Gruppe Enigma - Texthaufen

Der erste Satz ...

Re: Der erste Satz ...

Er bekam den Löwenanteil. Das war immer so!
Schon von unserer Mutter hatte er immer das größere Stück Fleisch und den einen Lutscher zusätzlich bekommen.
Er war ja so dünn. Er war ja so klein.
Obwohl ich der ältere von uns beiden war, landete der Speck immer nur auf seinem Teller.
Als wir beide in Ingrid verliebt waren, durfte ich nur mit ihr im Auto knutschen, er aber hatte richtigen, echten Sex mit ihr im Schuppen ihrer Eltern. Alle fanden ihn ja so niedlich.
Und als unsere Oma endlich starb, bekam ich die alten Kriegsbücher von Opa und er ihren ganzen Schmuck. Natürlich hat er ihn richtig gut verkaufen können. Aber er war ja so feinsinnig.
Nur ich wußte, dass er eine ganz miese Sau war, hatte es schon seit seiner Geburt gewußt.
Ja, klein war er immer gewesen, aber dabei so durchtrieben, dass er, nur um mich zu ärgern, sich selbst eine Ohrfeige gab und heulend auf dem Boden zusammenbrach bis unsere Mutter kam und mich schlug.
Später fingen wir beide das Dealen an, ich erinnere mich, wie er mich damals dazu überredet hat.
Zuerst vertickten wir nur Haschisch auf dem Schulhof, aber das wurde schnell zu unwirtschaftlich. Mein Bruder verschenkte sowieso immer das Zeug um die Mädchen für sich zu gewinnen.
Also arbeiteten wir im größeren Stil mit richtigem Stoff.
Das Geschäft lief gut, ich blieb eher im Hintergrund und machte die Einkäufe, während der süße Kleine keine Schwierigkeiten hatte, die Päckchen unter die Leute zu bringen.
Dafür ging er auf die Partys der Juppies und ihrer Schnecken und ich saß in versifften Wohnzimmern mit Schlägertypen rum, die mich ständig bescheißen wollten. Ich trug also das Risiko zusammengeschlagen zu werden und er stopfte sich mit leckeren Häppchen voll.
Irgendwann fing er an, selber solche Partys zu veranstalten, nannte das eine tüchtige Geschäftsidee, weil die Kunden dann zu ihm kamen und jeder wußte, wann es wo was gab.
Zu diesem Zeitpunkt war mir schon zweimal das Nasenbein gebrochen worden von irgendwelchen scheiß Junkies, die mir nur das Geld abknüpften und den Stoff schuldig blieben.
Weil mein Brüderchen aber seine feinen Gäste mit erlesenen Drinks oder Tänzerinnen oder was weiß ich unterhalten musste, fehlte uns Geld.
Stundenlang hat er auf mich eingeredet, bis ich einverstanden war, mit ihm die Sparkasse am Blomeweg zu überfallen.
Eigentlich wußte ich ja, dass das eine Nummer zu groß für uns war, ich wollte gar nicht mitmachen. Wie sollten wir denn das Geld erpressen? Womit sollten wir denn drohen?
Er meinte, dass es ausreichen würde, mit der Hand in der Jacke rumzufuchteln um die Kassierinnen in Angst zu versetzen.
An dem Tag, als der Geldtransporter die Einnahmen der Woche abholen sollte, sind wir dann vorher in die Geschäftsräume gestürmt und haben laut gebrüllt, dass man uns alles Geld geben solle.
Es war nur eine Kassiererin da und die wurde richtig zickig. Sie stand nur einfach hinter dem Schalter und machte keine Anstalten uns irgendwas herauszugeben. Vielleicht hatte die so eine Schulung gemacht oder so.
Plötzlich zog mein Bruder zwei Wummen aus der Tasche und schrie mich und die Frau an, dass es verdammt noch mal ernst sei.
Eine von den beiden Dingern drückte er mir in die Hand und ich dachte natürlich, es sei so eine Spielzeugpistole.
Immerhin fing die Kassierein endlich damit an, ihr Geld zusammenzupacken. Dabei war sie blass geworden, eigentlich war das eine Hübsche. Aber dann lachte mein Bruder nur, weil sie uns blos so ein kleines Säckchen mit Klimpergeld geben wollte.
Mir dauerte das alles viel zu lange, ich wäre gerne abgehauen.
Doch er schrie die Frau an, uns den Tresor zu öffnen, er wollte mehr Geld.
Tatsächlich machte sie für uns den Tresor auf und raffte die Geldscheine zusammen. Sie stopfte alles in einen Geldsack und da schrie mein Bruder mich an, ich solle schießen. Immer wieder schrie es das.
Er riss ihr den Sack aus ihren Händen und warf ihn durch die geöffnete Tür in den vorderen Raum. Da muss noch einer gewesen sein, von Kompliezen war bis dahin überhaupt nie die Rede gewesen.
Ich war völlig verdutzt!
Alles ging so schnell plötzlich und er schrie und schrie. Dann trat er mir vor das Schienbein und ich glaube, dadurch hat sich dann der Schuß gelöst. Die Frau sackte ganz komisch zusammen, töten wollte ich sie doch gar nicht. Ich konnte das alles gar nicht glauben, das war wie im Film.
Mein Bruder nahm meine schlaffe Hand mit der Knarre und zielte nach unten auf sich.
So abgebrüht ist der, dass er sich selber in den Fuß schoß.
Jetzt sagt er, ich wäre durchgedreht und hätte wild um mich geschossen, aber glauben sie mir Herr Richter, ich weiß weder wo das Geld geblieben ist, noch bin ich ein gemeiner Mörder!
Ich weiß, dass mein Bruder etwas anderes erzählt, aber er will blos wieder den Löwenanteil von allem.
Ehrlich!

