nun seinen Körper von den Fesseln befreit hatte. Dabei fiel der Krankenhausarzt versehendlich über den zerfetzten Kleiderhaufen. Er stürzte direkt nach vorn, die Spritze flog in einem hohen Bogen durch die Luft und landete zu aller Entsetzen direkt in dem Oberarm des Ochsenmannes. Alle Anwesenden hielten die Luft an. Mit einem überraschten Gesichtsausdruck sank der Getroffene in sich zusammen. Karl nutzte die Gelegenheit, um
Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
zu türmen. Er hatte einfach keine Lust mehr. Das einzige, worauf er Lust hatte, war ein kuscheliges Sofa, auf dem er zusammen mit Jessica über alte Zeiten reden und vielleicht ein bisschen Liebe machen könnte. Bei der Gelegenheit könnte sie ihm vielleicht auch ein paar Dinge erklären, die er nicht verstand. Wie er so über Jessica und seine Trennung damals von ihr nachdachte, vernahm er plötzlich ein knurrendes Geräusch aus seiner Magengegend:
"Fix, Schwyz!" quäkt Jürgen blöd vom Paß.
Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
Oooooooohnein, dachte er, wo ist das nächste Klo? Es rumpelte und jaulte in seinem Gedärm bei all den angenehmen Gedanken an Jess. Schon entfleuchte ihm ein Windchen, als er grad die Tür mit der Aufschrift "Notausgang" erreichte. Er stieß sie auf und sah einen weiteren Gang. Er stürzte diesen mit zusammengepressten Gesäßmuskeln entlang. Rechts, links, geradeaus, wieder links. Dann endete der Flur abrupt. Keine Tür, kein weiterer Gang nach beiden Seiten. Nur Mauerwerk. Ein Piepsen am Boden ließ ihn zusammenfahren, dabei verlor er für einen Augenblick die Kontrolle über seinen Schließmuskel und
Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
wunderte sich sehr, dass er sich nicht wieder erbarmungslos entleerte wie vorhin. Nicht das geringste bisschen Masse entwich seinem After. Erstaunt über dieses neue Gefühl vernahm er ein weiteres Mal das Gurgeln aus seinem Körperinneren und musste spontan loslachen: Sein Magen hatte geknurrt, weil er Hunger hatte! Das war alles! Hunger! Aber wo sollte er hier etwas zu essen finden, hier waren ja nur ein Flur und Wände und Boden und Decke zu sehen. Naja, und dieses rosa Vieh, das da vor ihm saß und piepste und wie wild mit den Vorderbeinchen fuchtelte. Misstrauisch beugte er sich zu dem Tier hinunter und überlegte, ob es ihm vielleicht etwas sagen wollte. Das Tier
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Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
sprach im Flüsterton und gestikulierte dabei wild: "Kannst ohne Mittagessen mitkommen, musst immer trippeln zum unterirdischen, megageheimnisvollen Gehweg. Es heisst, wir erwarten Götter!" Karl kratzte sich ratlos am Kopf, aber dem Hinweis 'Gehweg' musste er einfach nachgehen. Die Rosémaus winkte ihm hektisch zu und lief voran, dabei immer durch Kopfwenden kontrollierend, ob er ihr auch folgen würde. Er setzte sich zögerlich in Bewegung. Das stechende Hungergefühl im Magen hinderte ihn am Nachdenken. Einen kurzen Augenblick sah er über die Schulter zurück, da
Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
hatte er das Gefühl, einen Schatten wahrzunehmen, der ihnen von Mauernische zu Mauernische folgte. "Bist du sicher, dass uns keiner folgt?" fragte er keuchend die Maus, wobei er Mühe hatte, ihrem Tempo zu folgen. Die Maus, die schon wieder hinter einer Ecke verschwunden war, ehe Karl überhaupt die Ecke bemerkt hatte, piepste nur schnippisch gegen Karls knurrenden Magen an: "Lass es rocken, Nigga, echte Rocker saufen trotz Magenknurren. Aber liegen Rocker im Club hinterm Tresen, ist's genug. Es naht Ihr Gehweg, Mister Ahnungslos!". Plötzlich verschwand der Boden unter Karls Füßen und er stürzte schier endlos in eine stockdunkle Tiefe hinab
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Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
Ein Motor rauschte und Karl erkannte, dass er sich auf einer Plattform befand, die ihn hinab transportierte. Kühle Kellerluft liess ihn frösteln. Mit einem Ruck kam er auf dem Boden tief unter der Erdoberfläche an. Zögernd machte er einen Schritt von der Metallunterlage. Es fiebte neben ihm. Die Maus in Rosa gestikulierte wieder. Aus ihrem Mäulchen kamen kleine Stöße Atemluft, die sich schnell in Kälteschwaden verwandelten. "Was erkennt Ihr trotz extremem Rotz?", raunte sie und
Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
sah sich fragend zu Karl um, von dessen Lippen kleine Sabbertröpfchen fielen, die als Eiskristalle auf dem lehmigen Boden liegenblieben. "Kat..." begann Karl stammelnd, ruderte verbal wieder zurück und begann stockend diesen einen Satz, der sein und vor allem das Leben der Maus jäh ändern sollte: "Katrin aß täglich ... zwei ... Erdbeeren" In seinen Augen stand
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Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
blankes Entsetzen. Eine schattenhafte Gestalt direkt hinter dem roséfarbenen Nagetier setzte zum Sprung an. Karl stürzte nach vorn, riss die Hände hoch, landete bäuchlinks direkt vor dem Mäusegesicht und sah gerade noch die bedingungslose Hingabe in den Knopfaugen, da schnappte das Katzentier den felllosen Körper und trug ihn eilens davon. Mit immer schwächer werdender Stimme piepste das Mäuschen: "Sag unbekannter Clique: 'Hallo Enigma'!" Dann wurde es still um Karl. Er hörte seinen Atem und
Re: Zeilenroman. Jetzt erst recht!
ein dumpfes, bedrohliches Pochen aus der Richtung, in der die Katze verschwunden war. Er fühlte sich so verdammt allein wie schon lange nicht mehr, vielleicht das letzte mal heute morgen, als er aus dem Haus gerannt war in dem festen Bestreben, seinem kümmerlichen Leben ein Ende zu setzen. Sein Leben war so unrettbar verkorkst, er hätte es schon längst zur Freude nachfolgender Generationen ressourcenschonend beenden sollen. Ausschlaggebend für seinen Entschluss, heute morgen in die Arme der Gangsterkids zu laufen, war der ärztliche Befund, den er in seinem Briefkasten gefunden hatte. Seine Krankheit war so widerlich und seine Heilungschancen so minimal, dass ihm vor sich selber graute. Und nun war er schon wieder allein, und alle, die ihm wohlgesonnen waren - Jessica, die Maus und ... naja, zumindest die beiden - waren weg, und er war wieder allein. Traurig kauerte er sich in eine Mauernische und schlief sofort ein, ohne zu bemerken wie das Pochen immer lauter wurde und immer näher kam.