Der Fall Kevin und die Konsequenzen in den Ländern 6. Juni 2008, 00:00 Uhr
Wie kein anderer Fall hat der Tod des kleinen Kevin eine öffentliche Diskussion über Mängel bei den Jugendämtern und die Notwendigkeit besserer Vorsorgemaßnahmen in Deutschland angestoßen. Mehr zum Thema Hamburger Abendblatt
* Zehn Jahre Haft für Kevins Ziehvater
Die Staatsanwaltschaft Bremen hat gleich gegen mehrere Mitarbeiter des Bremer Jugendamts Anklage erhoben wegen Verdachts der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen: Dies ist die Ausnahme von der Regel, obwohl in Deutschland jährlich etwa 100 meist kleine Kinder zu Tode misshandelt werden und in vielen Fällen die Jugendämter die Problemfamilien bereits kannten.
Auf der anderen Seite beklagt der Deutsche Kinderschutzbund aber auch, dass nach dem Tod des kleinen Kevin viele Jugendämter jetzt aus "Angst und Sorge" vor solchen Anklagen Kinder vorschnell zwangsweise in Heimen oder Pflegefamilien unterbringen. Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, mahnt, die Fremdunterbringung dürfe immer nur "das letzte Mittel" sein, wenn das Leben oder die Entwicklung des Kindes massiv gefährdet werden.
Mit mehr Personal und mehr Hausbesuchen bei Problemfamilien hat Bremen auf den Fall Kevin reagiert. Und auch die Nachbarländer verstärken ihre Bemühungen. Hamburg hat nicht nur eine Kinderhotline eingerichtet, sondern die Stellenausstattung der Jugendämter verbessert. Eingeführt wurden auch ärztliche Untersuchungen in Kitas mit dem Ziel, Vernachlässigung und Misshandlung frühzeitig zu erkennen. Als erstes Bundesland hat Schleswig-Holstein im März beschlossen, solchen Eltern sofort das Jugendamt ins Haus zu schicken, die die Vorsorgeuntersuchungen mit Kindern unter fünf Jahren nicht wahrnehmen. In Niedersachsen liegt ein ähnlicher Gesetzentwurf vor, der ebenfalls auf ein Einladungsverfahren per Brief setzt. Es bleibt den Ämtern aber laut Entwurf überlassen, ob sie nach einer solchen Meldung einen Besuch in den Familien abstatten.HA https://www.abendblatt.de/region/norddeutschland/article541433/Der-Fall-Kevin-und-die-Konsequenzen-in-den-Laendern.html
Re: Jugendamt Bremen: Fall Kevin
Bremen Kevin-Prozess soll eingestellt werden
11.08.2010, 12:54 2010-08-11 12:54:01
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Im Verfahren um den tragischen Tod des kleinen Kevin haben sich Anklage und Verteidigung auf ein Ende geeinigt. Die Deutsche Kinderhilfe spricht von einem "beschämenden Kuhhandel".
Anklage und Verteidigung sind sich einig: Im Prozess um den Tod des kleinen Kevin aus Bremen haben sich beide Parteien grundsätzlich für die Einstellung des Verfahrens gegen den Amtsvormund des getöteten Zweijährigen ausgesprochen. Möglicherweise Entscheidung im Kevin-Prozess Bild vergrößern
Das Bremer Landgericht schlug am Mittwoch ein Ende des Verfahrens gegen eine Geldauflage von 5000 Euro vor. Die Prozessbeteiligten müssen nun entscheiden, ob sie diesen Vorschlag akzeptieren. Einen Beschluss will das Gericht am 25. August verkünden.
Der Amtsvormund muss sich wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Am Mittwoch wurde der Prozess gegen ihn mit der Vernehmung eines Gutachters fortgesetzt. Wenn man jede Woche nur zwei Minuten Zeit pro Mündel habe, könne man sich kein eigenes Bild von dem Kind machen, sagte der Zeuge vor dem Landgericht zu der hohen Arbeitsbelastung der Amtsvormunde. Da sei man auf die Informationen Dritter angewiesen.
