letztes Gespräch hat dir wohl gefallen, wa? Das können wir gerne wiederholen und jetzt geh!“ Andreas hielt des alten Mann Blickes stand, dieser ruhte zornig in den Augen des anderen. „Geh!!!“, schrie der Großvater jetzt noch lauter als zuvor, hielt dem Blick seines Enkels immer noch stand. Er hatte noch größere Macht gewonnen, denn Andreas bekam es langsam mit der Angst zutun. Herr Krossmann rieb sich die Hände. „Ich zähle bis drei, dann bist du verschwunden!“ Christine fühlte sich mit angesprochen. „Fräulein, schön hier geblieben! Du kommst mir nicht so leicht davon!“, erhob der Alte seine tiefe kratzige Stimme und Christine setzte sich schluckend zurück auf ihren Platz. „Mach mit mir was du willst, aber lass Tinchen in Ruhe!“, beharrte Andreas immer noch mutig. „Junge, hör auf deinen Großvater, geh in dein Zimmer. Wir wollen nur vernünftig mit Christine reden.“ Die Großmutter erhob sich und führte Andreas sachte an der Schulter haltend nach draußen auf den Flur. „Mach dir keine Sorgen, ich bin ja auch noch da.“, gab sie im Flüsterton zu verstehen, so dass Herr Krossmann und Christine sie nicht hören konnten. „Ja du...wo warst denn du, als er mich windelweich geschlagen hat, he? Du hast gepennt und bist noch nicht mal von seinem Gebrüll aufgewacht! Weißt du was du bist!? Ne verdammte Verräterin!!! Du hast doch selber Schiss! Wie willst du denn Christine vor ihm beschützen? Du schaffst es nie und nimmer dich gegen ihn zu stellen!“ Andreas verschwand wie der Blitz auf sein Zimmer und knallte die Tür. Frau Krossmann rang mit sich ihre Tränen zu bewahren. „Was hast du mit den Kindern gemacht!? Kein Wunder, dass sich die beiden nicht mehr nach Hause trauen!“ Langsam trat die Oma zu ihrem Mann und ihrer Enkeltochter zurück in die Küche und setzte sich schweigend. „Christine, du hast dich verändert! Was ist los mein Kind?“, startete sie einen Versuch. Doch Christine hüllte sich in eisernes Schweigen. „Los, her mit den Schularbeiten!!! Ich will sehen was du für die Schule getan hast, außerhalb deiner Lausen mit Andreas!“ Christine blieb stumm. Frau Krossmann streichelte ihrem Mädchen über die Hand. „Nun zeig uns deine Schulsachen. Wir wollen dir doch nur helfen Kind!“ „Danke, aber ich glaube Christine hat mich schon verstanden!“ unterbrach Herr Krossmann seine Frau und schnappte sich jetzt selbst den Schulranzen von Christine. Christine stiegen die Tränen in die Augen, sie schluckte und kämpfte mit sich. Frau Krossmann hatte es natürlich sofort bemerkt, aber der Großvater gab noch lange keine Ruhe. „Was ist das denn!!!?? Nur Gekritzel, Donnerwetter!!! Ich glaub es ja nicht!!! Du bist...du bist zu dumm...einfach nur zu dumm für die Schule!!! Dir sollte man mal gescheite Nachhilfe geben, du...du...!“, drohte der Großvater. Christine schluchzte auf, zitterte und fing leise an zu weinen. „Was soll ich noch mit dir machen!!!?? Sag es mir, na los, sag mir was ich da noch machen soll!!! Willst du ins Internat!? Gut, ich schick dich auf ein Internat! Willst du ins Heim, oder zum Psychologen? Bitte...gerne auch dort hin, mir egal!!!“ „Ausgerechnet jetzt, wo Andreas die gute Arbeit für mich geschrieben hat! Alles für Nichts!“, dachte Christine und musste umso mehr heulen. „Der Alte will mich nicht mehr haben, ich bin also Dreck in seinen Augen! Okay, kann er haben! Ich hau ab und lass mich nie wieder hier blicken!“ Christine war verzweifelt und wusste sich keinen anderen Ausweg mehr. „Jetzt reiß der doch auch mal das Maul auf!!! Flennen gilt nicht!“, forderte er seine Frau auf, etwas gegen dieses in seinen Augen abstrakte Benehmen der Enkeltochter zu unternehmen. „Du, ich werde dir zeigen was Anstand bedeutet!“, hob er erneut seine Stimme und hob seine Hand. „Bitte nicht Klaus!!! Lass das arme Kind!!! Siehst du nicht wie sehr sie unter dein Gebrüll zu leiden hat!?“, widersetzte sich ihm seine Frau das erste mal und befreite Christine aus dieser angespannten Sitzung und ließ sie gehen.
Christine rannte so schnell sie konnte hoch in ihr Zimmer. Dort angekommen fiel sie ihrem Bruder gleich in die Arme. „Scheiße Tinchen, was hat der Alte nur mit dir angestellt!? Ich bring ihn um, das schwör ich dir!“ Christine bekam kein Wort heraus, dem ganzen Druck, den sie zu erleiden hatte, hielt sie nun nicht mehr stand und weinte sich verbittert bei Andreas aus. Dieser hielt seine kleine Schwester fest in den Armen und schwor sich, sie nie wieder alleine zulassen.
Währenddessen schlug Herr Krossmann auf seine Frau ein. „Wie konntest du nur!? Das Mädel hat ne Tracht Prügel verdient und du lässt sie einfach ungeschworen davonkommen! Und du willst meine Frau sein!? Pah, dass ich nicht lache!“ „Dann lass dich doch scheiden Klaus! Ich kann dich nicht mehr ertragen, verschwinde mir aus meinen Augen! Die Kinder haben Angst vor dir, dass habe ich endlich verstanden! Was hast du nur getan!? Du vertreibst sie noch aus diesem Haus, aber dass lasse ich nicht zu! Wir gehen freiwillig...ich und die Kinder!“ „Das könnte dir so passen!!! Du tust was ich sage, verstanden!!!?“ „Nein.“ „Oh doch, dass tust du!!!“ Herr Krossmann schlug so lange auf seine wehrlose Frau ein, bis diese gekrümmt vor Schmerzen am Boden lag und sich nicht mehr rühren konnte.
Herr Krossmann verließ das Haus. Es zog ihn förmlich in Rolfs Pinte, wo er sich erst einmal einen hinter die Binde kippte. Zuhause war alles still. Christine war unter Tränen eingeschlafen, Andreas hatte sie beruhigt. Er begann sich über die plötzlich eingetretene Stille zu wundern und betrat die Küche. Seine Oma saß weinend, den Kopf in die Hände gestützt am Esstisch. Langsam näherte er sich ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. Versöhnung war angesagt, dachte Andreas mit schlechtem Gewissen. Er hatte seine Großmutter zu unrecht angeschrieen. Andreas plagte ein schlechtes Gewissen, mit dem er nicht leben konnte.
Er musste sich seiner Großmutter anvertrauen, koste es was es wolle. Sie war die einzige, die etwas gegen Herrn Krossmann unternehmen konnte. Es stand jetzt in ihrer Macht, die Verhältnisse die zuhause herrschten, zu beenden. Nur musste Andreas ihr den Mut dazu geben...

_________________