Re: Inspirationshilfe
"Endlich", dachte sie, als sie den Job bekam.
"Sie sind genau die Richtige für uns. Das haben alle Tests ergeben."
Beworben hatte sie sich eigentlich nur, weil sie es so gewohnt war: jede Chance nutzen! Und als Frohnatur, die sie nun einmal war, konnten ihr selbst die jahrelangen vergeblichen Versuche, endlich mal irgendwo gefragt zu sein gefragt im Sinne von durch Bezahlung anerkannter Arbeit nichts anhaben. Trotz aller Absagen Sie sind zu jung, zu alt, unter- oder überqualifiziert merkte man ihr nicht den Hauch von Frustration an.
Und nun dies: Man sagte ihr, dass man sie für den Job als Kummulator ausgewählt hätte.
Zuerst wusste sie gar nicht, was sie da überhaupt zu tun hatte, aber es wurde ihr sehr schnell klar. Die Firma hatte festgestellt, dass die Effizienz ihrer Mitarbeiter durch den Kummer, den sie während und außerhalb der Arbeitszeiten erlitten, wesentlich geschwächt wurde. Nun hieß es zu entscheiden: Arbeitszeiten kürzen? Die Bezahlung auf ein Niveau heben, dass den Mitarbeitern ermöglichen würde, von ihrem Job zu leben?
Nachdem in der Chefetage durchgerechnet wurde, dass dies den Aktionären gegenüber nicht vertretbar sei, entschied man sich für die preisgünstigste Möglichkeit: einen Kummulator einzustellen.
Ihre Aufgabe bestand nun lediglich daraus, sich der Sorgen der Mitarbeiter anzunehmen. Tagtäglich hörte sie sich also an, dass es mit dem Ehepartner nicht mehr so gut läuft, seit die Anwesenheitspflicht auf 12 Stunden erhöht wurde. Dass die Miete für die firmeneigene Wohnung zwei Drittel des Gehalts frisst. Oder dass ihnen immer weniger der Sinn einleuchtete, durch das Hin- und Herschieben von Aktienpaketen das Bruttosozialprodukt zu stützen.
Immerhin. Jedes Mal wusste sie eine Lösung, die meist daraus bestand, einfach nur freundlich zu lächeln und ein wenig positive Stimmung zu verbreiten. Sie war eben eine Frohnatur und nun wurde sie dafür auch noch bezahlt.
Die Aktien der Firma steigerten sich auf das Dreifache. Die Mitarbeiter funktionierten wieder perfekt und die Firmenleitung freute sich.
Nach gut drei Jahren hatte sie so gut wie jedes persönliche Problem erfahren und weggewischt. Irgendwo unter den Teppich. Und dieser Teppich lag auf ihrer Seele. Alle Sorgen waren dort versammelt.
An einem Dienstag machte sie Frühjahrsputz. Der Übermut ihrer Frohnatur wollte einmal sehen, was sich unter dem Teppich so angesammelt hat, und sie ging zu einem "Clearing", einer Routine-Therapie, die von der Firmenleitung für durch ihre Tätigkeit psychisch belastete Mitarbeiter sogar bezahlt wurde.
Der Therapeut war wirklich sein Geld wert. Und alles kam unter dem Teppich hervor.
Sie sah die Welt. Die Welt der Firma. Ihre Welt.
Ihre Kündigung bestand für sie aus einem einzigen Schritt. Dem Schritt über die Kante des Daches vom Bürogebäude. An fünfundzwanzig Stockwerken voller sorgenfreier Mitarbeiter vorbei.
Die Firma stiftete einen Kranz.
Epilog: Drei Monate später sagte ein TV-Moderator zur Hauptsendezeit, dass er den Namen der Firma nicht wirklich sexy fände. Daraufhin sackte deren Aktie in den Keller, das Haupthaus wurde von einem Konkurrenten geschluckt und alle Filialen sofort geschlossen. Achtzig Prozent der ehemaligen Mitarbeiter wurden zu Alkoholikern und besserten ihre Sozialhilfe damit auf, in den Talkshows des TV-Moderatoren ihre persönlichen Schwierigkeiten für etwas Taschengeld preiszugeben.
In einem unbeobachteten Moment stand der Moderator an ihrem Grab und bedankte sich.
Frauen neigen zum Gegenteil.
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Hier stand früher: "Frauen neigen zum Gegenteil." Aber jetzt nicht mehr.