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So hatte auch schon der angeklagte, pensionierte Sozialarbeiter zum Auftakt des Verfahrens klargestellt: "Die Anklage kann ich nicht akzeptieren. Sie beurteilt nur rückwirkend und ist nicht fair." Es sei seit dem Tod Kevins kein Tag vergangenen, an dem er nicht an den Jungen gedacht habe. Er trauere um Kevin heute noch genauso wie damals.
Die Informationen Dritter, dazu gehörte bei den schicksalhaften Fehlentscheidungen im Fall des kleinen Kevin nach Auffassung der Anklage auch der direkt für den Jungen zuständige Sozialarbeiter. Eigentlich sollte er mit dem Amtsvormund gemeinsam auf der Anklagebank sitzen, doch das Verfahren wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.
Mit einem Ende des jetzt laufenden Prozesses wäre die juristische Aufarbeitung von Kevins Tod nicht zwingend abgeschlossen. Theoretisch könnte erneut ein Verfahren gegen den Sozialarbeiter eingeleitet werden, auf den sich der größte Teil der Anklage bezieht.
Polizisten hatten Kevins Leiche am 10. Oktober 2006 im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters entdeckt. Das Landgericht verurteilte ihn im Juni 2008 zu zehn Jahren Haft und verfügte die Einweisung in eine Entziehungsanstalt. "Das Jugendamt trifft keine Schuld, ich bin das Schwein"
Nun brachte die Staatsanwaltschaft erneut alle schockierenden Details auf den Tisch, die nach ihrer Auffassung die Fehler des zuständigen Amtsvormundes und des Sachbearbeiters zeigen. Dem Kleinkind waren fast alle Knochen im Leib gebrochen worden, manche dreimal an derselben Stelle. Obwohl es Hinweise gab, dass Kevins Ziehvater den Jungen misshandelte, waren die Behörden nicht eingeschritten.
Bis heute steht der Name des misshandelten kleinen Kevin für tödliches Versagen der Bremer Behörden. Als Konsequenz plant das Land eine Gesetzesänderung, nach der künftig alle toten Kleinkinder obduziert werden sollen.
Heftige Kritik an dem möglichen Ende des Verfahrens übte die Deutsche Kinderhilfe und sprach von einem "beschämenden Kuhhandel". "Verzögerung, Verschleppung und Vertuschung" zögen sich wie ein roter Faden durch den Fall Kevin. Die Ermittlungen gegen den Amtsvormund und den zuständigen Fallarbeiter seien hinausgezögert worden. Die Kritik hatte die Bremer Justiz wegen der immensen Aktenlage bereits mehrfach vehement zurückgewiesen.
Sollte der Prozess am 25. August nicht enden, könnte sich das Verfahren voraussichtlich noch Wochen hinziehen. Dann könnte auch der Ziehvater Kevins in den Zeugenstand gerufen werden. Er soll nach Angaben einer Polizistin nach dem Leichenfund gesagt haben: "Das Jugendamt trifft keine Schuld, ich bin das Schwein."
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* Kevin-Prozess in Bremen Reue nach dem Versagen * Obduktion des kleinen Kevin 24 Knochenbrüche * Kevin-Prozess Zwischen Aktendeckeln verloren
Logo Radio Bremen Mittwoch, 25. August 2010 Suche Hilfe | Kontakt Home Politik & Wirtschaft Themen Fall Kevin
Verfahren gegen Amtsvormund eingestellt Zweiter Kevin-Prozess beendet Mitschuld an Kevins Tod bleibt ungeklärt
Am 25. August 2010 ist das Verfahren gegen den ehemals amtlich bestellten Vormund von Kevin eingestellt worden. Beide Prozessparteien folgten damit einem Vorschlag der Richter, die bisher die Aussagen des Angeklagten selbst, einer Familienrichterin, eines Vorgesetzten und einer Kollegin gehört hatten. Nach Einschätzung der Strafkammer treffe Bert Kaufmann zwar eine Mitverantwortung am Tod des zweijährigen Jungen, aber im Laufe des Verfahrens hatte sich auch herausgestellt, dass die zuständige Behörde im Jahr 2006 völlig unterbesetzt war. Kaufmann muss nun 5.000 Euro an eine Kinderschutz-Organisation zahlen und die Kosten des Verfahrens tragen.
