The Phantom's Rose - Rollenspiel

The Phantom's Rose

The Phantom's Rose

Eric hatte sich seinem Ziel noch nie so nahe geglaubt. Obwohl er in den letzten Jahren so gut wie unsichtbar gelebt hatte, nahm er die mehreren hundert Zuschauer, deren Augen in diesem Moment auf ihn und sie gerichtet waren nicht wahr. All seine Sinne waren nur auf Christine konzentriert. Ihr Haar streifte seine Wange und ihr federleichter Körper drückte sich sanft gegen seinen, während er sie umarmte.
Und dann drehte sie sich plötzlich zu ihm um. Sie wusste, dass er es war. Sie wusste es, da war er sich ganz sicher. Und dennoch wich sie nicht zurück. Ihre großen dunklen Augen, die ihn bis in seine düsteren Träume verfolgten, sahen ihn direkt an, als wollten sie ihn für immer festhalten. Und dann hob sie ihre zarte weiße Hand und legte sie an seine Wange. Für Eric war ihre Berührung wie Balsam. Wie eine schmerzstillende Salbe, die den quälenden Wunden in seinem Innern Linderung gab.
Christine war die erste, die ihn seit Jahren, seit Jahrzehnten berührt hatte und diese menschliche Berührung ging ihm durch und durch. Er fühlte sie mit jeder Faser seines Körper, sog sie in sich auf. Und er vertraute ihr, gab sich ihr hin, verlor sich für einen Moment in dieser Berührung...
Einen Moment zu viel. Ohne dass sich irgendetwas in ihrem sanften Ausdruck geändert hatte, tat sie ihm das Grausamste an, das in seiner Vorstellungskraft existierte. Sie riss ihm die Maske vom Gesicht und im selben Moment ging durch das gebannte Publikum ein entsetzter Aufschrei. Sie waren entsetzt weil sie ihn sahen, weil Chrisine ihnen sein teuflisches Antlitz offenbart hatte. Nicht einmal die Schläge seines Wärters vor langer langer Zeit hatten ihm solche Schmerzen zugefügt.
Und dennoch war ihr sanftes Lächeln wie in Stein gemeißelt. Sie sah ihn ohne Scheu an, ohne zurückzuweichen, als habe sie nicht gerade alles zerstört: Seine Hoffnung, der Einsamkeit doch noch zu entfliehen ... die langsam aufkeimenden Gefühle als er schon geglaubt hatte in ihm sei alles versteinert... die Zuneigung zu ihr, die sich in vor Eifersucht rasende Liebe verwandelt hatte... Er sah sie an und in seinen Augen spiegelte sich die Trauer und die Hoffnungslosigkeit von Jahren.
Der Saal geriet in Aufruhr. Er musste handeln.
Hilfe suchend, wie ein in die Enge getriebenes Tier sah er sich um. Sein Blick streifte Raoul, der aus einer Art Starre zu erwachen schien - Eric hatte nicht mehr viel Zeit - und blieb dann an dem riesigen Kronleuchter hängen, der den Saal prunkvoll schmückte. Ohne zu zögern zog er seinen Degen, durchtrennte das Seil das ihn hielt, riss Christine an sich und nahm sie mit sich hinab ... hinab... zurück in seine Dunkelheit... seine Einsamkeit... sein Zuhause, das noch nie ein anderer Mensch außer ihr betreten hatte, seine Zuflucht und sein Gefängnis, sein Paradies und seine Hölle. Der Ort, den sie nun niemals wieder verlassen würden. Niemals.
Er zog sie mit sich, nur von einem Gedanken beherrscht. Warum? Warum, Christine? Warum die größte Schmach von allen, nach all dem was ich für dich getan habe? Und warum musste sie von dem einzigen Menschen über ihn gebracht werden, den er jemals geliebt hatte?

