ins Deutsche übersetzt von Marie Amelie Freiin von Godin
und mit einer Einführung von Michael Schmidt-Neke
herausgegeben mit Vorwort und Bibliographie
von Robert Elsie
iii
Vorwort
Der
Dukagjinit, stellt die bekannteste Zusammentragung des
albanischen Gewohnheitsrechtes dar. Dieses ursprünglich
ungeschriebene Rechtssystem bestimmte die wesentlichsten
Aspekte des Sozialverhaltens in den abgelegenen und sonst
gesetzlosen Gegenden Nordalbaniens. Es wird seit Jahrhunderten
in vielen Landteilen des Nordens eingehalten, auch heute noch.
Das Kernland des Kanun ist Dukagjin, d. h. das Hochland von
Lezha, Mirdita, Shala, Shoshi und Nikaj-Merturi, sowie die
Dukagjin-Ebene im heutigen westlichen Kosova. Lekë Dukagjini
(1410-1481), nach dem der Kanun genannt wird, bleibt eine
wenig bekannte, schleierhafte Person, die ein Fürst und
Weggefährte des albanischen Nationalhelden Skanderbegs (1405-
1468) gewesen sein soll. Ob er den Kanun zusammenstellte oder
ihm lediglich seinen Namen gab, ist nicht zu ermitteln.
Der Kanun wurde von den Stämmen des Nordens streng
beachtet und hatte Vorrang vor anderen Rechtssystemen, seien sie
staatlicher oder kirchlicher Art, die man im Laufe der Zeit im
Hochland zur Geltung zu bringen versuchte. Er stellte sowohl eine
Ergänzung wie öfter auch ein Konkurrenzrecht zum staatlichen
Rechtssystem dar. Mit Hilfe dieses alten Systems konnten die
Gebirgsstämme auch während der fünf Jahrhunderte, als sie
zumindest formell Teil des Osmanischen Reichs waren, ihre
Identität, ihre Autonomie und ihre Lebensart bewahren.
Der Kanun des Lekë Dukagjini wurde zuerst von dem in
Janjeva, südlich von Prishtina in Kosova, geborenen
Kanun des Lekë Dukagjini, alb. Kanuni i Lekë
Vorwort
iv
Franziskanerpater Shtjefën Gjeçovi bzw. Gjeçov (1874-1929)
systematisch erfaßt und veröffentlicht. Nach seinem Studium in
Innsbruck und Holland verbrachte Gjeçovi die wissenschaftlich
ergiebigsten Jahre seines Lebens in ländlichen Siedlungen
Nordalbaniens, u. a. in Laç am Fuß des Kurbingebirges (um
1899-1905), in Gomsiqe östlich von Shkodra bzw. Skutari (1907-
1915), in Theth im hohen Norden (1916-1917) und in Rubik in
Mirdita (um 1919-1921). Dort begann er mit Hilfe der
Stammesältesten Material über Stammesgesetze, Archäologie und
Folklore zu sammeln. Ein Teil des von ihm erfaßten Kanun wurde
erstmalig in der von Faik Bey Konitza in Brüssel
herausgegebenen Zeitschrift Albania von Nikola Aschta schon
1897-1899 veröffentlicht und danach von 1913 bis 1924 in der
skutarinischen Zeitschrift Hylli i dritës (Der Morgenstern)
herausgegeben. Die definitive Fassung des Kanun wurde in
Shkodra 1933 posthum - vier Jahre nach der Ermordung Pater
Gjeçovis durch serbische Freischärler - veröffentlicht.
Dem deutschen Fachpublikum wurde der Kanun schon im
Jahre 1901 durch drei Artikel in der Zeitschrift für Ethnologie,
Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte, bekannt: Das Gewohnheitsrecht
der Stämme Mi-Schkodrak (Oberscutariner Stämme) in den
Gebirgen nördlich von Scutari von dem Albaner Nikola Aschta;
Das Gewohnheitsrecht der Hochländer in Albanien von dem
österreichischen Diplomaten und Albanienforscher Theodor
Anton Ippen (1861-1935); und Das Recht der Stämme von
Dukadschin, von Lazar Mjeda (1869-1935), Erzbischof von
Prizren und Shkodra. 1916 erschien von dem ungarischen
Albanienforscher Ludwig von Thallóczy (1854-1916) die
Abhandlung Kanuni i Lekës, ein Beitrag zum albanischen
Gewohnheitsrecht, in dem von Thallóczy herausgegebenen
Sammelband Illyrisch-albanische Forschungen, und 1923
erschien von dem ebenfalls ungarischen Albanienforscher Franz
Vorwort
1
meint, so stimmt die Datierung nicht, da dieser bei Zym in Kosova schon
am 14. Oktober 1929 ermordet wurde.
Godin 1953, S. 7. Wenn sie unter Pater Stefan den Gjeçovi
v
Baron Nopcsa (1877-1933) der Artikel Die Herkunft des
nordalbanischen Gewohnheitsrechts, des Kanun Lek Dukadzinit,
in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft.
Schließlich wurde der Kanun von der Münchner
Publizistin und Albanienkennerin Marie Amelie Freiin von Godin
(1882-1956) in Zusammenarbeit mit ihrem langjährigen Freund
Ekrem Bey Vlora (1885-1964) ins Deutsche übertragen und in den
Jahren 1953 bis 1956 auch in der Zeitschrift für vergleichende
Rechtswissenschaft veröffentlicht. Freiin von Godin, die sonst als
Verfasserin eines großen Wörterbuch der albanischen und
deutschen Sprache (Leipzig 1930) und etlicher Abenteuerromane
mit albanischer Thematik in Erinnerung geblieben ist, reiste im
April 1930 nach Shkodra und besuchte dort einige Wochen lang
den Franziskanerorden, dessen Provinzial sie 1928 in München
empfangen und beherbergt hatte. Damals bemühten sich die
Skutariner Franziskaner auf Grundlage der Arbeit und
Aufzeichnungen des ermordeten Pater Gjeçovi um eine definitive
albanischsprachige Ausgabe des Kanun. Hierzu schreibt Godin:
"Die Patres schickten mir den Text mit der Anregung zu, ihn ins
Deutsche zu übersetzen. Ich ging sogleich darauf ein und reiste
für etliche Monate nach Shkodra, wo ich täglich mit den Patres
arbeitete und auch Pater Stefan traf. Es lag mir viel daran, das
Albanische der Veröffentlichung (Dialekt von Kossowo) unter
Wahrung seiner urwüchsigen Ausdrucksweise genau und
sinngemäß zu übersetzen, was nicht ganz leicht war."
Fox, Übersetzer der englischsprachigen Ausgabe (New York
1989), stellt die ungeheuren Schwierigkeiten der Übertragung
offener dar: "The language of the Kanun is notoriously difficult,
1 Leonard
Vorwort
2
Gjeçovi 1989, S. xx.
vi
not only in terms of its vocabulary and syntax, but because the
same words are used with a sometimes staggering variety of
meanings, as well as because of the extreme terseness of
expression."
Übersetzung des Kanun, allerdings auf der Grundlage einer
früheren albanischen Fassung von Gjeçovi. Die deutsche
Übertragung weicht daher sowohl in der Einteilung und wie auch
im Inhalt von der späteren albanischen Ausgabe des Jahres 1933
leicht ab. Wegen des Zweiten Weltkrieges erschien sie erst in den
fünfziger Jahren, kurz vor dem Tod der Verfasserin.
Die vorliegende Übertragung der Freiin von Godin stellt
auf jeden Fall eine bemerkenswerte Leistung dar, auch wenn sie
wegen ihrer Urwüchsigkeit, ihrer Holprigkeit und ihres veralteten
Charakters von dem heutigen Leser einiges an Mühe,
Aufmerksamkeit und Mitdenken abverlangt. Die gedanklichen
Zusammenhänge des Kanun sind für alle, die in der
nordalbanischen Kultur nicht aufgewachsen sind, teilweise schwer
nachvollziehbar, und die einzigen deutschen Bezeichnungen, die
dem Ausgangstext einigermaßen entsprechen, können bisweilen
irreführend sein. Die Mühe wird sich aber lohnen, denn der
Kanun des Lekë Dukagjini ist ein faszinierendes Zeugnis einer
einzigartigen Kultur.