Kevin Prozess steht vor dem Abschluss, [4:26] Fernsehbericht von Radio-Bremen-Reporter Mathias Siebert. Bert Kaufmann [Quelle: Radio Bremen]
Der frühere Amtsvormund von Kevin ist der einzige Behördenvertreter der sich juristisch verantworten muss. Jugendamt nicht auf der Anklagebank
So bleibt aber weiter ungeklärt, welche Mitschuld der 67-jährige heutige Pensionär am Tod des Jungen trägt. Ursprünglich sollte neben dem Amtsvormund auch Kevins zuständiger Sozialarbeiter, der so genannte Fall- oder Case-Manager, auf der Anklagebank sitzen. Doch einem ärztlichen Gutachten zufolge ist er verhandlungsunfähig. Begründung: Der Angeklagte sei dauerhaft krank. Das haben mehrere ärztliche Stellungnahmen und Gutachten belegt.
Für den Bürgerschaftsabgeordneten Klaus Möhle (SPD) ist aber nicht nachvollziehbar, dass am Ende niemand aus der Sozialbehörde für Kevins Tod juristisch zur Rechenschaft gezogen werde. Im Radio-Bremen-Interview sagte er, dass der angeklagte Amtsvormund nicht die zentrale Figur in dem Fall gewesen sei, sondern er glaubt, dass es der Fall-Manager im Jugendamt war. Darin sei sich auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss "Kinderwohl" einig gewesen. Der Staat hatte die Vormundschaft für Kevin übernommen und ersetzte damit Vater und Mutter.
Richterin bietet die Einstellung des Verfahrens an, [6:17] Radio-Bremen-Reporter Jochen Binnig berichtet. Dazu Klaus Möhle im Interview. Fall Kevin: Was wurde beruflich aus den Verantwortlichen?, [3:16] Radio-Bremen-Reporter Roland Kloos berichtet. Bremen hat aus dem Fall nicht gelernt, [3:00] Kommentar von Achim Winkelmann. Richterstuhl mit Ausfschrift: Thue Recht [Quelle: Radio Bremen] zoom
Akten türmen sich auf dem Richtertisch. "Wir waren keine Amts-, sondern Aktenvormünder"
Eine Kollegin des Angeklagten hat Bert Kaufmann am vierten Prozesstag entlastet. Sie bestätigte, dass es 2005 in Bremen nur drei Amtsvormünder für rund 700 Fälle gegeben habe. Sie selbst und der Angeklagte hätten jeweils die Verantwortung für 250 Kinder gehabt. Eine "unheimliche Überlastung" sei das gewesen, eine persönliche Betreuung unter diesen Umständen fast unmöglich. Im Radio-Bremen-Interview sagte sie, dass "man eigentlich nur Feuerwehr gespielt" und die Akten verwaltet habe. Wörtlich sagte sie der Richterin: "Wir waren keine Amts-, sondern Aktenvormünder". Den Angeklagten beschrieb sie als guten und engagierten Sozialarbeiter. Vormund beklagt zu wenig Information
In seiner Aussage hat der Beschuldigte mangelnde Informationen und Arbeitsüberlastung als Mitursachen für den Tod des Jungen genannt. Alle Beteiligten hätten wesentlich mehr über die Vorgeschichte und Lebensumstände des Jungen gewusst als er, sagte er vor dem Landgericht Bremen. Vieles habe er erst nach Kevins Tod erfahren. Polizisten hatten die Leiche des Zweijährigen im Oktober 2006 im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters gefunden. Der Fall steht wie kaum ein anderer für das Versagen des Staates bei der Kinderfürsorge.
Über die Vorgeschichte des Jungen, Polizeieinsätze bei den drogensüchtigen Eltern und den Missbrauchsverdacht sei er vom zuständigen Sozialarbeiter nicht informiert worden. Der Arzt des Ziehvaters von Kevin habe ihm außerdem nicht gesagt, dass es bei der Substitution andere Drogen gegeben habe. Für ihn habe es in dieser Situation zunächst keinen Grund für einen Hausbesuch gegeben. Der ehemalige Amtsvormund sagte weiter, er habe zeitgleich rund 250 Kinder betreut und sich deshalb auf die Informationen des zuständigen Sozialarbeiters verlassen müssen.