Re: Der erste Satz ...

Was für ne fiese Nummer! Da steckt ja eine Analyse der ganzen Verteilung gesellschaftlicher Rosinen drin. Das ist ein super Text, Silke!



Owl owl!

Re: Der erste Satz ...

Manchmal muss man die Dinge beim Namen nennen.

Re: Der erste Satz ...

Geht so. Ich hoffe du glaubst ihm nicht, der lügt doch!

Re: Der erste Satz ...

Ach so



Owl owl!

Re: Der erste Satz ...

Silli, also wirklich:

Wow!

Re: Der erste Satz ...

Manchmal muss man die Dinge beim Namen nennen. Das hatte Karls Mutter immer zu ihm gesagt. Das letzte Mal an seiner Hochzeit. Als er nicht so richtig wusste, wie er sich für den dritten Pürierstab bedanken sollte. "Du musst die Dinge beim Namen nennen", meinte seine Mutter dann auf seine verhalten geäußerte Kritik. Wie soll man denn sonst wissen, was du willst!

Es war am letzten Tag von Karl und Olgas Flitterwochen in Österreich. Sie standen auf einer Donaubrücke in Wien, sahen dem Riesenrad zu, das mit einer aufwändigen Installation eines spanischen Künstlers mit verfremdeten pornografischen Szenen angestrahlt wurde. Er legte seine Hand um ihre Taille, aber sie zierte sich ein bisschen und wollte lieber dem Riesenrad zusehen. In der Region, aus der sie kam, waren derartige Kunstinstallationen nicht sonderlich verbreitet.

Karl wollte mit Olga Geschlechtsverkehr. An ihrem Hochzeitstag war es nichts geworden, da war er zu betrunken gewesen. Nach den vielen Wodkas mit Olgas Verwandtschaft. Und sie hatte eine große Verwandtschaft. Ein weltumspannendes Familienunternehmen. Ein Wodka mit jedem wäre für einen normalen Menschen schon eine Herausforderung geworden. Aber ihre Geschwister schenkten ihm ständig nach. Gerade noch, dass er es in ihr gemeinsames Bett geschafft hatte, aber aus den Kleidern war er schon nicht mehr gekommen. Und seither hatte er es nicht so richtig geschafft, seinen Wunsch nach Vereinigung mit ihr erfolgreich zu artikulieren. In den ersten Tagen ihrer Flitterwochen hatte er sich noch ein bisschen für die Hochzeitsnacht geschämt, dann hatte sie ihre Tage gehabt, und seither hatte er einfach die richtigen Worte nicht gefunden. Aber nun erinnerte er sich daran an die Worte seiner Mutter: "Du musst die Dinge beim Namen nennen" Er wollte gerade ansetzten, da flüsterte sie ihm etwas ins Ohr und zog ihn sanft in den Schatten einer Mauernische.