Einige Aspekte des Kanun mögen dem heutigen
Beobachter streng, sogar barbarisch erscheinen. Als
Hauptinstrument zur Durchführung und Erhaltung des Rechts und
insbesondere der männlichen Ehre galt die Rache des
Geschädigten. Dies führte im Laufe der Zeit zu endlosen Fehden
und zur Blutrache, die am Anfang des 20. Jahrhunderts die
Stämme des Nordens erheblich dezimierte. Die Blutrache (alb.
gjakmarrje), führte in einigen Gebieten Nordalbaniens zu einem
2 Godin began 1938 mit der systematischen
Vorwort
vii
empfindlichen Männermangel, und stellt dort bis auf den heutigen
Tag ein virulentes Problem im gesellschaftlichen Leben dar.
Frauen genossen einen sehr minderwertigen Status. Der
Kanun des Lekë Dukagjini bestimmte ausdrücklich: "die Frau ist
ein Schlauch, in dem die Ware transportiert wird", (alb. "grueja
âsht shakull për me bajtë"). Frauen wurden daher aller
männlichen Rechte und Privilegien aber auch aller männlichen
Verpflichtungen enthoben.
Positiv zu würdigen hingegen sind aus heutiger Sicht noch
der Begriff der besa, des gegebenen Wortes bzw. Versprechens,
und die ausgesprochen betonte Hochschätzung des Gastes bzw.
Freundes, alb. mik.
Der Kanun des Lekë Dukagjini ist nicht die einzige
Zusammenstellung des albanischen Gewohnheitsrechtes, aber er
ist bei weitem die bekannteste. Unter den anderen in Albanien
beachteten einheimischen Rechtssystemen sind: 1.) der ihm recht
ähnliche Kanun des Hochlandes, alb. Kanuni i Maleve oder
Kanuni i Malësisë së Madhe, der vor allem von den Stämmen
der Kastrati, Hoti, Gruda, Kelmendi, Kuç, Krasniqi, Gashi und
Bytyçi, also in dem Gebiet zwischen dem Shkodrasee im Westen
und dem Hochland von Gjakova im Osten, nördlich des
Geltungsgebiets des Kanun des Lekë Dukagjini, anerkannt und
eingehalten wurde; 2.) der sogenannte Kanun des Skanderbeg,
alb. Kanuni i Skënderbeut, auch als Kanun der Arbëria, alb.
Kanuni i Arbërisë, bekannt, der in erster Linie in den Gebieten
von Dibra, Kruja, Kurbin, Benda und Martanesh, also im
ehemaligen Herrschaftgebiets der Familie Castriota, südlich des
Geltungsgebiets des Kanun des Lekë Dukagjini, eingehalten
wurde; und 3.) der südalbanische Kanun der Labëria, der in den
Gebieten von Vlora, Kurvelesh, Himara und Tepelena, vor allem
aber innerhalb der sogenannten Gegend der drei Brücken
(Drashovica, Tepelena und Kalasa) eingehalten wurde. Dieses
südalbanische Rechtsinstrument wird einer mündlichen
Vorwort
viii
Überlieferung zufolge einem Priester namens Papa Zhuli,
Gründer des in Kreis Gjirokastra befindlichen Dorfs Zhulat,
zugeschrieben, daher auch die Bezeichnung Kanun des Papa
Zhuli, alb. Kanuni i Papazhulit. In ihren zahlreichen Fußnoten
nimmt Freiin von Godin hierzu als Vergleich des öfteren Bezug.
Die jetzige Ausgabe des Kanun weicht minimal von der
1953 bis 1956 erschienenen Ausgabe ab, und zwar in einigen
wenigen Fällen, in denen die Verfasserin den Inhalt zweifellos
fehlerhaft wiedergab. In anderen Fällen, wo die Übersetzung uns
zweifelhaft erscheint aber wo der Text verschieden interpretiert
werden kann, ist die deutsche Fassung so gelassen, wie sie in der
ersten Ausgabe erschien. Der interessierte Leser möge als
Vergleich die englischsprachige Fassung von Leonard Fox
heranziehen. Die Fußnoten, die mit [Gj.] gekennzeichnet sind,
sind vom Gjeçovi, sonst sind sie alle von Godin in
Zusammenarbeit mit Ekrem Bey Vlora.
Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Neuauflage von dem
Kanun des Lekë Dukagjini zu einem besseren Verständnis für die
traditionelle Kultur Nordalbaniens und Kosovas beitragen wird.
Robert Elsie
Olzheim / Eifel
März 2001
3
der Killer heißt Kanun, in:
z. B. Krieg der Sippen, in: Der Spiegel 27.2.1995; Der KodeSüddeutsche Zeitung 16.3.1995.
4
ix
Albanische Hefte 3-4/1991, S. 7.
____________________ Next time the devil tells you "You're stupid" say "No, you're stupid - ...I'm going to heaven, you ain't getting in". ~Joyce Meyer~
Re: Der KANUN
Der Kanun der albanischen Berge:
Hintergrund der nordalbanischen
Lebensweise
Mitte der 90er Jahre hatte die Presseberichterstattung über
Albanien ein neues Modethema entdeckt: die Blutrache als
Kernstück des Gewohnheitsrechts, des Kanun
Jahren bestritten albanische Offizielle das Wiederaufleben der
Blutrache in ihrem Land und meinten, dass hier offenbar
ausländische Journalisten gewöhnliche Kriminalität mit Blutrache
verwechselten. Das ist nicht ganz falsch; es hat einzelne Versuche
gegeben, die Aktivitäten albanischer bzw. kosovarischer
Bandenkrimineller mit gewohnheitsrechtlichen Traditionen zu
erklären. Jedoch berichteten albanische Zeitungen schon 1991
über Fälle, in denen Männer auf offener Straße umgebracht
worden seien, weil ihr Vater oder Großvater vor dem Krieg
jemanden getötet hatte
3. Noch vor zwei4.
Kanun
Einführung
5
grecque
Pierre Chantraine: Dictionnaire étymologique de la langue. Bd. 2: E-K. Paris 1970, S. 493.
6
x
Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Darmstadt 1985, S.4, 39.
Die Blutrache ist ein Aspekt eines umfassenden
Rechtssystems, des Gewohnheitsrechts. Der albanische Ausdruck
dafür ist
Sumerischen (
Hebräische (
Griechische (
kanun. Dieses Wort ist möglicherweise aus demgi, Rohr) über das Akkadische (qanu, Rohr) insqane, Rohr) entlehnt worden und von da aus inskanna, Rohr) übernommen worden; dort wurde es zu
kanon
Kirchensprache als "normiertes Verzeichnis" (von heiligen,
Bibeltexten, Gesangsformen usw.) verwendet wird (so auch als
Fremdwort im Deutschen). Vom Griechischen aus wurde es ins
Türkische (
weiter gebildet5, wo es "Regel, Norm" bedeutet und in derkanun) übernommen. Dort bedeutet es "Gesetz",
kanunname
dem die osmanische Herrschaft ihren Höhepunkt erlebte, ist in der
türkischen Geschichtsschreibung als
bekannt, weil er das türkische Boden- und Verwaltungsrecht
umfassend kodifizierte. Fast 200 Jahre zuvor hatte Murat I. (1360-
89) als erster osmanischer Herrscher systematisch begonnen,
"Gesetzbuch". Sultan Süleyman I. (1520-1566), unterKanuni (der Gesetzgeber)
kanun
zu erlassen. Denn im osmanischen Rechtsverständnis war
kanun
Religionsgesetz (
basierte; Sunna ist die Gesamtheit der Äußerungen und Taten
Mohammeds, die über den Koran hinaus überliefert sind. Neben
diesem religiösen Recht gab es verschiedene
gewohnheitsrechtliche Traditionen (
Die Albaner haben das Wort
entlehnt; die primäre Bedeutung ist "Recht" bzw. "Rechtssystem".
Für das einzelne Gesetz wurden
als weltliches Recht nur Ergänzungsrecht zumÕeriat), das auf dem Koran und der Sunnaörf)6.kanun also von den Türkenligj (aus lat. lex) und nom (aus
Einführung
7
1992, S.205.
Gunnar Svane: Slavische Lehnwörter im Albanischen. Aarhus
8
III. Tirana 1987, S.277-278
Eqrem Çabej: Studime etimologjike në fushë të shqipes. Bd..
9
Pukës
z. B. Xhemal Meçi: Kanun i Lekë Dukagjinit - Varianti i. Tirana 1997.
10
Frano Ilia:
xi
Veröffentlicht von dem damaligen Erzbischof von ShkodraKanuni i Skanderbegut, Shkodra 1993.
griech.
gesetztes Recht und hergebrachte Gewohnheit waren, zeigt eine
weitere Entlehnung: das slawische
übernommen und hatte noch bei Buzuku (1555) und den
gegischen Autoren des 17. Jahrhunderts diese Bedeutung, nahm
aber zugleich im 17. Jahrhundert die Bedeutung "Gewohnheit,
Sitte" an
Gewohnheitsrecht ist
nomos) gebildet. Wie ununterscheidbar ursprünglichzakon (Gesetz) wurde7. Ein weiterer, vielleicht der ältere Begriff für dasdoke8.
Lek Dukagjini
Das Wort Kanun wird meist im Zusammenhang mit
Namen oder Gegenden gebraucht. Am bekanntesten ist der
i Lekë Dukagjinit
Dieser ist jedoch nur eine Regionalvariante neben anderen, die
allerdings weit besser als alle anderen dokumentiert und
systematisch erforscht ist. Auch der KLD existiert in Varianten
Daneben gibt es den
oder
Kanun(Recht des Lek Dukagjini, abgekürzt KLD).9.Kanun i Skënderbeut (Recht Skanderbegs)10,Kanun i Arbërisë, den Kanun i Papazhulit (Recht des
Einführung
11
E drejta zakonore shqiptare 1: Kanuni i Lekë Dukagjinit,
mbledhur dhe kodifikuar nga Shtjefën K. Gjeçovi. Tirana 1989, S. 5-6.
12
S. 45.
xii
Walter Peinsipp: Das Volk der Shkypetaren, Wien 1985,
Priesters Julius) oder
Kanun i Labërisë (Recht der Laberia), den
Kanun i Malësisë së Madhe
einige Lokalvarianten, die nicht als Kanun, sondern als Zakon
bezeichnet werden. Vereinzelt werden statt dessen auch andere
Turzismen (
Umschreibung
Die Verknüpfung des Gewohnheitsrechts mit dem Namen
eines bestimmten Gesetzgebers ist ein Widerspruch in sich und
gehört in jedem Fall in den Bereich der Legende, auch wenn der
vermeintliche Gesetzgeber eine historisch greifbare Persönlichkeit
war. Diskutabel ist nur die Theorie, dass Lek Dukagjini das
damals existierende Volksrecht sammelte, vereinheitlichte und
reformierte
Jahren fast völlig analphabetischen Gesellschaft hätte tun sollen,
bedürfte dann der Erklärung, ebenso wie die Frage, warum der
Kanun noch so viele vorchristliche Elemente enthält.
Der Herrschaftsbereich der Familie Dukagjini im 15.
Jahrhundert umfasste weite Teile des nordalbanischen Berglandes;
genaue Abgrenzungen sind ebensowenig möglich wie bei anderen
Adelsfamilien; auch genaue Lebensdaten sind nicht zu ermitteln.
Leks Vater Pal und dessen Bruder Nikollë nahmen 1444 an der
Fürstenliga von Lezha unter Skanderbegs Führung teil,
überwarfen sich aber mit ihm wegen Gebietsstreitigkeiten und
unterstützten sogar zeitweilig die Türken.
Auch nachdem Lek 1455 die Führung der Familie
übernommen hatte, wechselte er immer wieder die Fronten und
(Recht des Hohen Berglandes) sowieusull, itifatk, adet, sharte) oder die albanischerruga oder udha ("Wege" verwendet11.12; wie er dies aber in einer damals wie vor fünfzig
Einführung
13
Geschichte Südosteuropas
in:
Hasan Kaleshi: Dukagjini, in: Biographisches Lexikon zur. Bd. 1, S. 444-445; Aleks Buda: Dukagjinët,Fjalori Enciklopedik Shqiptar (FESH), Tirana 1985, S. 212.
14
xiii
Godin, 1956, S.190.
war mal mit den Türken, mal mit Skanderbeg und mal mit den
Venezianern verbündet
als geographisch-ethnographischer Begriff für Teile
Nordalbaniens zwischen der Malësia e Madhe und der Mirdita und
dem westlichen Kosovo verwendet. Möglicherweise wurde die
Bezeichnung "Recht des Dukagjin-Gebiets" irgendwann in der
Volksüberlieferung auf den bekanntesten Vertreter der Familie
Dukagjini zurück projiziert. Der KLD hatte den mit Abstand
größten Geltungsbereich aller Gewohnheitsrechte und schloss die
Mirdita mit ein.
13. Der Name Dukagjin wurde in der Folge
Koexistenz und Konfrontation
Die Versuche, den KLD direkt aus dem byzantinischen
Recht oder aus dem Gesetzbuch (
Stepan Duan von 1349 herzuleiten, haben trotz einiger
Übereinstimmungen nicht weitergeführt, weil beide
Rechtssysteme für komplexe Staatsgebilde und feudale,
hierarchisierte Gesellschaften konzipiert wurden. Auch Parallelen
zu anderen Rechtssystemen, z. B. im Kaukasus, sind nicht durch
direkte Beeinflussungen, sondern als Homologien aufgrund
ähnlicher Lebensverhältnisse zu erklären
Das Gewohnheitsrecht der Albaner war immer
Ergänzungs- und zugleich Konkurrenzrecht zum staatlichen
Recht, zu dem der Türken, dem des albanischen Staates nach
Zakonik) des serbischen Zaren14.
Einführung
15
orientalisch, europäisch.
xiv
Dardan Gashi, Ingrid Steiner: Albanien: Archaisch,Wien 1994, S. 70.
1912, zum Recht der Besatzungsverwaltungen im I. und II.
Weltkrieg und, was Kosovo angeht, zum Recht Jugoslawiens bzw.
Serbiens. Diese Tradition der Doppelstaatlichkeit zeigte sich in
Kosovo in den 90er Jahren in neuer Form, wo den Institutionen
der serbischen Staatsmacht die Parallelinstitutionen der von der
albanischen Bevölkerung legitimierten, aber sonst nicht
anerkannten Republik Kosova gegenüber standen
sich dieselbe Tradition jetzt auch gegen UNMIK und KFOR
wenden.
Mit großer Wahrscheinlichkeit reichen die Anfänge des
albanischen Gewohnheitsrechts weit über die osmanische
Herrschaft zurück; dann wären auch die Reichsbildungen der
Byzantiner, Serben u. a. mit der Parallelität verschiedener
Rechtsordnungen konfrontiert gewesen - eine Erscheinung, die
alles andere als einzigartig ist.
Solche Parallelitäten können weitgehend konfliktfrei
koexistieren, wenn die Staatsmacht einige Rahmenbedingungen
setzt wie Loyalität gegenüber dem Herrscher, Erfüllung von
Steuer- und Abgabeverpflichtungen, Kriegsdienst u. a., im übrigen
aber die Regelungen der rechtlichen
Beziehungen zwischen den Bewohnern des betreffenden Gebietes
untereinander diesen überlässt. Der Konflikt tritt dann in aller
Schärfe auf, wenn die Zentralmacht ihren Ordnungsanspruch in
allen Bereichen der Gesellschaft durchsetzen will. Im Falle
Albaniens waren die Überlebenschancen des Gewohnheitsrechts
abhängig von der Effizienz des osmanischen Verwaltungssystems.
15. Doch kann
Einführung
16
Jahrhundert bei: Peter Bartl:
Nationalen Unabhängigkeitsbewegung (1878-1912)
S. 37-86.
die detaillierte Verwaltungseinteilung im späten 19.Die albanischen Muslime zur Zeit der. Wiesbaden 1968,
17
Bd. 1, S. 143-159.
Johann Georg von Hahn: Albanesische Studien. Jena 1854,
18
Valentina Kolçe: Xhibali, in: FESH, S. 1188; Koço Nova, in:
E drejta zakonore
xv
, S. 39-40.