Der falsche Angeklagte? , [2:48] Schild am Gebäude des Sozialamtes [Quelle: Radio Bremen]
Erstmalig hat eine Staatsanwaltschaft Anklage gegen einen Sozialarbeiter und einen Amtvormund erhoben. Ein langer Weg zum Prozess
Bereits im Dezember 2007 klagte die Staatsanwaltschaft den Amtsvormund an. Warum es erst zweieinhalb Jahre später zum Prozess gegen den Sozialarbeiter kommt, erklärt der Gerichtssprecher zum einen mit der umfangreichen Vorbereitung und zum anderen mit dem extrem komplexen Sachverhalt. Insgesamt sollen es an die 10.000 Seiten sein, die hier zu bewältigen waren. Dabei könne man kann sich gut vorstellen, dass bei diesem Umfang die Verfahrensbeteiligten immer ein bis zu drei Monate Zeit benötigen, um sich mit den Anträgen der Gegenseite zu befassen, beschreibt Thorsten Prange die Vorbereitungen am Landgericht. Der Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe Georg Ehrmann [Quelle: Deutsche Kinderhilfe] zoom
Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe. Bremer Justiz in der Kritik
Für den Vorsitzenden der Deutschen Kinderhilfe in Berlin, Georg Ehrmann, klingt das nach einer Ausrede. Er wirft der Bremer Justiz vor, den Fall regelrecht liegengelassen zu haben. Ehrmann sagt im Radio-Bremen-Interview: "Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, es verdeutlicht, wie die Prioritäten in der Bremer Justiz liegen. Hier ist ein Kind unter grausamen Umständen zu Tode gekommen und die Justiz braucht mehr als dreieinhalb Jahre um die Umstände wirklich vor Gericht zu bringen. Erlauben sie mir die polemische Spitze: Ich denke, wenn es hier um eine Tat mit fremdenfeindlichen Hintergrund ginge, dann wäre der Prozess sicherlich, wie sich das gehört, zeitnah erfolgt."
Der qualvolle Tod des zweijährigen Jungen Kevin aus Bremen steht wie kein anderer Fall für das Versagen des Staates bei Kinderschutz. Der angeklagte Amtsvormund war seinerzeit für zirka 250 Kinder verantwortlich. Das entsprach etwa vier Mal mehr als dem bundesweit verabredeten Durchschnitt. Über die individuelle Schuld hinaus
Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" war der zuständige Fall-Manager nicht nur durch seine schlampige Aktenführung und seine Zurückhaltung im Fall Kevin aufgefallen, sondern er stand im Jugendamt auch unter Verdacht, ein Alkoholproblem zu haben.
Für Georg Ehrmann hätte in diesem Prozess geklärt werden müssen, was die Vorgesetzten des Fallmanagers gewusst haben und vor allen Dingen aber, wie sie mit dessen offenkundigen Alkoholismus umgegangen sind. "Denn bei Alkoholismus ist der Arbeitgeber in einer besonderen Fürsorgepflicht", sagte Ehrmann weiter. Solch ein Mann hätte nicht eingesetzt werden dürfen, wenn es um Leib und Wohl eines Kindes geht. Deshalb sollten die Vorgesetzten im Sozialamt dazu aussagen, warum der Fallmanager in diesem Zustand arbeiten durfte. Nachdem bekannt wurde, dass der Sozialarbeiter nicht verhandlungsfähig ist, steht für Ehrmann fest, dass viele Leute in der Bremer Sozialbehörde jetzt besser schlafen werden. Er hatte sich einen Prozess erhofft, der über die individuelle Schuldfrage hinausgeht. Geklärt werden müsse, wie sehr die massiven Sparzwänge im Bremer Jugendamt Kevins Tod begünstigt haben. Denn als Kevin starb, galt eine interne Amtsanweisung Kinder in Not nicht mehr in teure Heime einzuweisen. Ungeklärt bleibt nun nach der Einstellung des Verfahrens auch, ob beispielsweise der ehemalige Leiter des Bremer Jugendamtes eine Mitschuld trägt.
Fernsehbericht: persönliche Erklärung des Amtsvormundes, [3:09] Kevins ehemaliger Amtsvormund hat eine Erklärung zur Anklageerhebung am 11. September 2009 gegeben. Mehr zum Fall Kevin: