Gruppe Enigma - Texthaufen

Grenzgänger

Re: Grenzgänger

ich bin mir nicht sicher, ob ich den Clou verstanden habe.

Das ist also alles nur ein Rollenspiel gewesen. Warum? Wieso? Ist es so ein Fantasyrollenspiel, oder der Rollentausch zwischen den Geschlechtern (alles sowieso nur kulturell konstruiert!)?
Wieso der Einschub mit dem frau-Teil?
Es ist ja kein Schmunzelclou, wie ich sie liebe, sondern eher so ein Ende, das Fragen aufwirft. Auch so etwas würde ich mögen, wenn ich die Chance hätte es zu meiner Zufriedenheit zu beantworten.

Re: Grenzgänger

ooookaaay.....ich mach das nochmal von vorn.

Unausgegorenen Gräfin und Spinnerin, ich.

Re: Grenzgänger

Eigentlich könne er gar nicht schreiben, erzählte er den an seinen Lippen baumelnden Studenten im zwar überdimensionierten, aber dennoch leidlich gefüllten Audimax. So richtig verstehen konnte niemand das Geheimnis seines Erfolges - an seinem Vortragsstil lag es jedenfalls nicht, aber allein das war ja schon ein Anhaltspunkt dafür, dass da etwas sein musste. Etwas, das man nicht in einem Rhetorikkurs lernen und nicht in einem Wie-lerne-ich-schreiben-Buch finden würde. Und nun hatte er sich vorne hingestellt, eine Geste gemacht, wie wenn er seine nicht vorhandene Brille abgesetzt hätte und sprach dabei leise ins Mikrofon:

"Eigentlich kann ich gar nicht schreiben! In dem Sinne, dass ich es nicht gelernt habe, dass ich das Geheimnis meines Erfolges nicht zu Papier bringen kann oder Ihnen in dieser Vorlesung erzählen, so dass Sie morgen genauso erfolgreich werden wie ich. Es fließt aus mir, es ist in mir, es ist eine Berufung, und Berufung kann man nicht lernen"

Claudia klappte lautstark ihren Sitz zurück, nahm ihre rote Ledertasche und ihren Wollpulli unter den Arm und verließ den Vorlesungssaal, ohne den Referenten, Dr. Sánchez-Rockstein eines weiteren Blickes zu würdigen, wenngleich sie seinen Blick brennend in ihrem kahlrasierten Nacken spürte (Mädchen dürfen das). Aus der Perspektive des ohnmächtigen kleinen Studenten ist nichts befriedigender, als dem Machthaber die Aufmerksamkeit zu entziehen, ohne die seine Macht, die aus nichts weiter als einem lächerlichen Mikrofon bestand, einem Kinderspielzeug unter dem Weihnachtsbaum, gepaart mit einem Diplom, das noch lächerlicher war, einem bedruckten Papier, mit dem die Welt überschwemmt wird, und das man ebensowenig essen kann, wenn der Fisch aus ist.

Während Claudia lustlos ihren matschigen Fisch von einer Seite des Tellers auf die andere schob, machte sie sich Gedanken über Rocksteins Erfolg, obwohl sie eigentlich an etwas ganz anderes denken wollte. Sie hatte diesen Jungen kennengelernt, Johannes, ein etwas einfältiger, dabei aber ganz süßer Student aus ihrer Literaturgruppe, der jede Woche eine neue Geschichte dabei hatte, immer mit der gleichen Story, aber in tausend verschiedenen Farben: Junge trifft Mädchen, beide brechen aus dem Alltag aus und erobern die Welt, leben wild, gefährlich und tun nebenbei Gutes, aber nur nebenbei, und dann scheitern sie immer an Kleinigkeiten, Missverständnissen oder daran, dass sie zusammenziehen. Am Ende sitzt entweder der Junge einsam auf einem Stein oder das Mädchen steht an einem Abgrund oder einer von beidem wacht schweißgebadet aus einem Traum auf, in dem er den Partner mit einer Kettensäge zerteilt hat oder etwas in der Art, dann gibt es noch ein paar allgemeine Gedanken über die Welt, und an der Stelle ging sie meist entweder auf's Klo oder einen Kaffee trinken oder nach Hause. Sie wollte über den Jungen nachdenken, dass sie ihm einmal anbieten wollte, seine Geschichten zu Ende zu schreiben, ein paar neue Akteure einflechten, ein wenig mehr Handlung, mehr Witz und weniger, naja, Konfrontation des Restes der Welt mit der eigenen Unzufriedenheit. So wie der Debütroman von Rockstein. Schon wieder Rockstein. "Smalltalk" war wirklich ein Knüller gewesen, es gibt wohl kaum einen zweiten Roman, in dem so viele völlig absturd gestrickte Charaktere aufeinanderprallen, und noch dazu kommt dann der Clou, dass man nach der Hälfte merkt, dass fast alle Handlungsträger Teile der Persönlichkeit des Autoren sind. Ein dermaßen tiefes, komplexes und bizarres Persönlichkeitsbild haben vor ihm noch nicht allzu viele zu Papier gebracht, wenn man bei Rockstein von Papier reden konnte, noch dazu in einer derart brillanten Sprache, aus der man beim wiederholten Lesen immer wieder kleine Erkenntnisse für seinen Alltag ziehen konnte. Claudia zog es vor, "Smalltalk" jede Woche einmal zu lesen, als auch nur einen seiner neueren Romane in die Hand zu nehmen. Rockstein war für sie ein Schwindler. Er könne gar nicht schreiben, pah! Als ob irgendwer das nicht wüsste.

"Sie sind vorhin aus meiner Vorlesung gegangen, Claudia. Ich kann Sie gut verstehen!"
Claudia glotzte dem Starautoren ins Gesicht. Er hatte was. Was entwaffnendes hätte man früher gesagt, als man noch in militärischen Floskeln sprach. Claudia schluckte, wobei ihr ein Stück Fisch irgendwo hingeriet, wo es nicht hingehörte. Sie würgte es wieder hoch und schluckte es erneut hinunter, ohne sich viel anmerken zu lassen.
"Ich wäre auch gegangen. Aber ich musste ja bis zum Ende. Schließlich werde ich auch dafür bezahlt, nicht wahr?"
Claudia guckte ihn entgeistert an. Wie konnte jemand mit so viel Understatement, das schon an Unterwürfigkeit grenzte, in einer nahezu autoaggressiven Größenordnung, wie konnte so jemand so berühmt sein?
"Wenn man nach Eins kommt, ist der Fisch meistens schon matschig, nicht wahr? Ja, besser ist schon, man geht früher, auch wenn es noch so interessant ist." Er schob seinen Fisch auf die Seite und wandte sich den Kartoffeln zu.

Claudia war anders als die anderen. Smalltalk war ihr zuwider. Ebenso jede Art von unehrlichem Geschwätz. Sie redete generell nicht viel (obweil sie gerne schrieb), aber dieser Rockstein ging ihr ja dermaßen auf den Senkel, da vergaß sie ja alle ihre Prinzipien. Zum Beispiel das Prinzip, nicht so prinzipiell zu sein. Also war sie wieder einmal direkt (Was auch sonst):

"Herr Rockstein, warum sind sie so erfolgreich? Ihre Romane sind nichts wert, und reden können sie auch nicht!"
"Haben Sie 'Smalltalk' gelesen?"
"Gelesen, gehört, gesehen. Es passt nicht zu ihren anderen Werken. Es passt nicht zu Ihnen. Es ist nicht von Ihnen!"
"Hören Sie, Claudia. Sie sind ein schlaues Kerlchen." Claudia runzelte die Stirn. "Sie wissen schon, wie ich's meine. Ich bin nicht so ein Rhetoriktalent. Naja, das wissen Sie ja selbst. Hier in dieser Mensaatmosphäre kann ich Ihnen sowieso nichts erklären. Wenn Sie wollen, lade ich Sie heute abend zu mir nach Hause zum Abendeessen ein. Wenn Sie nicht wollen, kann ich Sie verstehen. Aber wenn Sie zusagen, werde ich Ihnen mein Geheimnis erzählen. Ich werde Ihnen erzählen, was niemand außer Ihnen und mir weiß, abgesehen von ... ich meine, Sie wissen schon, es ist ein Geheimnis. Und ich denke, Sie können ein Geheimnis bewahren. Ich bin ein Menschenkenner!" Er grinste nichtssagend.
"So ein Pech aber auch. Heute abend habe ich schon etwas vor!" Claudia stand auf und ging. Das Tablett ließ sie stehen. Im Gehen drehte sie sich noch einmal um: "Sind Sie so nett und bringen mein Tablett zurück, der Kinderladen macht gleich zu."
Irgendwann werde ich sie kriegen dachte er.
Irgendwann wird er mich kriegen dachte sie. Aber jetzt erstmal gucken, dass ich keinen Ärger mit Nurat vom Kinderladen kriege. Scheiß Smalltalk!



Der nächste bitte!

Re: Grenzgänger

@ gräfins spinnengeschichte (ich weiss, ich hinke mit dem lesen böse hinterher )

die idee ist sehr klasse, finde ich. man spürt das unbehagen beim lesen. es kriecht die beine hoch, wie diese kleinen silberspinnchen beim protagonisten. ich mag die süffisanz, die ab und zu durchschimmert... nur.. *räusper*.. den schluss verstehe ich nicht. von mir aus könnte es beim vorletzten absatz enden. :)



Re: Grenzgänger

@Johannes: Eine seltsame Geschichte. Erinnert mich an den Prof, von dem ich dir neulich erzählt habe. Das Johannes-Intermezzo ist sehr charmant, hat aber mit der Geschichte in dieser Ausführlichkeit nichts zu tun. Wie immer, liebe ich deinen Erzählstil, lakonisch und offen, dabei auch wortabwitzig. Doch irgendwie fehlt dem ganzen das Herz. Es sind zuviele Geschichten, die du in einer erzählst. Das Kinderladenende hat mich natürlich angesprochen:-)

Re: Grenzgänger

Herzlicher kann ich nicht. Aber ich habe noch eine Fortsetzung im Kopf, damit wird's dann runder. Zumindest klärt sich, was bei dem Professor-Doktor so abgeht, und vielleicht spielt ja auch der Junge aus dem Lyrikkurs eine Rolle.



Der nächste bitte!

Re: Grenzgänger

Vielleich hatte ich gestern auch einfach kein Herz. Ich lese es nochmal.

Re: Grenzgänger

"Papa, ich will mehr Taschengeld!"
Doktor Rockstein schaute nicht von seiner Literaturzeitschrift auf. Der Artikel war einfach zu fesselnd. In letzter Zeit bekam er öfter Verrisse, und es machte ihm ein klein wenig Sorgen. Als er den Schmähtext zu zwei Dritteln durch hatte, legte er die Zeitschrift beiseite, mit der Rückseite (auf der ein Frankfurter Verlag gegen Geld Autoren suchte) nach oben, und schaute seinem Sohn in die Augen.
"Du willst mehr Geld? Dann will ich bessere Geschichten!"
"Das Programm ist ausgereift, Papa. Es fehlt an Input. Du musst dich mehr mit ihm beschäftigen, es trainieren. Wann hast du dich das letzte Mal mit ihm unterhalten?"
Rockstein regte keine Miene. Schließlich zuckte er die Schultern.
"Und es geht eben nicht ohne Nachbearbeitung. Der letzte Roman war ... er enthielt ein paar Passagen, die ... schon in 'Trotzdem danke' standen, fast Wort für Wort. Und der Protagonist ..."
"Dieser 'Johannes', der kleine, smarte, Möchtegernliterat, bei dem man sich fragt, ob er weniger Erfolg im Schreiben oder bei den Mädchen hat? Ich dachte, sowas kommt an?"
"Er hieß 'Joachim'! Du solltest deine eigenen Romane lesen, Papa. Ich will mehr Taschengeld!"
"Und wofür, wenn ich fragen darf, willst Du mehr Geld? hast du eine Freundin? Oder sparst du auf ein Haus. Du bekommst, wenn ich mich nicht irre, 300 Euro in der Woche, davon gehen andere Jungs in deinem Alter jeden Abend essen, trinken, tanzen und vielleicht sogar ficken." Er hob wieder seine Zeitschrift auf, blätterte ein wenig darin herum und legte sie dann wieder auf die Seite.
"Investitionen, Papa. Vergiss nicht, ohne mich wärst du immer noch der ... Schlüsselausgeber an deinem Institut!"
"Werd nicht frech! Wir haben eine Abmachung. Ich bezahle dich und du machst deine ... kleine Dienstleistung. Nur will ich bessere Ergebnisse. Die Leute reden schon. Heute mittag, die kleine Schlanke aus meiner Vorlesung, hat die mich glatt ihr Tablett ... man nimmt mich nicht mehr ernst!"
Er nahm einen Schluck Wein und anschließend wieder das Magazin, das er zu einer Rolle zusammenballte. Dann fügte er hinzu, etwas weniger hitzig: "Ich geb dir 50 Euro mehr die Woche, aber ich will was Neues, OK? Spätestens in vier Wochen! Capito?"
"Capito. Danke, Papa."
Für einige Zeit saßen sie wortlos auf der Ledercouch. Dann legte Rockstein die Zeitschrift wieder aus der Hand, griff in sein Portemonnaie und nahm 50 Euro heraus, die er seinem siebzehnjährigen Jungen in die Hand drückte: "Als Anzahlung, Junge! Aus dir wird noch was Großes werden! Aber warte gefälligst, bis ich in Rente bin."
"Danke, Papa!" Der Junge nahm das Geld, steckte es in seine Hemdtasche und stand auf: "Ich geh dann noch mal los, was besorgen!"
"Jaja! Bis nachher" Dr. Sánchez-Rockstein war in seinen Gedanken schon ganz woanders. Das Mädchen aus der Mensa, sie war gefährlich. Und heiß! Er würde sie gerne nehmen und dann wegwerfen. Aber dafür war sie nicht der Typ, sie ließ sich ja noch nicht einmal zum Essen einladen, geschweige denn ...

Wie ein Keimling, der aus seinem Samenkorn bricht, stand plötzlich eine Idee in seinem Kopf, die ihn sich wundern ließ, warum er nicht schon längst ...

Er setzte sich an das Programm und fütterte es eine Stunde lang mit allen Einzelheiten ihres Charakters, ihres Aussehens, ihrer Vorlieben, ihrer Freunde und Bekannten und allem, was er wusste. Eine gewisse Rolle spielte ihre Literaturgruppe, sein Sohn Diego hatte ihm davon berichtet, vor allen Dingen ein gewisser Johannes, ein ungewaschener Langweiler. Er tippte alles ein, alles, und ganz am Ende gab er den Titel vor: "Das perfekte Verbrechen"

Das Programm brauchte etwas länger als sonst, aber nach einer guten Stunde war der Roman fertig. 654 Seiten, nicht schlecht, dachte sich Rockstein, über 100 Seiten mehr als "Hotel Tod" und fast doppelt so viel wie "Liebeshölle". Er las den ersten Absatz und den zweiten und wunderte sich, dass er nicht schon längst damit begonnen hatte, diagonal zu lesen und sich zum Ende durchzumogeln. Fast hatte er den Eindruck, sein Roman sei gelungen. Besser als der letzte war er sicher, aber eigentlich hatte er ihn nicht dazu gedacht, ...

Das Telefon klingelte. Rockstein las den Absatz zu Ende und ging dann ran. Es war Claudia, die Stundentin, die ihn in der Mensa abserviert hatte. Sie behauptete, seine Nummer von ihm zu haben, aber er konnte sich gar nicht daran erinnern, woran allerdings auch wieder nichts Ungewöhnliches war. Sie lud ihn ein, wenn er einmal Zeit hätte, in Ihrer Literaturgruppe vorbeizukommen und etwas über seine Werke zu erzählen. Er hätte einige Fans in ihrer Gruppe, naja, sie würde das ja nicht überbewerten ...

Er sagte für die kommende Woche zu. Dann legte er auf, genehmigte sich einen Schluck Wein und las den Roman in einer Nacht bis zum Ende durch. Anschließend legte er ihn auf die Seite, nahm das Telefon und legte sich das eine Ende des geringelten Kabels um den Hals und das andere um das Treppengeländer. Danach wählte er ganz langsam Claudias Nummer. Wie ging sie noch gleich?

Da Telefon klingelte, und Rockstein entschloss sich nach einiger Zeit, das Kabel von seinem Hals zu entfernen, und den Anruf entgegenzunehmen. Es war der Typ namens Johannes, aus dieser Literaturgruppe. Umständlich bat er ihn darum, nächstes Mal zur ihrer Gruppe zu kommen. Rockstein seufzte und sagte ein zweites Mal zu. Johannes bedankte sich weitschweifig und Rockstein legte auf. Das Tuten tat gut. Vielleicht sollte er mal an die frische Luft gehen und ein wenig Inspiration sammeln.



¡Nos veremos en infierno, cabrones!

Re: Grenzgänger

Diege, das war wunderbar! Spätestens beim Telefonkabel schlug ich mir auf meine verschlafenen Schenkel.
Ein Hauch von Fragen geistern noch in meinem Kopf herum, aber mich dünkt, die Spannungskurve beginnt erst und klärende Fortsetzungen werden das Geflecht entwirren.

Re: Grenzgänger

Guten Morgen!
Saugeil!
Johannes, super Programm, läuft gut!