Zwar war ganz Albanien in dieses Verwaltungssystem integriert
doch die Durchsetzungsfähigkeit der osmanischen Verwaltung
war abhängig von der Infrastruktur. Konkret: in den Städten war
die osmanische Kontrolle umfassend, in den ländlichen Ebene
konnten sich Restbestände des alten Rechts lange halten; dies
dokumentierte 1854 der österreichisch-ungarische Konsul Johann
Georg von Hahn für die Geschlechterverbände der Riça südöstlich
von Tepelena
nur nominell war. Erst in der Reformphase (Mitte des 19.
Jahrhunderts) bemühten sich die Osmanen ohne große Erfolge um
die Angleichung der Rechtsverhältnisse durch die Einführung des
16,17, während die Herrschaft der Türken im Gebirge
Xhibal
Shkodra Vertreter der osmanischen Verwaltung und der
Malësoren-Stämme zusammenarbeiteten
(= Gebirgs)-Rechts, bei dem in einer Kommission in18.
Schriftliche Form für mündliche Tradition: Gjeçov
In der ethnographischen Literatur überAlbanien wurde
bereits im 19. Jahrhundert viel über das Gewohnheitsrecht
geschrieben. Die systematische Aufnahme der rein mündlichen
Einführung
19
xvi
Shtjefën Gjeçovi: Vepra. 4 Bde. Prishtina 1985.
Rechtsüberlieferung konnte in einer fast völlig analphabetischen
Gesellschaft nur von Leuten geleistet werden, die sich dauerhaft
im Milieu aufhielten, mit der Mentalität der Menschen vertraut
waren und die Sprache perfekt beherrschten. Gerade
Rechtssatzungen werden nicht nur im Dialekt, sondern darüber
hinaus in einer altertümlichen, verknappten und verklausulierten
Sprache überliefert, die ohne Kommentierung oft nicht
verständlich ist. Diese Aufgabe konnte im Gebiet der
nordalbanischen Stämme daher nur von Priestern geleistet werden.
Der am 12.7.1874 in Janjevo (Kosovo) geborene Shtjefën
Konstantin Gjeçov war Franziskaner und arbeitete als
Gemeindepriester in verschiedenen Gemeinden Nordalbaniens und
in Kosovo. Er begann bereits 1913 mit der Veröffentlichung der
von ihm gesammelten Rechtssatzungen in der Zeitschrift der
albanischen Franziskaner
seiner Ermordung durch serbische Nationalisten am 14.10.1929
gaben andere Franziskaner das von ihm hinterlassene Material
systematisiert unter seinem Namen mit dem Titel "Kanuni i Lekë
Dukagjinit" (KLD) 1933 in Shkodra heraus.
Gjeçov hat das nordalbanische Gewohnheitsrecht in einer
sehr späten Phase aufgezeichnet. An einigen Stellen (z. B. §§ 898-
900) verweist der Text selbst auf einen älteren Stand. Noch
deutlicher wird die Schichtung" der Rechtsentwicklung
verschiedener Epochen durch die starken vorchristlichen
Elemente, die mit christlichen kombiniert werden.
Gjeçovs Werke wurden 1985 in Prishtina neu heraus
gegeben
New York ein Faksimile mit englischer Parallelübersetzung von
Hylli i Dritës (Stern des Lichts). Nach19, der KLD als verkleinertes Faksimile. 1989 erschien in
Einführung
20
Kanuni i Lekë Dukagjinit - The Code of Lekë Dukagjini.
Hrsg. Shtjefën Gjecov; Übers. Leonard Fox. New York 1989.
21
consuetudinario delle montagne dAlbania.
Stefano Gjeçov: Codice de Lek Dukagjini, ossia direttoRom 1941.
22
Gewohnheitsrecht, in:
Marie Amelie Freiin von Godin: Das albanischeZeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft,
56 (1953), S. 1-46; 57 (1954), S. 5-73; 58 (1956), S. 121-198.
23
E drejta zakonore shqiptare 1: Kanuni i Leke Dukagjinit,
mbledhur dhe kodifikuar nga Shtjefën K. Gjeçovi. Tirana 1989.
xvii
Leonard Fox
Akademie eine Übersetzung heraus
Marie Amelie von Godin veröffentlichte die in diesem Buch neu
herausgegebene deutsche Übersetzung als Aufsatzfolge, unter
Mithilfe von Eqrem Bej Vlora ergänzt durch Kommentare und
Vergleiche mit dem
arrangierte Textversion auf der Basis von Gjeçovs Edition mit
ergänzendem Material wurde von der Akademie der
Wissenschaften Albaniens herausgegeben
Die teils von Gjeçov, teils von seinen Erben geleistete
Systematisierung teilt den KLD in 1263 Paragraphen ein. Unter
den zwölf Büchern regelt Buch 1 die Stellung der Kirche in zivilund
strafrechtlicher Beziehung; die Bücher 2-9 decken das
Zivilrecht im weitesten Sinn incl. des Familienrechts ab, Buch 10
das Strafrecht, Buch 11 das Öffentliche Recht; Buch 12 legt
rechtliche Privilegien und Diskriminierungen sowie die Bräuche
bei Todesfällen fest. Doch wir werden sehen, dass im Kanun die
Abgrenzung der drei traditionellen Rechtsgebiete häufig
unmöglich ist.
20. Bereits 1941 gab die Königlich-Italienische21. Die deutsche AlbanologinKanun i Papazhulit22. Eine kritische, neu23.
Einführung
24
fremden Einfluss, den Gjeçov nicht der Volkssprache entnommen hat;
Koço Nova hält die Verwendung des Wortes familje für einen
E drejta zakonore,
S. 53.
25
252/53, 258.
xviii
Karl Kaser: Hirten, Kämpfer, Stammeshelden, Wien 1992, S.
____________________ Next time the devil tells you "You're stupid" say "No, you're stupid - ...I'm going to heaven, you ain't getting in". ~Joyce Meyer~
Re: Der KANUN - Die Hausgemeinschaft
Die Hausgemeinschaft
Die soziale Elementareinheit der nordalbanischen
Gesellschaft ist die Familie (
Hausgemeinschaft (
dauerhaft unter einem Dach leben (§ 18); Vier-Generationen-
Haushalte mit mehr als 50 Angehörigen waren nicht selten.
Es gibt mehrere übergeordnete Kategorien:
a) "der Stammbaum des Blutes" (
patrilineare Blutsverwandtschaft: Brüderschaft (
Stamm (
b) "der Stammbaum der Milch" (
matrilineare Verwandtschaft (
c) die territorialen Einheiten: Dorf (
familje) im Sinne dershpi)24; sie umfasst also alle Menschen, dielisi i gjakut), also dievllazni),fis);lisi i tamblit), also diegjini), und;katund), Banner (flamur
oder
Blutsverwandtschaft, d.h. die Annahme gemeinsamer
Vorfahren, egal in welcher Generation, verbieten in der streng
exogamen Gesellschaft Heiraten (§§ 695-697). Aus praktischen
Gründen musste hier zwischen Theorie und Praxis eine Lücke
klaffen; besonders die Nichtberücksichtigung der matrilinearen
Verwandtschaft schuf hier Freiräume, die faktisch zur
Stammesendogamie führten
weiter kompliziert durch eine Reihe von Personenverhältnissen,
die der Blutsverwandtschaft gleichgestellt sind: die
bajrak) (§§ 19, 698-703).25. Das Exogamiegebot wird noch
Einführung
26
Customs of the Balkans.
xix
Mary Edith Durham: Same Tribal Origins, Laws andLondon 1928, S. 304-305.
Blutsbrüderschaft (
shëngjoni
(
und die Patenschaft des ersten Haarschnitts (
Letzteres ist eine genau geregelte Zeremonie, die an ein- bis
zweijährigen Kindern vorgenommen wird, im Notfall auch nach
ihrem Tode (§§ 714-734).
An diesem Punkt zeigt sich besonders deutlich, dass in
den Kanun christliche wie vorchristliche Elemente eingeflossen
sind; das Haupthaar als Sitz der Lebenskraft und der physischen
Stärke (vgl. Samson-Mythos) ist ein eindeutig magisches, nicht
christliches Element. Die Kirche musste sich mit diesem und
anderen Bräuchen arrangieren. Die katholische Kirche brachte es
immerhin um die Jahrhundertwende soweit, dass das
Heiratsverbot keine Beachtung mehr fand. Noch 1908 beschäftigte
ein Protest gegen eine Eheschließung unter "Verwandten aufgrund
Haarschnittspatenschaft" mehrere zivile und kirchliche Stellen.
Die orthodoxe Kirche integrierte hingegen derartige Bräuche,
indem das Haare Schneiden durch den Paten Bestandteil der
Taufzeremonie wurde
An der Spitze des Haushaltes steht der Hausherr (
shpis
doch sind die (männlichen) Haushaltsmitglieder berechtigt, einen
Hausherrn zu wählen, wenn der Älteste ungeeignet, also aus
Alters- oder Gesundheitsgründen nicht voll geschäftsfähig ist. Ihm
obliegt die gesamte wirtschaftliche Verantwortung für den
Haushalt, seine Vertretung nach außen und die Disziplinargewalt.
wobei die Strafen von Entzug einer Mahlzeit bis zur Verstoßung
aus dem Haushalt reichen (§§ 20-21). Jeder Vater, auch wenn er
vllaznim) und die Patenschaft (kumbari;), von der es drei Formen gibt: die Taufpatenschaftkumbari e pagzimit), die Trauzeugenschaft (kumbari e kunores)kumbari e flokvet).26.i zot i), in der Regel der älteste Mann im Haus oder dessen Bruder;
Einführung
27
1954, S. 27.
xx
Margaret Hasluck: The Unwritten Law in Albania, Cambridge
nicht Hausherr ist, hat über seine Kinder unbeschränkte
Verfügungsgewalt; er darf sie sogar töten, ohne Blutrache oder
Strafe zu riskieren, weil die Vernichtung des eigenen Blutes dem
Selbstmord gleichgestellt ist (§ 59).
Die Hausfrau (
Sie muss nicht seine Ehefrau sein, im Gegenteil, im Regelfall hat
die Mutter des Hausherrn diese Funktion inne, die in erster Linie
die Verantwortung für die Nahrungsmittel und die Aufsicht über
die im Haushalt lebenden Frauen beinhaltet; sie ist von harten
körperlichen Arbeiten befreit, für die sie die anderen Frauen
einteilt (§§ 22-23). Die übrigen Familienmitglieder haben das
Verfügungsrecht über ihre eigenen Waffen und müssen vom
Hausherrn in ihrem speziellen Arbeitsbereich konsultiert werden,
sind aber im übrigen seinen Weisungen unterworfen; sie können
den Hausherrn bei schwerer Misswirtschaft, die Hausfrau im Falle
des (auch leichten) Diebstahls oder der Bevorzugung ihrer eigenen
Kinder absetzen (§§ 24-25). Wenn ein verheiratetes Paar ein
eigenes Schlafzimmer hat, darf es von keinem anderen ohne sein
Einverständnis betreten werden
e zojë e shpis) wird vom Hausherrn ernannt27.
Verwaltungsrecht
Der Haushalt hat das Recht und die Pflicht, an der
Dorfversammlung (
Anwesenheitspflicht); er ist berechtigt, das Gemeindeland mit zu
nutzen, an der Verteilung von Sach- und Geldstrafen (
beteiligt zu werden und den Schutz des Dorfes in Anspruch zu
kuvend) teilzunehmen (der Hausherr hatgjobë)
Einführung
xxi
nehmen; er muss sich an Arbeiten zugunsten dörflicher
Einrichtungen beteiligen. Im Rahmen des Banners (
Haushalt die Pflicht, an dessen Versammlungen mit einem
Vertreter (i.d.R. dem Hausherrn) und an dessen Kriegen
teilzunehmen (§§ 26-27).
An der Versammlung des Stammes (
Kirchplätzen abgehalten werden, können prinzipiell alle Männer
bewaffnet, aber unter absoluter Friedenspflicht teilnehmen (§§
1106-1125). Die "Gesetzgebung" und Rechtsprechung liegt bei
den Ältesten (
(
gegen Urteile der Ältesten ist zulässig (§§ 1034-1043); das Volk
kann in der Versammlung Urteile zur Neuentscheidung
zurückweisen (§§ 1176-1178). Die Würde des Stammeshäuptlings
(
politischen und Rechtsfragen gemeinsam mit den Ältesten und
eventuell dem Volk (§§ 1146-1160). Im Rechtsverfahren gibt es
eine Reihe von Funktionsträgern: den Eideshelfer (
1044-1078), den geheimen Ankläger (
die Ermittler (
Geldstrafen (
Beweismittel ist der Reinigungseid des Beschuldigten unter
Hinzuziehung der Eideshelfer, der sowohl seine Unschuld als auch
seine Unkenntnis des wahren Täters beeiden muss; der Kläger
schwört nicht (§§ 538-542). Es gibt verschiedene Formen des
Eides, die alle mit religiösen Formeln (Anrufung Gottes als
Bürgen für die Wahrheit) und der Beschwörung zeitlicher und
ewiger Strafen im Falle des Meineides verbunden sind (§ 532); bei
jedem Eid muss ein geheiligter Gegenstand berührt werden.
Hier konkurrieren wieder christliche mit vorchristlichen
Symbolen: Neben dem Eid auf das Kreuz oder das Evangelium
stehen der Eid auf die Häupter der eigenen Söhne und der Eid
beim Stein (
flamur) hat derfis), die aufpleq) der Banner und Dörfer und den "Überältesten"sterpleq) als Vertretern des Volkes (§§ 991-1043). Eine Berufungkre) ist erblich. Er ist an den Kanun gebunden und entscheidet inporotë) (§§kapucar) (§§ 1079-1093),pritetarë) (§§ 1094-1105), den Eintreiber der Sachundgjob(t)ar) ( §§ 1171-1175). Wichtigstesbe mbë gur). Darunter ist ein Stein mit drei Löchern
Einführung
28
Hasluck, S. 181-82.
29
Balkankunde.
Peter Bartl: Die Mirditen. in: Münchner Zeitschrift für1 (1978), S. 27-69.
30
xxii
Nova, in: E drejta zakonore, S. 29.
zu verstehen, der die Waage für das Kerzenwachs der Kirche trägt
(§§ 533-537); mit Sicherheit ist dies die christianisierte, nur bei
den Katholiken vorkommende
chthonischer (= Erd-) Gottheiten. Die Eide werden auch zur
Beteuerung einer Abmachung, eines Bündnisses usw. geleistet.
Der Bote (
Dörfern oder Bannern hin- und her trägt, genießt Immunität
bezüglich der Botschaften und umfassenden Schutz (§§ 1200-
1212), ebenso der Herold des Stammes (
Häuptlings überbringt und zu Versammlungen und Kriegszügen
aufruft (§§ 1213-1220).
Anders als die Montenegriner, deren Gesellschaftssystem
ähnlich wie das der Nordalbaner strukturiert war, gelangten die
Malësoren nie zur Bildung einer Zentralgewalt.
Das Oberhaupt der Gjonmarkaj war seit dem 18.
Jahrhundert erblicher Hauptmann (kapedan) der katholischen
Mirdita, die noch im 17. Jahrhundert als Teil des Dukagjin
gegolten hatte. Ihre Stellung war auch von der Hohen Pforte
anerkannt, die mehreren Kapedanen den Pasha-Titel verlieh
Die Stellung der Gjonmarkaj ist in einem eigenen Kapitel
des 11. Buches (§§ 1126-1145) sowie an zahlreichen anderen
Stellen geregelt. Wenn auch die politische Führungsrolle der
Familie nicht über die Mirdita hinaus reichte, war ihre Stellung als
höchste Autorität in Fragen des Kanun auch in weiten Teilen der
Malësia anerkannt
28 Variante einer Beschwörunglajmtar), der Botschaften zwischen Haushalten,kasnec), der Aufträge des29.30.
Einführung
31
Godin 1956, S. 155.
32
xxiii
Bartl, Muslime, S. 46-47.
Das Haus Gjonmarkaj wird als "Grundstein des Kanun"
bezeichnet (§ 1126). Seine Vertreter nehmen in Krieg und Frieden
den Vorsitz und die Führung ein. Einzelne Mitglieder der Familie
können zwar bestraft werden. Doch die Familie als ganze darf als
einzige nicht kollektiv durch Bann oder Vertreibung bestraft
werden; sie hat aber das Recht, Verurteilungen zu schwersten
Strafen zu verhängen und Stammesführer abzusetzen und durch
andere Mitglieder desselben Stammes zu ersetzen. Sie ist die letzte
Instanz in allen Streitfragen. Ihr stehen Anteile an jeder Sach- und
Geldstrafe zu. In der Mirdita hat die Familie des Täters jede
Tötung bei den Gjonmarkaj zu melden und 500 Grosh zu zahlen;
das entspricht einem Baugrundstück, 140 kg Honig, Wachs, Käse
oder Wolle, 10 Schafen oder Ziegen oder einem Gewehr
(Richtpreise nach § 484). Als Eideshelfer gilt der Eid eines
Gjonmarkaj zwölffach.
Diese Privilegien sind wegen des relativ späten Aufstiegs
der Familie eines der jüngsten Elemente im KLD. Die
Anerkennung der Gjonmarkaj als erbliche Kapedane durch die
Osmanen macht sie zu Stellvertretern des Sultans; als solche sind
sie ebenso wie die Feudalhäuser des Südens rechtlich immun
Eine ähnlich privilegierte Stelle nimmt der katholische
Priester ein. Obwohl das engere Dukagjin-Gebiet (anders als die
Mirdita) gemischt religiös war
Islam und dessen Geistlichkeit.
Offenbar hat Gjeçov hier einschlägige Bestimmungen
weggelassen; überdies hat er sein Material hauptsächlich in
weitgehend katholischen Gebieten gesammelt. In der Praxis ist die
Position des Hoxhas ähnlich wie die des Priesters, doch genießt
31.32, ist an keiner Stelle die Rede vom
Einführung
33
Kosovë.
xxiv
Ragip Halili: Sanksionet penale sipas të drejtës zakonore nëPrishtina 1985, S. 78-85.
der Priester eine Sonderstellung, weil er niemals Söhne und meist
auch keine Familie hat. Die Kirche besitzt Eigentumsrechte, ist
von Steuern ausgenommen, darf aber selbst den Zehnten erheben
sowie Diener und Arbeiter beschäftigen. Sie unterliegt nur der
Jurisdiktion des Bischofs, nicht dem Kanun. Sie hat auch selbst
keine Strafgewalt; ihr angetanes Unrecht wird von der Gemeinde
bestraft. Wird der Priester getötet, so übernimmt nicht nur seine
Familie (sofern er überhaupt eine hat), sondern die Gemeinde und
das Banner die Rache. Falls er selbst jemanden tötet, darf sich die
Rache nicht gegen ihn, wohl aber seine Familie richten. Er wird
üblicherweise nicht vereidigt; falls doch, zählt sein Eid 24fach.
Nur in extremen Fällen kann der Priester nach dem Kanun bestraft
werden (§§ 1-12).
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Re: Der KANUN - Öffentliches Strafrecht
Öffentliches Strafrecht
Die Strafjustiz des Kanun ist eine Mischung aus
öffentlicher und Selbstjustiz. Der Katalog der öffentlichen Strafen
beinhaltet verschiedene Stufen der Einschränkung der
Lebensgrundlagen des Schuldigen und seiner Familie; er reichte
von Geld- und Sachstrafen über die Verwüstung von Ackerland,
das Niederbrennen des Wohnhauses und die Vertreibung der
Familie aus dem Banner bis zur Todesstrafe (§ 16). Haft- und
Körperstrafen kommen nicht vor, da sie mit der Ehre erwachsener
Männer unvereinbar wären
das Dorf bzw. das Banner, meist durch Erschießen, vollstreckt. In
33. Die Todesstrafe wird kollektiv durch
Einführung
xxv
diesem Falle bleibt der Tod ungerächt; "das Blut geht verloren"
(
Einzelnen und keine Familie zurück. Sie steht auf besonders
schwere Delikte wie Tötung eines Priesters, des eigenen Vaters,
eines Gastes, eines Feindes, der unter dem Schutz des Ehrenwortes
steht, eines Verwandten aus Erbschaftsgründen, eines Boten aus
dem eigenen Dorf oder infolge einer ungerechtfertigten
Verschiebung von Grundstücksgrenzen, Schusswaffengebrauch in
einer Versammlung (§§ 17, 62, 251, 1125, 1194).
shkon gjakhupës). Die kollektive Tötung fällt auf keinen
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Re: Der KANUN - Die Ehre
Die Ehre
Die Ahndung der Mehrzahl der Straftatbestände sind dem
Geschädigten bzw. dessen Haushalt überlassen, doch auch sie
unterliegen einer genauen Regelung. Dies betrifft vor allem die
Komplexe Vermögensschäden, Ehrverletzungen und Verbrechen
gegen Leib und Leben. Träger der Ehre (
Mann sein; die Ehre jedes Mannes ist grundsätzlich gleich,
unabhängig von seiner sozialen Stellung: "Gott gab uns zwei
Fingerbreit Ehre mitten auf die Stirn" (
ballit na i njiti Zoti i Madh
können nicht durch Sachleistungen abgegolten werden, sondern
nur durch Vermittlung vergeben oder mit Blut abgewaschen
werden, denn ein entehrter Mann wird für tot gehalten (§§ 597-
599). Eine Entehrung ist es, jemanden öffentlich der Lüge zu
zeihen, jemanden anzuspucken, zu bedrohen, zu stoßen oder zu
schlagen, einem anderen das ihm gegebene Wort zu brechen,
jemandes Frau Gewalt anzutun oder zu entführen, jemandem die
Waffe wegzunehmen, jemandes Gast zu beleidigen, bei jemandem
einzubrechen, Schulden oder Verpflichtungen nicht einzuhalten,
bei jemand anderem den Deckel vom Topf auf dem Herd
abzunehmen, die Vortrittsrechte des Gastes beim Eintunken des
nderë) kann nur einDy gisht nderë në lule të) (§§ 593-596). Ehrverletzungen
Einführung
xxvi
ersten Bissens zu mißachten (§ 601). Die Ehre der Frau ist
Bestandteil der Ehre des Mannes. Wird sie entehrt (
nicht erst durch eine vollzogene Vergewaltigung geschieht -, ist
dies die denkbar schwerste Verletzung der Ehre des Mannes. In
diesem Fall gilt nicht einmal pro forma das ohnehin durch die
Anforderungen des Ehrbegriffs ausgehöhlte Prinzip: "Eine Schuld
soll nicht mit Blut vergolten werden" (
Diese Wertigkeit ist in zwei Zusammenhängen von Bedeutung:
Erstens erklärt sie, warum in Nordalbanien das Ansehen der
deutschen Besatzungssoldaten wesentlich höher war als 2das der
Italiener, weil nämlich Geiselerschießungen immerhin keine
Ehrverletzung darstellten, im Unterschied zu den angeblich
muss man wegen ähnlicher traditioneller Wertemuster hier auch
eines der Motive für die Massenvergewaltigungen in den Kriegen
im früheren Jugoslawien suchen.
dhunue) - wasgjaku per faj sjet) (§ 921).
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Re: Der KANUN - Der Gast
Der Gast
Die Ehre hängt in vielen Fällen mit einem anderen
Kernstück des Kanun zusammen, dem Gast (
Albaners gehört Gott und dem Gast" (
Zotit e e mikut
mit "Freund" übersetzt werden, weil seine Grundlage nicht eine
dauerhafte Beziehung zwischen zwei Menschen ist. Das
Verhältnis zwischen Hausherr und Gast ist ein zeitlich begrenztes,
und es ist nicht das Verhältnis zwischen zwei Individuen, sondern
zwischen allen Teilen der Gesellschaft, von dem auch Fremde
profitieren können. Die Gastfreundschaft ist nicht Ergebnis einer
besonders hoch entwickelten Ethik, sondern zunächst eine
Überlebensnotwendigkeit für jeden, der in einem Gebiet reist, das
kaum öffentliche Beherbergungsmöglichkeiten kennt. Dies wird
mik) "Das Haus desShpija e shqyptarit asht e, § 602). mik (aus lat. amicus) kann im Kanun nicht
Einführung
34
zerrissene April.