 

Re: The Phantom's Rose

Raoul war sich sicher. Der Plan war perfekt. Liebevoll ruhte sein Blick auf Christine. Sie sah entzückend unschuldig und verletzlich aus in ihrem Kostüm. Raoul spürte ihr Grauen, ihre Angst seit Beginn der Vorstellung und bedauerte aufrichtig, sie in solche Gefahr gebracht zu haben. Doch ihm war keine Wahl geblieben, sie war der einzig mögliche Köder, um dem verhassten Phantom endlich das Handwerk zu legen. Er würde ihr nicht widerstehen können, er musste einfach herkommen.
Doch wann? Nervös ließ Raoul seinen Blick durch die Gesichter im Zuschauerraum schweifen, blickte immer wieder hinter sich und hinauf zum kuppelartigen Gewölbe der Pariser Oper. Wo versteckte er sich? Wann würde er zuschlagen? Die Vorstellung ging weiter. Und in dem Moment, als Don Juan wieder die Bühne betrat, wusste Raoul es. Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Die große, Respekt einflössende Statur, der fehlende Bauchansatz, die fein definierten Muskeln unter dem Kostüm. Dies war nicht mehr der kleine, beleibte Piangi. Es war das Phantom der Oper selbst, daran bestand kein Zweifel. Gebannt fixierte Raoul das Geschehen auf der Bühne. Dies war der Moment, auf den er den ganzen Abend gewartet hatte. Das Phantom war gekommen, lieferte sich ihm aus. Raoul musste den Wachen nur ein Zeichen geben, doch...er konnte sich nicht rühren, war wie erstarrt und die kraftvolle Stimme des Phantoms schien in seinem Kopf widerzuhallen.
Auch Christine schien verwandelt, wie Raoul plötzlich mit Schrecken feststellte. Kein Anzeichen mehr von Furcht lag in ihrem Spiel. Im Zuschauerraum herrschte vollkommene Stille. Die Intensität des ihnen dargebotenen Schauspiels war förmlich greifbar. Und in dem Moment, als Christine zu ihm hinauf blickte und zu singen begann, fing Raoul den Blick des Phantoms. Seine Nackenhaare stellten sich auf als ihm in diesem Moment klar wurde: er weiss es! Sekunden erschienen Raoul wie Minuten, als er in das maskierte Gesicht blickte, auf dem sich für alle anderen unsichtbar der Ansatz eines diabolischen und spöttischen Lächelns zeigte. Wie hatte er ihn so unterschätzen können? Nach allem was er bislang miterlebt hatte, hätte ihm doch klar sein müssen, dass das Phantom allwissend war ob jeder Kleinigkeit, die in seinem Opernhaus vor sich ging. Und natürlich wusste er auch jetzt von der Falle, die Raoul ihm gestellt hatte. Er sah es in seinem Blick. Kalter Angstschweiß brach ihm aus, während das Phantom sein Spiel ungerührt fortsetzte. Er musste handeln. Christine war in höchster Gefahr. Suchend blickte er zur Loge der beiden Direktoren, doch diese wirkten, als könne sie kein Wässerchen trüben. Sein Herz raste. Verdammt, dachte Raoul, wie können sie nur so blind sein? Bin ich denn der Einzige, der merkt, was hier gespielt wird? Er gab dem Wachmann hinter sich Zeichen, der sich daraufhin gehorsam in Position brachte und sein Gewehr anlegte. Raoul wollte ihm gerade den Befehl geben, zu schießen, als er plötzlich innehielt. Er ließ den Arm sinken und starrte wie gebannt zur Bühne. Es konnte nicht sein. Das Phantom hielt Christine in seinen Armen und sie schützte ihn mit ihrem Körper. Verzweiflung und Tränen der Wut stiegen in Raoul empor. Wie konnte sie das tun? Sie würde den Plan noch vereiteln. Was passierte dort zwischen dem Phantom und ihr? Es war ihm unbegreiflich.
Er konnte nichts tun, war vollkommen machtlos und so blieb Raoul nichts übrig, als die grausame Szene zu ertragen. Die charismatische Anziehungskraft, die das Phantom überdeutlich auf Christine ausübte, zog ihn geradezu schmerzhaft in seinen Bann. Und als sie schließlich ihre Hand hob und zärtlich auf die Wange des Phantoms legte, fühlte Raoul sich, als habe sie ihn geohrfeigt.
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Mit einem Ruck riss Christine die Maske vom Gesicht des Phantoms und der Anblick des entstellten Gesichts ließ einen grellen Aufschrei durch die Menge gehen. Raoul starrte seinen Widersacher an und konnte den Blick einfach nicht abwenden. Mit der Maske war in Sekundenbruchteilen auch der überlegene und selbstsichere Ausdruck vom Gesicht des Phantoms gefallen und Raoul war, als könne er direkt in dessen Seele blicken. Der Ausdruck von grenzenlosem Leid und Schmerz, den er darin sah, brannte sich unwiderruflich in Raouls Gedächtnis ein und ließ ihn erstarren. Dies war der Moment, in dem er den Befehl zum Schießen hätte geben sollen, denn das Phantom war ungeschützt, wehrlos, ihm ausgeliefert. Es war ihnen in die Falle gegangen. Doch Raoul war handlungsunfähig. Das Mitleid, das ihn ohne jede Vorwarnung für diesen skrupellosen Mörder überfiel, schockierte ihn selbst bis ins Mark. Doch der Augenblick ging so plötzlich vorbei, wie er gekommen war und ihm wurde bewusst, dass er zu lange gezögert hatte. Das Phantom packte Christine, zerstörte mit seinem Degen die Halterung des Kronleuchters an der Decke und verschwand mit Raouls Verlobter in den dunklen Katakomben. Jetzt endlich erwachte Raoul aus seiner Starre. Sein Zögern und sein Mitleid waren vergessen und er hatte nur noch einen Gedanken: Christine. Was habe ich dir angetan?