"Hallo, Freunde!" Eine kalte Stimme ließ ihn aufschrecken und aus dem Schatten in die Richtung blicken, aus der die beiden Gestalten gekommen waren, zwei großgewachsene junge Männer in dunklen Anzügen. Sie hatten kantige austauschbare Gesichter, nur dass einer von beiden ein paar vernarbte Schnittverletzungen im Gesicht hatte, was ihn besonders fies aussehen ließ. Der mit dem Narbengesicht grinste und hielt ihnen einen Pflasterstein entgegen, den er offensichtlich einige Meter weiter von einer Baustelle aufgesammelt hatte. Der andere grinste auch und rückte an Karl heran, bis er unmittelbar vor ihm stand. Sein Atem roch nach kaltem Hammelfleisch und Tabak.

"Was wollen Sie?" fragte Karl, der sich keine Blöße geben wollte, während Olga noch ein bisschen näher an ihn heranrückte.
"Wir wollen Euch diesen Pflasterstein verkaufen." Er deutete auf den Stein in der Hand seines Komplizen. "Gegen alles Geld, das ihr dabei habt!" Er grinste, während sein Komplize den schweren Pflasterstein ein paar Mal wie einen Ball in die Luft warf und wieder auffing. "Gute Ware!" sagte dieser: "Und billig! Sie müssen kaufen! Wie viel haben Sie?"

Karl, der zwar zwei Köpfe kleiner und um einiges schmächtiger war, wollte sich dennoch eine solche plumpe Gaunerei nicht bieten lassen. Man musste dem Bösen die Stirn bieten, sonst könnte man gleich in Schande versinken.
"Nein, danke, sagte er. Wir möchten nicht kaufen!"
"Sie wollen nicht kaufen?" fragte der Verhandlungsführer und spuckte auf den Boden, direkt vor Karls Schuhe.
"Nein!" entgegnete dieser resolut. Olga klammerte sich zitternd an ihn.
"Wir nehmen ihre Frau in Zahlung, wenn sie nicht genügend Geld dabeihaben!" fuhr der Mann fort, worauf das Narbengesicht den Stein fallen ließ und eine riesige, kantige Pistole aus schwarzem Metall aus seiner Innentasche zog. Ihr entfuhr ein kurzer, schriller Aufschrei, als sie den kalten Stahl in ihrem Schritt spürte.
"Sie haben keine Chance!" fuhr Karl fort, und erinnerte sich daran, dass er die Dinge beim Namen nennen wollte: „Das ist kein Geschäft! Das ist Raub! Und man wird Sie kriegen! Sie haben Ihren genetischen Fingerabdruck hinterlassen!" Er deutete auf die Spucke am Boden.
"Haben wir das?" Der Verhandlungsführer verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. "Weißt du was?" Er zog nun seinerseits auch eine Pistole aus der Tasche. "Du bekommst die Spucke mit dazu! Als Werbegeschenk!“ Der Lauf der Pistole bohrte sich schmerzhaft in seine Seite.

Nachdem Karl die Spucke aufgeleckt hatte, bekam er noch einige ziemlich grobe Fußtritte in den Bauch. Gratis. Viel Geld hatte er wirklich nicht dabei gehabt. Dafür haben sie dann doch seine Frau in Zahlung genommen. Karl hatte sie nicht wieder gesehen. Hatte geglaubt, die Untäter hätten sie in die Donau geworfen, nachdem sie sie missbraucht hatten. Die Polizei hatte mehrere Flusskilometer in beide Richtungen abgesucht, hatte Taucher eingesetzt. Sie hatten nichts gefunden. Dann hatte er sich selbst in den Fluss geworfen, aber sie haben ihn wieder herausgefischt. Am Ende war er doch wieder zurück nach Deutschland gefahren, hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß nach Österreich zu setzten, ja, Deutschland überhaupt nicht mehr zu verlassen. Zuhause hatte er dann den Brief seiner Schwiegermutter gefunden. Sein erbärmlicher Einsatz gegen die Täter sei nicht nur ein Scheidungsgrund, sondern auch eine Schande für ihn und seine Familie, ganz abgesehen von der Entehrung seiner Frau. Seiner Ex-Frau genaugenommen. Was sollte das denn jetzt bedeuten? Wollte sie sich scheiden lassen, bevor sie überhaupt die Ehe vollzogen hatten? War das überhaupt rechtmäßig? Das war doch ein abgekartetes Spiel. Als ob das alles ein schlechter Film wäre! Aber die Realität war etwas anderes! Ihn konnte man nicht so leicht hinter’s Licht führen. Ihn nicht!

Noch am gleichen Tag kaufte er sich eine Zugfahrkarte nach Wien. Erste Klasse, Vollpreis, darauf kam’s jetzt auch nicht mehr an. Und er dachte nach. Dachte lange nach. Bis zur österreichischen Grenze. Dann verfiel er in einen leichten, wenn auch kurzen Schlaf.

In Wien angekommen nahm er sich ein Taxi und fuhr direkt zu der Brücke, an der er die beiden Übeltäter getroffen hatte. Bekanntschaft mit dem Bösen gemacht hatte. Er bezahlte den Taxifahrer, stieg aus und ging langsam in Richtung der Stelle, an der der Vorfall passiert war. Der Pflasterstein lag immer noch da. Jemand hatte ihn ein bisschen an die Seite geräumt, in die dunkle Nische, in die ihn Olga gezogen hatte. Zufälligerweise gezogen hatte, unmittelbar bevor die beiden Gauner angekommen waren. Ihn zusammengeschlagen hatten. Und sie hatten laufen lassen. Er hob den Pflasterstein hoch. Er war groß und schwer. Mindestens fünf Kilo, wenn nicht mehr. Größer und schwerer als die, die an der Baustelle gelegen hatten. Sie hatte nicht einmal mit ihm schlafen wollen! Sie wollte nur die Einbürgerung, und vielleicht noch eine lukrative Scheidung. Wie hatte er nur darauf hereinfallen können! Er war so verliebt gewesen, und sie wollte nicht einmal Sex mit ihm, nicht ein einziges Mal, noch nicht einmal, um ihm das Gefühl einer ordentlichen Vermählung zu geben! Der Gedanke war unerträglich!

Er nahm den Pflasterstein und steckte ihn unter seine Lederjacke. Dann schloss er die Lederjacke. Gerade so, dass der Stein darunter Platz hatte. Er erklomm die Mauer, schloss die Augen und ließ sich kopfüber in die Donau fallen.

1000 Kilometer weiter schimpfte Olga mit ihren Cousins über den derben Scherz, den sie mit Karl getrieben hatten. Morgen würde sie Karl alles beichten. Ihre Mutter aber sah zu und lächelte.



Owl owl!

Re: Der erste Satz ...

Autsch!
Noch ne fiesere Geschichte:-)
Sehr schön. Findet die Gräfin auch, sie schenkt aber gerade Kaffee ein und kann nicht lesen.

Re: Der erste Satz ...

Fies macht Laune. Da könnte man fast einen Krimi draus machen. Mit einem Privatdetektiv, der die Täter tatsächlich anhand ihres genetischen Fingerabdruckes sucht. Und dann eine gewisse Verwandtschaft feststellt ...



Owl owl!

Re: Der erste Satz ...

Er bekam den Anruf frühmorgens um halb sechs.



Owl owl!

Re: Der erste Satz ...

( )



robert.reicht.
Im Übrigen: www.die-horizonter.jimdo.com


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Die Hölle ist überwindbar.