Yamamoto:
Analysis of the Ethics.
xxvii
Zum Konzept des göttlichen Gastes: Ismail Kadare: DerSalzburg, Wien 1989, bes. S. 74-75, 84; KazuhikoThe Tribal Customary Code in High Albania: A StructuralVortragsms. 1994.
seit Jahrtausenden überhöht bis zu dem Punkt, im ankommenden
Gast einen (potentiellen) Gott zu sehen, der Verstöße schrecklich
bestrafen kann: Thor kehrt bei einem Bauern ein, schlachtet einen
seiner Widder und verbietet, dessen Knochen zu spalten; der Sohn
des Bauern tut es dennoch, was Thor bei der Wiederbelebung
seines Tieres merkt und den Sohn als Diener mitnimmt. Tantalos
setzt den Göttern seinen Sohn Pelops vor; sie merken den Frevel
und stürzen Tantalos in die Unterwelt. Gott, Jesus oder St. Petrus
wandern durch die Welt und werden in reichen Häusern
abgewiesen, in armen aufgenommen; Strafe und Belohnung folgen
auf dem Fuße
Der Gast wird mit dem größtmöglichen Aufwand
verpflegt, beherbergt, geehrt und geschützt; letzteres wird durch
die Übergabe der Waffe an den Hausherrn symbolisiert
(§§ 602-618). Der Schutz schließt die Verteidigung des Gastes
gegen jeden Angriff und jede Ehrverletzung im Haus und auf der
Weiterreise ein, bei der ein Haushaltsmitglied ihn begleiten muss;
der Hausherr übernimmt zugleich die Verantwortung für
Verfehlungen des Gastes. Die Gastfreundschaft muss auch einem
Feind gewährt werden. Sie endet in dem Moment, wo der Gast
und sein Begleiter sich trennen; wenn der Begleiter sich
abgewendet hat, braucht er nicht mehr für den bisherigen
34.mik
einzutreten oder seinen Tod zu rächen (§§ 620-639). Beim Essen
sind genaue Reihenfolgen und Verhaltensweisen zu beachten ( §§
653-666), auch durch den Gast, der den Teller nicht auskratzen
oder mit Brot auswischen und auch den Herdstein nicht berühren
Einführung
35
xxviii
Kadare, S.84.
darf
Letzteres wird wohl als symbolisches Umstürzen des Hauses
verstanden.
Wer sich in der Kirche (außer wenn er ausdrücklich ans
Kirchenasyl appelliert, § 4), der Schmiede, der Mühle oder der
Herberge aufhält, gilt nicht als Gast; d.h. die Inhaber dieser
gemeinnützigen Einrichtungen haften nicht für Schäden, die er
erleidet oder anderen zufügt (§ 315).
35; eine solche Beleidigung würde das Gastrecht aufheben.
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Re: Der KANUN - Ehe und Frauen
Ehe und Frauen
Außer der Ehe ist keine Form der Beziehung zwischen
Mann und Frau zulässig (§ 29). Ein junger Mann darf sich nur
dann mit seiner künftigen Ehe befassen, wenn sein Vater tot ist,
eine junge Frau niemals (§§ 30-31). Eine Frau erbt nicht und
besitzt nichts (§ 44). Während der junge Mann eine Verlobung
aufkündigen kann, können die Eltern ihre Tochter zur Heirat
zwingen und den Mann durch die mitgegebene Patrone
ermächtigen, sie straffrei zu töten, falls sie fliehen sollte; wenn die
Eltern die ablehnende Haltung der Tochter billigen, darf sie ohne
Erlaubnis ihres bisherigen Verlobten keinen anderen heiraten,
solange dieser lebt, auch wenn er selbst heiratet (§§ 42-43). Unter
Hinzuziehung von 12 Eideshelfern kann ein Mädchen ewige
Jungfräulichkeit schwören und dann Nonne oder Dienerin eines
Priesters werden, oder es kann sich als Mann kleiden und wie ein
Mann leben, allerdings ohne Stimmrecht in der Versammlung (§
1228). Diese Sonderrolle der
verbreitet und in jedem Fall selten. Offenbar war diese Rolle nicht
so sehr als letzter Ausweg vor einer ungewollten Ehe gedacht,
sondern als Rettungsanker für eine Familie ohne Söhne; so konnte
virgjën ist offenbar nur regional
Einführung
36
Durham, S. 194, 211; Kaser, S. 286-87; Antonia Young:
Women who become men. Albanian Sworn Virgins.
2000.
Oxford, New York
37
xxix
Kaser, S. 287.
die Vererbung des Besitzes innerhalb der Familie gesichert
werden
Die Frau bleibt entsprechend dem Prinzip der
Blutsverwandtschaft Mitglied der elterlichen Familie, die die
Blutrache auf sich nimmt, wenn die Frau jemanden tötet, und die
zur Blutrache verpflichtet ist, wenn jemand, z. B. ihr Ehemann,
die Frau tötet (§ 57). Der Ehemann darf sie beliebig arbeiten
lassen, sie - in gewissen Grenzen - schlagen und sie verlassen.
Wenn sie Ehebruch begeht oder die Gastfreundschaft verletzt, darf
er sie straflos töten; für diese Fälle legen die Eltern der Aussteuer
die erwähnte Gewehrpatrone bei (§ 57). Uneheliche Kinder waren
nicht nur vom Erbrecht und von der Teilnahme an der
Gemeinschaft ausgeschlossen; ihre Geburt wurde durch die
Hinrichtung der Eltern bzw. die Tötung des Mädchens durch die
eigene Familie meist verhindert; gelang dem Mädchen die Flucht,
waren sie und ihr Kind für immer verbannt (§ 929-931)
36.37.
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Re: Der KANUN - Die Rache
Die Rache
Die Blutrache (
Todesstrafe, die von der Gemeinschaft wegen Delikten, die die
Gemeinschaft als solche bedrohen, von der Familie (der
patrilinearen Verwandtschaft) des Geschädigten innerhalb der
Regeln des Kanun vollstreckt. Sie betrifft nur Männer; auf Frauen
und Kinder darf ebensowenig wie auf Vieh und Häuser
gjak, gjakmarrje) wird, anders als die
Einführung
38
xxx
Hasluck, S. 229.
geschossen werden (§§ 835-836). Der Ausführende eines
Anschlags, ebenso der Anstifter, meist auch die Mittäter fallen
unter die Blutrache (§§ 822-842). Bei Tötungen wird zwischen
Mord und unbeabsichtigter (fahrlässiger) Tötung unterschieden;
letztere ist straflos (§§ 932-938).
Der Mörder (
informieren, damit kein falscher Verdacht aufkommt, und für den
Transport des Toten zu dessen Familie sorgen. Auf keinen Fall
darf er dessen Waffe stehlen; wenn er sie zum Beweis seiner Tat
mitnimmt, muss er sie der Familie des Opfers schicken
durch Vermittler zunächst einen 24stündigen Waffenstillstand
(
die Familie kann noch einen weiteren 30tägigen Waffenstillstand
gewähren, muss es aber nicht. Gelingt es der Familie des Opfers,
den Mörder, ohne dass eine
Stunden zu töten, gilt dies als vollzogene Blutrache, danach
eröffnet die Tötung des Mörders eine neue Blutrache (§§ 843-
873). Außerdem muss an das Banner eine hohe Geldstrafe von
3000 Grosh, 100 Schafen und einem halben oder ganzen Ochsen
gezahlt werden, für Verwundungen die Hälfte (§§ 892-895), in der
Mirdita zusätzlich noch 500 Grosh an die Gjonmarkaj. In der
ursprünglichen Form des Kanun richtete sich die Rache nur gegen
den tatsächlichen Mörder, später gegen jeden männlichen
Verwandten (§§ 898-900). Auch die Tötung in Selbstverteidigung,
zur Abwehr eines Raubes, einer Brandstiftung oder wegen einer
Beleidigung zieht Blutrache nach sich, obwohl die Ehre es häufig
verlangt, zur Waffe zu greifen (§§ 909-915). Die eigene Frau und
ihren Liebhaber darf man nur in flagranti mit einem einzigen
Schuss töten, ohne Blutrache auf sich zu ziehen; sonst ist der
dorëras) muss die Familie des Opfers38. Er mussbesë) erwirken und an der Beerdigung seines Opfers teilnehmen;besë gewährt wurde, binnen 24
Einführung
xxxi
Stamm, das Dorf oder das Banner verpflichtet, die Ehebrecher
hinzurichten (§§ 920-931).