Re: The Phantom's Rose

Christine strauchelte immer wieder, auf ihrer endlos scheinenden Flucht durch die dunklen Gänge, aber sie versuchte nicht, sich von ihm loszureißen. Eric registrierte es kaum. In ihm war so viel Hass, so viel Enttäuschung, dass er kaum noch klar denken konnte. Der Wahnsinn, den nur eine sehr dünne Wand davon abhielt, sich seines Verstandes ganz und gar zu bemächtigen tobte stärker in ihm denn je.
Und als er sie schließlich an eine Säule in seinem Zufluchtsort schleuderte, spiegelte seine Stimme, die sonst wohlklingend und beinahe sanft war, diesen Wahnsinn wider.
"Warum Christine?" Er sah sie mit wildem, gequälten Blick an und fand keine Antwort in ihren Augen. Er sah auch keine Angst, keine Reue, sondern nur Mitleid. Und genau das war es, was er von ihr nicht wollte.
Jetzt da sein entstelltes Gesicht enthüllt war und all seine Hässlichkeit sich ihr entblößte, fühlte er sich, als sei auch sein Hass entschleiert. Er hatte sie nie verletzten wollen, aber jetzt wünschte er sich, dass sie litt, wie er gelitten hatte. Sie würde bei ihm bleiben, würde sein grausames Schicksal teilen.  Er dachte nicht mehr an die Musik, nicht an ihre Stimme, die ihn verzaubert hatte...
"Finde dich mit deinem Schicksal ab." waren seine wütend hervorgestoßenen Worte, als er ihr den Schleier aufsetzte. Und als sie ihn ansah, verwirrt, ängstlich, aber noch immer bedauernd wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er von ihr niemals mehr bekommen würde. Niemals mehr als Mitleid. Sie verstand ihn nicht und sie würde niemals in der Lage sein, sein Äußeres zu vergessen.
 




Re: The Phantom's Rose

Raouls schnelle Schritte und sein keuchender Atem hallten laut in der Stille des düsteren Gewölbes nieder. Die steinerne Treppe schien ihm endlos und bei einem Blick über das Geländer hinab in die schwarze Tiefe der Katakomben wurde ihm schwindelig. Er war Madame Giry dankbar, dass sie ihm den Weg zum Versteck des Phantoms gezeigt hatte, doch er hatte sie kaum wahrgenommen. Zu laut dröhnten die Stimmen in seinem Kopf, zu widersprüchlich brodelten die Gefühle seit der Aufführung des Don Juan in ihm. Immer wieder schalt er sich selbst einen Narr, wie hatte er nur so achtlos sein können, sich von einem kurzen Anfall menschlichen Mitgefühls überwältigen zu lassen.
Und Mitgefühl für wen? Für den Mann, der ihm Christine genommen hatte, kaum dass er ihr nach Jahren endlich wieder begegnet war? Für einen entstellten Wahnsinnigen, der das Leben anderer Menschen kontrollierte, bestimmte und tötete, ohne mit der Wimper zu zucken? Raoul schüttelte den Kopf und bedauerte zum wiederholten Male, das Phantom nicht schon bei ihrem Duell auf dem Friedhof getötet zu haben. Er war kurz davor gewesen, doch etwas hatte ihn in allerletzter Sekunde zurück gehalten. War es wirklich Christines flehende Stimme gewesen? Oder war es der verwundbare Ausdruck in den Augen des Phantoms, der ihm heute Nacht auf der Bühne für einen kurzen Moment zum zweiten Mal begegnet war?
Und noch während die rasenden Stimmen in seinem Kopf eine Antwort auf diese Frage suchten, brach plötzlich der Boden unter Raouls Füßen weg und eisiges Wasser umfing ihn. Er verlor die Orientierung, fühlte sein Bewusstsein schwinden und nahm doch noch das verrostete Eisengitter wahr, dass sich scheinbar unaufhaltsam auf ihn niederzusenken drohte. Du Mörder, dachte er, du skrupelloser Bastard! Seine Wut und der Hass auf den Mann, für den er gerade wieder einen Anflug von Mitleid empfunden hatte, kamen heftiger zurück als je zuvor. Sie gaben ihm die Kraft, den Atem anzuhalten, unterzutauchen und die Mechanik umzukehren, die das Eisengitter hinabsenkte - und damit die Kraft, sich in letzter Sekunde wieder aus seinem wässernen Grab zu befreien, welches das Phantom ihm offenbar ohne jede Spur von menschlichem Mitgefühl geschaufelt hatte.



Re: The Phantom's Rose

Christines Mitleid würde sich bald in Hass verwandeln, aber den Hass konnte er besser ertragen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Niemand konnte ihr mehr helfen. Hier unten war ihr neues Zuhause und niemand konnte sie ihm mehr wegnehmen.
Und dann tauchte Raoul aus den Wassern des unterirdischen Flusses auf. Seine nasse Kleidung klebte an ihm und feuchte Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht. Er, der sonst immer mit äußerster Vorsicht perfekt gekleidet und frisiert war, wirkte jetzt wild und zerzaust. Und er sah wunderschön aus. So schön, dass Eric ein Stich unbändiger Eifersucht bis ins Mark erschütterte, schon bevor er das Aufleuchten in Christines Augen sah.
"Warte einen Moment meine Liebe, wir haben einen Besucher." zischte Eric.
Raoul trennte noch ein Gitter von ihnen, an das er sich jetzt voller Verzweiflung klammerte. Er war zu Tode erschöpft. Offenbar war er in eine von Erics Fallen geraten. Dann war es allerdings ein Wunder, dass er überhaupt hier war. Aber es war gut, dass er gekommen war. So konnte er es endlich wirklich zu Ende bringen. So sollte es enden, hier und jetzt. Und beide sollten leiden, so wie er gelitten hatte, bevor sich ihre grausame Schicksalsgemeinschaft endlich auflöste und Raoul für immer aus seinem Leben verschwand. Auf die eine oder andere Art.

 




Re: The Phantom's Rose

Raoul zitterte, als er das Eisengitter am Ende des Ganges erreichte. Der Kampf gegen die Fluten hatte ihn erschöpft und er fühlte sich unendlich müde. Die nasse Kleidung klebte eiskalt an seinem Körper und der schier endlose Weg durch das unterirdische Labyrinth hatte ihn seine ganze Kraft gekostet. Doch der Gedanke an Christine hatte ihn weiter getrieben. Damals, auf dem Dach des Opernhauses hatte er ihr versprochen, sie zu beschützen und sie vor allem Dunklen und Bösen zu bewahren. Dass er offensichtlich so schnell versagt und sein Versprechen gebrochen hatte, konnte er einfach nicht ertragen.
Und noch etwas hatte ihm Kraft gegeben. Gefühle, die er bis zum heutigen Tag nie gekannt, nicht annähernd so intensiv verspürt hatte: Hass, Eifersucht und das Verlangen nach Rache. Eine explosive Mischung, die sich einzig und allein auf einen Mann konzentrierte: Das Phantom der Oper. Immer wieder sah er vor seinem inneren Auge die letzte Szene des Don Juan vor sich: Christine und das Phantom in inniger Umarmung, ihre sehnsuchtsvollen Augen und die Hand an seiner Wange. Er hoffte inständig, dass ihre Gefühle nur gespielt waren, eine perfekt inszenierte Vorbereitung auf die Blossstellung des Phantoms, als sie ihm die Maske vom Gesicht gerissen und ihn vor hunderten von Augenpaaren zutiefst erniedrigt hatte. Hätte sie das einem Mann angetan, für den sie wahre Liebe empfand?
Der Anblick, der sich ihm jetzt durch das Gitter bot, schien ihm vollkommen unwirklich. Warum trug Christine ein Brautkleid? Ihr gegenüber stand das Phantom, kam ihr bedrohlich nahe und erhob seine Stimme gegen sie. "Christine..." Raouls Stimme durch das Gitter war nur ein Flüstern, doch das Phantom fuhr blitzartig herum und auf seinem entstellten Gesicht breitete sich ein teuflisches Lächeln aus, als er Raoul gewahr wurde. "Lass sie! Tu was du willst, aber lass sie!" Raoul musste sich zusammenreißen, dem Blick des Phantoms stand zu halten, die Augen nicht abzuwenden. Und es war nicht dessen unmaskierte Erscheinung, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, sondern der pure, gänzlich unverschleierte Wahnsinn in seinen Augen.



Re: The Phantom's Rose

Eric riss sich von Christines Nähe los und stürmte auf Raoul los. Was bildete sich dieser von Schönheit, Reichtum und Zuneigung verwöhnte Jüngling ein? Er hatte alles auf der Welt, alles wovon Eric jemals geträumt hatte und dennoch wollte er ihm das einzige wegnehmen, auf das er jemals Anspruch erhoben hatte.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Eric Christine zurückverlangte machte ihn rasend.
"Du willst sie also zurück?" Er ließ das Gitter, das Raoul von ihnen trennte hoch fahren und der Junge stolperte auf ihn zu.
Er war nie ein ernstzunehmender gegner für ihn gewesen. Damals beim Fechtkampf war er für einen Moment von irgendetwas abgelenkt worden, bevor Raoul ihn getroffen hatte. "Nicht so...!" Christines Worte, mit denen sie Raoul davon abeghalten hatte, ihn zu töten hallten noch immer in seinem Kopf. Nicht so, anders wollte sie ihn sterben sehen.
Aber warum hatte er selbst damals Raoul nicht töten können? Er hatte die Gelegenheit dazu gehabt, aber er hatte ihn nur verletzt. Er hatte lange darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass es Raouls Schönheit war. Der Schönheit hatte er noch nie widerstehen können. Sie zog ihn an, weil sie ihm so gänzlich abging. Alles Schöne erschien ihm als etwas schützenswertes, verehrungswürdiges. Aber heute würde Raouls Schönheit vergehen...
Der junge Mann war einen winzigen Moment abgelenkt und diesen nutze Eric. Er bückte sich, zog ein Seil aus dem Gewässer von dem er gewusst hatte, dass es da sein musste, stürzte sich auf Raoul und fesselte ihn an das Eisengiter. Raoul war zu erschöpft, um sich ernsthaft zu wehren.
Jetzt war es also so weit. Er war ihm ausgeliefert. Eric fühlte Hass und Wahnsinn in sich auflodern, als er sich zu Raoul vorbeugte. "Sie liebt dich nicht" flüsterte er und trotz seiner heftigen schwarzen Gefühle klang seine Stimme sanft wie schwarzer Samt. "Sonst würde sie nicht immer wieder mit mir kommen. Du weißt es, nicht wahr?"

 




Re: The Phantom's Rose

"Sie liebt dich nicht"...die Worte des Phantoms an seinem Ohr - so leise, so schmeichelnd sanft und doch so unerträglich grausam, so viel schmerzhafter als die Fesseln an seinem Körper - hallten in Raouls Kopf wider wie ein grelles Echo. Raoul hob den Kopf und seine Augen funkelten. Hasserfüllt wollte er seinen Gegenüber ansehen doch in dessen Augen spiegelte sich zu seinem eigenen Erschrecken nur blankes Entsetzen wider. Raoul keuchte und senkte schnell den Blick.
"...immer wieder mit mir kommen...du weißt es..." Oh ja, Raoul wusste es. Immer wieder hatte er sich in langen Nächten die Frage gestellt, warum Christine so besessen war von ihrem "Engel der Musik". Er hatte ihr wieder und wieder versichert, dass dieser Engel nur in ihrem Kopf existiere, ihr Vater ihr keinen unsichtbaren Beschützer geschickt habe - denn das wollte immer nur er, Raoul, für sie sein. Doch immer, wenn er sich am Ziel geglaubt hatte, sicher war, das Gespenst der Dunkelheit für immer aus ihrem Kopf vertrieben zu haben, tauchte er wieder und wieder auf und sie folgte ihm. Besinnungslos, willenlos...überall hin. Wie konnte sie nur so naiv sein? Mit welchem Zauber nahm dieses Monster sie gefangen? Raoul konnte es sich nicht erklären.
Er fühlte den Atem des Phantoms ganz nah an seinem Gesicht, spürte, wie dieser sekundenlang seinen kleinen Triumph genoss und sich an dem bitteren Schmerz weidete, den seine wenigen Worte in Raoul hervorgerufen hatten. Doch Raoul konnte und wollte nicht kampflos aufgeben. Er schlug mit gleichen Waffen zurück. "Und du glaubst, sie liebt dich?" flüsterte er leise "Dann würde sie wohl kaum jedes Mal wieder zu mir zurück kommen..." Er hob den Blick und fixierte die vor Wut lodernden Augen des Phantoms "Auch DAS weißt du, nicht wahr?"



Re: The Phantom's Rose

Im nächsten moment hatte Raoul eine Schlinge über dem Kopf und Eric zog sie  um seinen Hals fest zu. Er hätte ihn töten können. Jetzt, in diesem Augenblick. Und an Raouls Augen sah er, dass dieser damit rechnete. Es wäre das Vernünftigste gewesen. Die einzige Möglichkeit, um Christine endlich wirklich für sich zu haben. Er hatte den Comte de Chagny in seiner Gewalt.
"Töte ihn einfach" flüsterte eine Stimme in seinem Inneren. Aber er tat es nicht, stattdessen drehte er sich zu Christine um, das Seil dessen anderes Ende Raouls Hals zusammendrückte, noch immer in der Hand.
"Das ist die Wahl, die du hast!" keuchte er. "Rette sein Leben und seine Freiheit, indem du dich für mich entscheidest. Bleib bei mir und ich lasse ihn gehen."
Was tat er? Wieso erniedrigte er sich so sehr? Wieso gab er Christine die Möglichkeit sich für Raoul zu entscheiden, indem sie sich für ihn entschied? War es, dass er wirklich keinerlei Hoffnung hatte gegen ihn zu gewinnen? Vielleicht war es so, aber das bewog ihn nicht dazu, Christine vor diese Wahl zu stellen. Wieder einmal konnte er Raoul nicht töten und gab ihr darum die Möglichkeit ihn zu retten. Erschöpft und verzweifelt blickte er zu Christine.

 




Re: The Phantom's Rose

Was zum Teufel tat er? Er tötete doch auch sonst ohne zu zögern. Raoul kämpfte gegen ein Würgen, als sich die Schlinge um seinen Hals enger zog. Warum konnte er es nicht einfach hinter sich bringen, ihn endlich töten, seinem Leiden ein Ende machen. Das würde er doch sowieso am Ende mit ihm tun, egal, wie Christine sich entschied. Raoul war sich fast sicher.
Und doch war er irritiert. Er selbst hatte das Phantom aus ihm unerfindlichen Gründen immer wieder verschont, als es ihm wehrlos ausgeliefert war, und jetzt, da das Blatt sich gewendet hatte, schien sein Gegner ebenfalls unentschlossen und schindete Zeit.
Er fing Christines Blick auf, der das pure Grauen ins Gesicht geschrieben stand. Er fühlte ihre Angst. Immer wieder blickte sie von ihm zum Phantom, zögerte. "Christine, es tut mir so leid" rief er "Rette dich selbst und tu dir dieses grauenvolle Leben hier unten nicht an". Er wusste selbst nicht, warum er das sagte. Vermutlich, weil sie ihm in ihrer kindlichen Unschuld unsagbar leid tat. Obwohl er nicht erst seit den grausamen Worten des Phantoms innerlich an ihrer bedingungslosen Liebe gezweifelt hatte, immer wusste, dass er sie selbst als ihr Ehemann auf ewig mit dem "Engel der Musik" würde teilen müssen, wollte er sie noch immer beschützen und von dem Phantom fernhalten.
"Ihr strapaziert meine Geduld!" rief das Phantom gellend, als Christine ihn mitleidig ansah. "Triff deine Entscheidung!" Er zog die Schlinge um Raouls Hals mit einem Ruck noch enger und Raoul spürte seine schier endlose Verzweiflung. "Was erhoffst du dir?" presste er mit erstickter Stimme hervor "Was hast du davon, wenn sie dich nimmt, nur um mein Leben zu retten?"