Selbst Tötungen innerhalb der Familie sind genau
geregelt: Selbstmord und Tötung des Sohnes durch den Vater sind
straffrei, für Brudermord ist nur die Geldstrafe zu zahlen, weil
keine andere Familie da ist, bei der man das Blut nehmen könnte;
auf Vatermord steht die Todesstrafe, weil er die maximale
Verletzung des patriarchalen Systems darstellt; Tötung des
Ehepartners oder der Mutter löst Blutrache mit der Familie der
Ermordeten aus (§§ 958-964).
Versöhnungen können durch Vermittler (
Bürgen (
meist im Kriegsfall) zustandekommen (§§ 965-990). Die
langwierigen Vermittlungsverfahren, die durch die Familie des
zuletzt Ermordeten beliebig abgebrochen werden können, enden
im Erfolgsfall mit einer Blutsbrüderschaft, die auch Heiraten im
Wege stehen (§§ 988-990). Es gibt Spezialisten für das
Gewohnheitsrecht in Kosovo und in Nordalbanien, die sich seit
Jahrzehnten hauptsächlich mit der Aussöhnung verfeindeter
Familien befassen.
Es bleibt die Frage, warum es die Blutrache nicht beim
Talionsprinzip belässt und die ursprüngliche Tötung nicht mit
einer weiteren Tötung tilgt und so die Affäre beendet, sondern zu
einem "Pingpongspiel" ausartet, das sich über viele Generationen
hinzieht. Der ungarische Geograph und Ethnograph Baron Nopcsa
untersuchte Gemeindestatistiken der Jahrhundertwende und führte
23-42% aller Todesfälle bei Männern auf Mord zurück. Der Grund
dürfte darin liegen, dass die Blutrache mehr ist als bloße
Rechtspflege - denn wenn die Gesellschaft der nordalbanischen
Berge sich für eine Reihe von Verstößen Institutionen,
Verfahrensweisen und Sanktionen geschaffen hat, hätte sie dies im
Prinzip auch für alle Tötungsdelikte tun können. Karl Kaser
ordnet sicher zu Recht die Blutrache in den Ahnenkult ein: Die
shkues) unddorzân) oder im Rahmen einer Generalamnestie (dies
Einführung
39
xxxii
Kaser, S. 275-279.
Seele des Ermordeten kann erst dann Ruhe finden, wenn sein Tod
gerächt wurde
39.
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Re: Der KANUN - Staatliches Recht
Staatliches Recht
Alle albanischen Regimes, besonders die etwas
langlebigeren unter Ahmet Zogu und unter der Partei der Arbeit
Albaniens (PPSH), haben versucht, in ganz Albanien modernes
staatliches Recht durchzusetzen. Zogus Möglichkeiten waren aus
strukturellen Gründen gering; außerdem hatten etliche
Stammesführer, zu denen er selbst auch gehörte, bei seiner
Machtübernahme 1924 eine entscheidende Rolle gespielt; auch die
Besatzungsregimes haben sich maßgeblich auf die Stammesführer
gestützt. Damit standen die meisten von ihnen in scharfer
Gegnerschaft zu den Kommunisten, deren Machtübernahme viele
von ihnen das Leben kostete. Das kommunistische System hat für
sich in Anspruch genommen, in ganz Albanien einheitliche
Rechtsverhältnisse geschaffen zu haben. Dies sei durch eine Reihe
objektiver und subjektiver Veränderungen erreicht worden:
992. politische Führungsrolle der PPSH im ideologischen
Kampfe gegen die Normen des Kanun,
993. Einsatz der Strafjustiz gegen Gesetzesverstöße aufgrund
der Normen des Kanun,
994. Kulturrevolution ab 1967 mit Stoßrichtung gegen die
rückständigen Sitten des Nordens,
Einführung
40
për zhdukjen e mbeturinave të saj në Shqipëri.
Ismet Elezi: E drejta zakonore penale e shqiptarëve dhe luftaTirana 1983, S. 267-284.
41
xxxiii
Populli Po. 31.7.1994.
995. Kampf gegen die Religionen,
996. Mobilisierung der öffentlichen Meinung gegen die
Überreste des Gewohnheitsrechts
Der fast übergangslose Zusammenbruch der
realsozialistischen Ordnung und der mit ihr verbundenen
Grundwerte hat ein Vakuum hinterlassen, das die schwachen
Institutionen des bürgerlichen Rechtsstaats nicht ausfüllen
konnten. Die totale Abwertung der vergangenen 50 Jahre
bedeutete gleichzeitig eine Aufwertung früherer Verhältnisse und
Werte, gegen die die Kommunisten angetreten waren.
Ordnungselemente des Kanun hätten z. B. bei der Landverteilung
eine stabilisierende Rolle spielen können, doch ist das
Gewohnheitsrecht ein so weitgehend geschlossenes System, dass
auch die destruktiven, mit dem Rechtsstaat unvereinbaren
Elemente des Kanun nach dem Wegfall der staatlichen Repression
wiederbelebt wurden. Diese Unvereinbarkeit zeigte sich schon
1991 an der (bereits im Ansatz widersinnigen) Gründung einer
Partei "Rache nach dem Kanun", die wegen
Verfassungswidrigkeit nicht zugelassen wurde
40.41.
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Re: Der KANUN - Alte Fälle und neue Motive
Alte Fälle und neue Motive
Bei den Blutfehden, die jetzt wieder aufleben oder erst neu
entstehen, sind folgende Motive erkennbar:
Einführung
42
Sokol Mici: Wiederaufleben der Blutrache in Albanien, in:
Albanische Hefte,
21 (1992) 2, S. 20-21, Fall Kapllani.
43
Mici, Fall Gjeka; Der Spiegel 27.2.1995, Fall Ropaj.
44
Der Spiegel 27.2.1995.
45
xxxiv
Der Spiegel 27.2.1995.
1. Eine jahrzehntealte Blutschuld ist noch offen und wird
jetzt beglichen
2. Rache gegen Funktionäre des kommunistischen Systems
(Polizisten, Sigurimi-Mitarbeiter) wegen deren
Übergriffen;
3. Eskalation eines Streits (häufig aus politischen Gründen)
zur Ehrverletzung
4. Übergriffe gegen Frauen, vor allem Nötigung zur
Prostitution
5. objektiv fahrlässige Tötungen, die dennoch als Mord
gewertet werden
6. Streit um Grundstücksgrenzen, Bewässerungskanäle u.a.;
hier hat die Kollektivierung den Grundsatz der
prinzipiellen Unveränderbarkeit von Grundstücksgrenzen
und der Pflicht zur genauen Demarkation (§ 242)
aufgehoben. Nach dem Kanun ist der Grenzstein den
Gebeinen der Toten gleichgestellt (§ 243).
Daraus folgt, dass, wenn keine gütliche Einigung mit Hilfe
der Ältesten möglich ist, die Auseinandersetzung mit der Waffe
Ausschlag gebend ist: Grenzpunkt wird der Steinhaufen, der einen
im Grundstücksstreit Getöteten bedeckt (§ 255); ein schwer
Verletzter soll sich mit letzter Kraft vorwärts schleppen, um so die
42;43;44;45;
Einführung
46
Der Spiegel 27.2.1995, Fall Dullaj.
47
Rilindja Demokratike 5.1.1995.
48
xxxv
so Der Spiegel 27.2.1995.
Grenzen seines Hauses, Dorfes, Stammes usw. vorzuschieben (§
259)
Die Angaben über die Zahl der Blutrachetoten seit der
politischen Wende schwankt. Für 1994 gab der damalige
Innenminister Agron Musaraj 265 Fälle vorsätzlicher Tötung an,
von denen 228 aufgeklärt seien; er schlüsselte die Motive nicht
auf. In den Bezirken des nördlichen Berglandes sei die Zahl der
Blutrachetoten stark gestiegen
behaupten
Menschen würden ihre Häuser nicht mehr verlassen. Das Bild
wird verfälscht, weil in vielen Fällen die Täter oder die
Beobachter Elemente des Kanun in "normale" Gewaltkriminalität
hinein interpretieren.
46.47. Bürgerrechtler in Tirana48, es habe seit 1991 bereits 5.000 Tote gegeben; 60.000
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